Ausgabe 10 - 2016
Ein Teil der Arbeitswelt sein

Die Zahlen sprechen für sich. Noch immer steht blinden und sehbehinderten Menschen der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt nicht uneingeschränkt offen. Hier setzt das Projekt „focus arbeit“ an, das HR bei der Integration blinder Azubis ins Unternehmen unterstützt.
Inklusion ist in den vergangenen Jahren zu einem „Mega-Thema der Bildungspolitik“ (Konrad-Adenauer-Stiftung) avanciert. Das Interesse der beteiligten Akteure und Verantwortlichen gilt jedoch bislang vor allem dem schulischen Bereich. Im Verhältnis zu den überaus reichhaltigen Überlegungen, wie Unterricht gestaltet und Schule organisiert werden sollten, um Inklusion zu ermöglichen, wird dem Übergang in den Arbeitsmarkt eher wenig Beachtung geschenkt. Hier setzt das Projekt „focus arbeit“ an, das die Integration von blinden und sehbehinderten Auszubildenden in den ersten Arbeitsmarkt zum Ziel hat und dabei unter anderem mit zahlreichen Firmen aus dem Rhein-Main-Gebiet kooperiert.
Die UN-Behindertenrechtskonvention (formal: „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“), die im März 2009 in Deutschland in Kraft trat, hält in Artikel 27 fest: „Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit. Dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.“ Somit besteht die staatliche Pflicht, mit geeigneten Schritten die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit für Menschen mit Behinderung zu sichern und zu fördern. Die offiziellen Statistiken sprechen jedoch eine andere Sprache.
Diversity: Strategie oder Alibi?
So weist die aktuelle Arbeitsmarktberichterstattung der Agentur für Arbeit (Mai 2016) darauf hin, dass schwerbehinderte Menschen von der aktuell guten Arbeitsmarktlage nicht im gleichen Umfang profitieren wie nicht schwerbehinderte, obwohl Arbeitslose mit Schwerbehinderung gut qualifiziert sind und sich in der Gruppe der schwerbehinderten Arbeitslosen mehr Fachkräfte finden als bei nicht schwerbehinderten Arbeitslosen. Offizielle Zahlen für die Gruppe der Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung werden nicht veröffentlicht. Claus Duncker, Direktor der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista), dem Mutterunternehmen der focus arbeit gGmbH, unterstreicht: „Nach unserem Eindruck geht der aktuelle Boom am Arbeitsmarkt an den Blinden und Sehbehinderten vorbei. Das Ziel einer gelungenen Inklusion muss der erste Arbeitsmarkt sein.“ Die geringe Quote überrascht, steht doch das Thema Diversity auf der Agenda der Personalabteilungen weit oben. 25 der 30 DAX-Konzerne haben eigene Stellen für Diversity Management geschaffen und die „Charta der Vielfalt“ unterschrieben, die das Ziel ausruft, „ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist. Alle Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität“. Allerdings fragt die regelmäßige Benchmarkstudie von Synergy Consult zu diesem Thema auch, ob Diversity Management „Strategie“ oder lediglich ein „Alibi für Nachhaltigkeitsberichte“ sei.
Doppelt benachteiligt
Was sind typische Hindernisse, denen Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung bei der Suche nach einer Stelle im ersten Arbeitsmarkt oder einem Ausbildungsplatz begegnen? Eine erste große Hürde offenbart sich gleich zu Beginn des Prozesses: Bewerbungsportale und Assessment-Tools im Internet sind oft nicht barrierefrei zugänglich. Susanne Patze, Projektleiterin bei focus arbeit, erläutert mit Blick auf die Gruppe der Auszubildenden: „Wenn Auszubildende in dieser Phase der Bewerbung keine adäquate Unterstützung erfahren, ist eine chancengleiche Teilhabe gar nicht möglich und sie sind gegenüber den Bewerbern ohne Behinderung doppelt benachteiligt.“ Gemeinsam mit den potenziellen Azubis sucht focus arbeit in Absprache mit den Unternehmen nach einer passenden Lösung. Diese kann zum Beispiel so aussehen, dass Bewerber den Test elektronisch statt in Papierform absolvieren, eine Assistenz den Test begleitet oder das Verfahren telefonisch statt elektronisch durchgeführt wird.
Ist diese Hürde genommen und haben die Interessenten das Unternehmen im Bewerbungsgespräch davon überzeugt, dass sie ihr Handicap in der täglichen Arbeit bestens kompensieren und ihre Leistungsfähigkeit nicht geschmälert ist, so wartet die nächste Herausforderung: die Gestaltung des Arbeitsplatzes. Die Hilfsmittel-Technologie kann hier mittlerweile mit zahlreichen Tools für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung aufwarten. Zu den „Klassikern“ zählen Screenreader und Braille-Zeile. Während der Screenreader die Inhalte und Bedienfelder auf dem Bildschirm mittels einer synthetischen Stimme vorliest, stellt die Braille-Zeile die Texte auf einer Braillezeile in Punktschrift dar. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten, die unter anderem das Sozialgesetzbuch (SGB IX) vorsieht. Hier sind zum Beispiel zu nennen:
Geldleistungen an Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung ausbilden und beschäftigen, die neue Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen oder die Schwerbehinderte auf Probe einstellen, Zuschüsse für die behindertengerechte Einrichtung des Arbeitsplatzes, Kostenübernahme für technische Arbeitshilfen, Arbeitsplatzassistenzen, Vorlesekräfte und Gebärdensprachdolmetscher.
Orientierung im Dschungel
Die Vielfalt der technologischen und rechtlichen Werkzeuge und Möglichkeiten ist zwar erfreulich, wirkt jedoch auf die Unternehmen häufig wie ein Dschungel. Patze berichtet von ihren Erfahrungen: „Die Komplexität der erforderlichen Hilfsmittel und deren Anpassung an den Ausbildungsplatz werden oft unterschätzt. Eine notwendige professionelle Unterstützung des Ausbildungsbetriebes fehlt oft gänzlich. Gerade in diesem Bereich zeigt sich Entwicklungsbedarf, um eine nachhaltige und für alle Seiten zufriedenstellende Ausbildungszeit und spätere Beschäftigung im Unternehmen sicherzustellen.“ Die Fragen der Unternehmen sind vielfältig, wie Patze beispielhaft erläutert: „Wie richten wir den Arbeitsplatz ein? Welche Hilfsmittel werden gebraucht? Wie werden sie finanziert? Wo kann der Azubi eingesetzt werden?“
Ein drittes Handlungsfeld stellt die Gestaltung der Bedingungen in der Berufsschule dar. Analog zur Situation in den Betrieben geht es auch hier um die technologische Ausstattung des Arbeitsplatzes, aber auch um die Anpassung von Lehr- und Lernmaterialien und didaktisch-methodischen Settings: Welche Texte liegen gegebenenfalls in alternativen Fassungen in Punktschrift oder als Hördatei vor? Wo sind ergänzende Materialien notwendig? Welche Lernformen sind adäquat? Berufsschullehrer sind erfahrungsgemäß dankbar für eine Unterstützung in diesem Bereich.
Sparringspartner bei der ING-Diba
In diesem Dreieck aus Auszubildenden, Unternehmen und Berufsschule agiert focus arbeit als Sparringspartner der Personalabteilung und unterstützt die Beteiligten bei allen Fragestellungen, die sich zwischen Stellensuche und Ausbildungsabschluss oder innerhalb der Arbeitsverhältnisse ergeben. Patze fasst ihre bisherigen Eindrücke nach zwei Jahren Projektlaufzeit wie folgt zusammen: „Erfahrungsgemäß sind viele Arbeitgeber nicht abweisend, sondern nur unerfahren im Umgang mit behinderten Azubis. Die Lösungen fallen jedes Mal individuell aus.“ So auch bei der ING-Diba. Dort absolvieren momentan drei junge Menschen mit Sehbehinderung ihre Ausbildung zum Bankkaufmann. „Wir hatten wenig Erfahrung im Umgang mit dieser Zielgruppe“, erläutert Dieter Doetsch, Leiter des Nachwuchsprogramms bei der ING-Diba in Frankfurt, den Ursprung der Zusammenarbeit. Diese fügt sich gut in das Entwicklungsprogramm „Chancen durch Ausbildung“ ein, das neben Menschen mit Behinderung auch Mütter in Teilzeit, Jugendliche mit sozialer Benachteiligung und ältere Menschen als Zielgruppen im Blick hat, um Diversity bei der Direktbank zu fördern. Focus arbeit unterstützte das Unternehmen bei der Beantragung behinderungsbedingter Ausstattung bei den jeweiligen Kostenträgern, half bei der Akquise von Fördermitteln und stand für Beratungsgespräche mit den Ausbildungsleitenden über Inhalte, Lernformen und geeignete Materialien zur Verfügung. Doetsch resümiert: „Die Unterstützung durch die focus arbeit gGmbH bei der Vermittlung von sehbehinderten Auszubildenden würde ich als Lotsentätigkeit durch den Dschungel der Verwaltung bezeichnen. Für die ING-Diba war es eine sehr große und vor allem erfolgreiche Hilfe.“ Der Erste aus der Azubi-Riege wird in Kürze seine Zwischenprüfung vor der IHK ablegen.
Selbstverständlichkeit als Ziel
Die Begleitung der Auszubildenden mithilfe eines anlassbezogenen Prozess-Coachings bildet einen Kern des Angebots. Die jungen Erwachsenen weisen zwar gute Schulnoten auf, die Anforderungen des betrieblichen Alltags liegen jedoch oft auf anderen Ebenen. Da geht es um die Orientierung im Büro genauso wie um die Frage, wie man mit den Kollegen kommuniziert, wenn man Unterstützungsbedarf hat. Patzes Fazit: „Die Beratungsarbeit orientiert sich immer an den jeweiligen Fragestellungen der Beteiligten, damit gelingende inklusive Arbeitsverhältnisse jedes Mal ein Stück mehr Selbstverständlichkeit gewinnen.“
Die bisherigen Projektergebnisse zeigen, dass die Strukturen in größeren Unternehmen und Konzernen eher dazu geeignet sind, einen blinden oder sehbehinderten Auszubildenden einzustellen, als dies in einem kleinen mittelständischen Betrieb der Fall ist, wo Auszubildende oft ad hoc wechselnde Aufgaben übernehmen müssen. So wird in diesem Herbst eine weitere durch focus arbeit begleitete blinde Auszubildende bei der DB Netz AG in Frankfurt eine Lehre zur Industriekauffrau beginnen. Dazu sagt die Auszubildende: „Da sich die Welt nach sehenden Menschen richtet, möchte ich auch ein Teil der Welt sein. Ich möchte nicht in einer geschützten Lebenswelt leben, möchte nicht unselbstständig sein.“
Über die blista und focus arbeit gGmbH
Die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (kurz: blista) ist ein bundesweites Kompetenz zentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung. 1916 gegründet, beschäftigt die blista heute rund 400 Mitarbeiter. Mit dem einzigen grundständigen Gymnasium im deutschsprachigen Raum, über ganz Marburg verteilten Wohngruppen, der Hörbücherei, der Deutschen Blindenbibliothek, dem Zentrum für taktile Medien und der Rehabilitationseinrichtung (RES) mit vielfältigen Angeboten rund um Arbeitsmarkt, Frühförderung und Seniorenberatung ist die blista auf vielfältige Bedürfnisse ausgerichtet. Die RES betreibt beispielsweise die aus Mitteln des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration und aus Mitteln der Europäischen Union (Europäischer Sozialfonds) geförderte Projektlinie „Inklusion & Innovation“, die blinde und sehbehinderte Menschen beim (Wieder-)Einstieg in Ausbildung und Beruf unterstützt, und fördert so die Integration von Blinden und Sehbehinderten in den ersten Arbeitsmarkt.
Die Focus arbeit gGmbH wurde im Jahr 2014 als Tochterunternehmen der blista in Frankfurt/Main gegründet, um den Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt für sehbehinderte und blinde Schulabsolventen zu gestalten und bietet Beratungsleistung rund um das Thema Sehbehinderung im Job im Raum Frankfurt an.
Autoren
Dr. Imke Troltenier, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista),
Marburg,troltenier@blista.de
Jürgen Mai, Redakteur Öffentlichkeitsarbeit (bis 31.8.2016),
Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista), Marburg
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