Steine statt Brot für Personaler

Im Juli hat das Bundesverfassungsgericht das Tarifeinheitsgesetz größtenteils für verfassungskonform erklärt. Auf den ersten Blick ist das ein Sieg für Bundesarbeitsministerin Nahles und die großen Gewerkschaften. Ein Trugschluss: Vor allem die kleinen Gewerkschaften wurden durch das Urteil gestärkt.
Bis zum Jahr 2010 galt aufgrund ständiger Rechtsprechung der Grundsatz „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“. Dabei verdrängte der jeweils speziellere Tarifvertrag alle anderen Tarifverträge (das sogenannte Spezialitätsprinzip). Spezieller war der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich, betrieblich und persönlich am nächsten stand. Begründet wurde dies damit, dass so die Eigenarten und Erfordernisse des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmern am besten Rechnung getragen wird. Dies führte letztlich auch dazu, dass Arbeitskampfmaßnahmen die Legitimität entzogen wurden, selbst wenn die Unwirksamkeit der abgeschlossenen Tarifverträge erst durch eine spätere Verdrängung erfolgte.
Das Urteil hat zwar einige Fragen beantwortet, jedoch gleichzeitig neue aufgeworfen.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) änderte jedoch im Jahr 2010 seine Rechtsprechung. Seitdem galt das Prinzip der Tarifpluralität: War ein Arbeitgeber an mehrere Tarifverträge zum selben Gegenstand normativ gebunden, so musste er diese parallel für die verschiedenen Mitarbeitergruppen anwenden. Das vom BAG angeführte Argument, der Tarifvertrag finde keine Anwendung und der Streik von kleinen Gewerkschaften sei rechtswidrig, passte somit nicht mehr. Das von der Bundesregierung vor zwei Jahren entworfene Tarifeinheitsgesetz sollte die Gültigkeit von Tarifverträgen und insbesondere Konflikte im Zusammenhang mit der Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb regeln. Indem das Gesetz für den Kollisionsfall (in einem Unternehmen sind mehrere Tarifverträge vorhanden und beinhalten unterschiedliche Regelungen) anordnet, dass nur der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gelte. Die Minderheitengewerkschaft kann dabei den geltenden Vertrag lediglich übernehmen. Dadurch sollte der Grundsatz „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ wieder Geltung erlangen.
Gegen diese Regelungen wurden elf Verfassungsbeschwerden erhoben. Die Beschwerdeführer rügten insbesondere einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit durch das beschlossene Gesetz. Kleinere Gewerkschaften wie beispielsweise die Ärztevereinigung Marburger Bund und die Pilotengewerkschaft Cockpit führten an, dass sie faktisch von Tarifverhandlungen und dem Streikrecht ausgeschlossen würden. Kleinere Gewerkschaften könnten erst gar nicht in Tarifverhandlungen eintreten und für die Forderungen streiken, wenn der abgeschlossene Vertrag ohnehin von dem Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft verdrängt werden würde.
Wirksamkeit des Gesetzes grundsätzlich bejaht
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil die Wirksamkeit des Gesetzes dem Grundsatz nach bejaht. Die von den Richtern gefundenen verfassungswidrigen Regelungen betreffen nicht den Kern der Regelung, sodass der § 4a TVG lediglich als unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Für kleinere Gewerkschaften reiche es dabei in der Regel aus, dass diese den verdrängenden Tarifvertrag nachzeichnen können und somit die Geltung eines ausgehandelten Tarifvertrages für ihre Mitglieder erwirken können. Die Koalitionsfreiheit ist dabei gewahrt. Die Nachzeichnung kann dabei unabhängig davon erfolgen, ob der Tarifvertrag tatsächlich verdrängt wird, oder nicht. Es genügt dabei, dass eine Gewerkschaft potentiell einen Nachteil erleiden könnte, ohne dass im Zeitpunkt der Nachzeichnung die Mehrheitsverhältnisse bereits abschließend geklärt sein müssen. Die Entscheidung des Ersten Senats fiel dabei jedoch nicht einstimmig. Vielmehr gaben zwei Mitglieder ein Sondervotum ab.
Beim Schutz von Berufsgewerkschaften fordert der Senat deshalb vom Gesetzgeber bis Ende 2018 Nachbesserungen ein. Hauptgrund ist dabei, dass der Gesetzgeber normative Lösungen finden muss, um sicherzustellen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen (z.B. bei Piloten, Flugbegleitern, Lokführer oder Ärzten) bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge nicht einseitig vernachlässigt werden. Entsprechende Schutzvorkehrungen fehlten bislang, so dass nicht gewährleistet sei, dass die Interessen der Minderheiten nicht von den Mehrheitsgewerkschaften vernachlässigt werden. Dabei sei nicht auszuschließen, dass auch im Fall einer möglichen Nachzeichnung die Arbeitsbedingungen und Interessen der Berufsgruppen mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft unzumutbar übergangen werden. Bis zu einer Neuregelung darf ein Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft nur dann verdrängt werden, wenn die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Angehörigen der kleineren Gewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Diese Berücksichtigung ist dabei plausibel darzulegen.
Handlungsempfehlungen für Personaler

Von der Verdrängung nur eingeschränkt umfasst sind bestimmte tarifvertraglich vereinbarte Leistungen, auf die sich die Beschäftigten in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen dürfen. Darunter sind die in Tarifverträgen festgeschriebene längerfristige bedeutsame Leistungen wie beispielswiese eine Arbeitsplatzgarantie, Leistungen zur Altersversorgung und Lebensarbeitszeitkonten zu verstehen. Dasselbe gilt dabei, wenn ein Beschäftigter nach Kollision dazu gezwungen wäre, eine unmittelbar bevorstehende oder bereits begonnene berufliche Bildungsmaßnahme nicht wahrnehmen zu können oder abbrechen zu müssen. Der Gesetzgeber hat für diese Besonderheiten keinerlei Schutzmechanismen vorgesehen. Die Gerichte seien deshalb gehalten, entsprechende Zumutbarkeitsprüfungen vorzunehmen. Unklar bleibt dabei jedoch, ob dies nur für die in der Vergangenheit gewährten Zusagen gilt, oder eine Bereichsausnahme der Verdrängungswirkung auch für zukünftige Tarifverträge etwa auf dem Gebiet der Altersvorsorge gemeint war. Gegen eine Bereichsausnahme spricht die Begründung des Bundesverfassungsgerichts, in der auf die Vermeidung von Härtefällen und die Einhaltung der Zumutbarkeitsgrenze abgestellt wird.
Wichtige Aussagen beinhaltet das Urteil auch in Sachen Streikrecht. Befürchtet wurde, dass Minderheitengewerkschaften in ihrem Streikrecht eingeschränkt sind, da der durch Arbeitskampf erwirkte Tarifabschluss ohnehin verdrängt werden würde. Ein Streik wäre unverhältnismäßig und könnte somit rechtswidrig sein. Das Bundesverfassungsgericht urteilte jedoch, dass das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG unangetastet bleibt. Zwar bestünden für die Gewerkschaften Unsicherheiten über die eigenen Möglichkeiten eines Tarifabschlusses. Solche Unsicherheiten begründen aber keine Haftung der Gewerkschaften für unternehmerische Einbußen im Falle eines Streiks. Dies gilt sowohl bei klaren als auch unsicheren Mehrheitsverhältnissen.
Änderungen für Arbeitgeber
Auch für Arbeitgeber hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Konsequenzen. Die Richter aus Karlsruhe stellten klar, dass für eine wirksame Verdrängung von Minderheitstarifverträgen bestimmte Voraussetzungen zu beachten sind. Dabei muss der Arbeitgeber die Aufnahme von Tarifverhandlungen rechtzeitig im Betrieb bekannt geben. Gewerkschaften, die nicht selbst verhandeln, aber tarifzuständig sind, haben sogar einen selbstständig einklagbaren Anspruch darauf, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen vorzutragen. Verstößt der Arbeitgeber gegen die Verpflichtung, bleibt es bei der Anwendung mehrerer Tarifverträge innerhalb eines Betriebes.
Daneben hat sich für Arbeitgeber die Rechtsunsicherheit beachtlich erhöht. Arbeitgeber stehen weiter vor der Schwierigkeit den jeweils anwendbaren Tarifvertrag der Arbeitnehmer zu ermitteln. Die hohen Anforderungen bieten zahlreiche Einfallstore für kleinere Gewerkschaften, die Verdrängung ihres Tarifvertrages anzugreifen. Da eine Prüfung, ob ein Tarifvertrag die Belange der Angehörigen der betroffenen Berufsgewerkschaft ernsthaft und wirksam berücksichtigt hat erst nach dem Abschluss desselben erfolgen kann, ist es zum Zeitpunkt der Tarifverhandlungen noch nicht klar, ob der Tarifvertrag einer Berufsgewerkschaft verdrängt wird. Ganz abgesehen davon, ist unklar wann die Schwelle einer solchen plausiblen Darlegung erreicht ist. Verschärft wird diese Unsicherheit zusätzlich durch die Tatsache, dass die Verdrängungswirkung ipso iure (also kraft Gesetz) erfolgt. Soll bedeuten, dass sobald es zu einer Tarifkollision kommt, der Tarifvertrag der Minderheitengewerkschaft verdrängt wird. Eine gerichtliche Entscheidung oder ein Zutun der Tarifvertragsparteien ist gerade nicht erforderlich.
Gesetz greift in die Koalitionsfreiheit ein
Die Richter aus Karlsruhe haben deutlich festgestellt, dass das Tarifeinheitsgesetz in die Koalitionsfreiheit eingreift. Bereits die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrages, als auch eine gerichtliche Festlegung, in einem Betrieb in der Minderheit zu sein, kann eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung und Mobilisierung für den Arbeitskampf schwächen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht das Tarifeinheitsgesetz nicht für nichtig erklärt, jedoch in der ausführlichen Begründung des Urteils den Schutz von kleineren Gewerkschaften bestimmter Sparten herausgearbeitet und verdeutlicht. Eine vom Gesetzgeber und den großen Gewerkschaften beabsichtigte Verschiebung der Machtverhältnisse dürfte nicht erreicht worden sein. Das Umschiffen der Nichtigerklärung des § 4a TVG ist dem Senat dabei nur mit größten Anstrengungen gelungen. Zwei der acht Richter haben ihre abweichende Meinung im Urteil kundgetan. Dabei sei Tarifpluralität Ausfluss grundrechtlicher Freiheit und insbesondere von Arbeitgebern oft gewollt. Kollisionen seien selten und Konflikte Teil spezifischer Entwicklungen, so Richterin Baer und Richter Paulus.
Ausfluss der Tarifpluralität ist gerade, dass nicht zwangsläufig die mitgliederstärkste Gewerkschaft die besten Bedingungen aushandeln kann. Ebenso wenig kommt es bei einem Streik darauf an, welche Gewerkschaft die meisten streikwilligen Mitglieder vorzuweisen hat. Vielmehr beachten Arbeitgeber welche Gewerkschaft diejenigen Mitarbeiter als Mitglieder hat, die mit geringstem Aufwand den größten Streikschaden erzielen können. Dieser wird nämlich in der Regel den Arbeitgeber dazu bringen gegenüber den Forderungen der Gewerkschaft und zugunsten der Mitglieder nachzugeben. Insofern überrascht es nicht, dass die kleinen Gewerkschaften die weiterhin mögliche Bestreikung des Unternehmens als Sieg feiern und mit einer Abnahme der Streiktätigkeiten nicht zu rechnen ist. Die vom Gesetzgeber angestrebte Befriedungsfunktion der Tarifverträge ist fraglich.
Das Urteil hat zwar einige Fragen beantwortet, jedoch gleichermaßen eine Reihe von weiteren noch nicht geklärten Fragen aufgeworfen. Die Hauptlast wird bei den Gerichten für Arbeitssachen liegen, obgleich das Bundesverfassungsgericht selbst urteilt, die eigene Auslegung des § 4a TVG sei nicht zwingend. Das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeit verstreichen lassen, das Gesetz für nichtig zu erklären und dem Gesetzgeber einen Anlauf zu gewähren, dass Gesetz nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgericht vollends im Einklang mit dem Grundgesetz (erneut) zu verabschieden.
Autor
Marc Andre Gimmy, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Head of Employment, Pension & Mobility Taylor Wessing, Düsseldorf,
m.gimmy@taylorwessing.com
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