Ausgabe 11 - 2015
Mehr Platz für's Querdenken!

Viele Unternehmen setzen auf Rezepte, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Künftig aber kommt es auf etwas völlig anderes an: auf Geschäftsmodelle, die ständig und radikal in Frage gestellt und erneuert werden müssen. Ein Plädoyer.
Wir betrachten Arbeit und Unternehmen heute immer noch durch die gleiche Brille, die wir schon seit einigen Jahrzehnten aufhaben. Wir denken und handeln in Aufbau- und Ablauforganisationen, Hierarchien und Leitbildern. Wir akzeptieren, dass es eine Führungskraft gibt, die wiederum einer Führungskraft untersteht und so weiter. Weil sich all das in der Vergangenheit als produktiv erwiesen hat. Und weil Veränderung ein dickes Brett ist, das es erst einmal zu bohren gilt. Aber unsere Arbeitswelt ist nicht mehr durch Bewahrung und Verwaltung bestimmt, sondern durch Musterbrüche und Erneuerung. Ideen und Kreativität sind der Rohstoff, auf den diese neue Wirtschaft baut.
Angst als größtes Hindernis
Wer alte Zöpfe abschneiden will, braucht vor allem Mut. Oder umgekehrt: Das größte Hindernis auf dem Weg zu innovativem Denken und Entscheiden ist die Angst. Die Furcht vor dem Musterbruch. Wer viel Geld in die Hand nimmt, setzt lieber auf das Sichere und Gewohnte, als etwas Neues auszuprobieren. Aber dort, wo etwas Neues entstehen soll, braucht es Freiraum und Entschlossenheit. Dinge entwickeln sich nicht aus Vorsicht.
Und wer den Innovatoren im Unternehmen nicht genügend Raum gibt, macht etwas falsch.
Das musste auch Andreas Glemser feststellen. 2005 startete der Gründer und Inhaber der Cocomin AG in Leinfelden-Echterdingen bei Stuttgart mit seinen damals 50 Mitarbeitern ein gewagtes Experiment: Obwohl gut 90 Prozent der Akquise über ihn liefen, entschied er sich dazu, für vier Monate mit seiner Familie auf Weltreise zu gehen und während dieser Zeit nicht erreichbar zu sein – mit der Folge, dass Glemser nach seiner Rückkehr arbeitslos war. Nicht etwa, weil es sein Unternehmen nicht mehr gab, sondern weil seine Mitarbeiter eigenständiger und erfolgreicher agierten als zuvor. Das Vertrauen des Inhabers hatte die Selbstverantwortung der Mitarbeiter beflügelt. Umsätze wurden gesteigert, neue Kunden gewonnen, innovative Produkte lanciert. Seitdem kann sich Glemser den wirklich strategischen Fragen zuwenden, für die er vor seinem Experiment nie Zeit hatte.
Verknüpfen, was da ist
Viele Menschen tun sich schwer damit, innovative Ideen zu erkennen und zu akzeptieren. Jennifer Mueller und Shimul Melwani, Psychologinnen an den Universitäten von Pennsylvania und North Carolina, haben das in einer Reihe von Experimenten beobachtet. Sie konfrontierten mehr als 200 Versuchspersonen mit innovativen Ideen wie etwa einem Laufschuh, der seine Gewebedichte der Außentemperatur anpasst und den Fuß somit vor Blasen schützt. Das Ergebnis: Selbst wenn objektive Fakten die Praxistauglichkeit der vorgeführten Ideen belegten, wurden sie von den Teilnehmern unbewusst zurückgewiesen. Stattdessen bevorzugten sie praktische Produkte, erprobt und bewährt.
Das Neue, das Unbekannte – wozu soll das auch gut sein? Wie viel schöner ist doch die Sicherheit, die sich aus der Routine ergibt? Der österreichische Ökonom Alois Schumpeter hatte dazu schon vor mehr als hundert Jahren eine andere Meinung. Er beschrieb Innovation als einen Prozess der schöpferischen Zerstörung: Innovation funktioniert erst, wenn der Ausbruch aus der Routine gewagt, Altes zerstört, Ressourcen anders kombiniert und in neue Verwendungszusammenhänge eingebunden werden. Die Zutaten dafür? Neben Mut braucht es natürlich Optimismus und Neugier, aber auch die Bereitschaft zum Diebstahl. Oder um es mit den Worten Salvador Dalís zu sagen: „Diejenigen, die nicht nachmachen möchten, kreieren auch nichts.“
Innovationen brauchen Mut
Agilität und Innovation erwachsen oft durch ehrliches Vertrauen in die Kreativität der Mitarbeiter. Doch Querdenkertum in Wirtschaft und Gesellschaft erfordert auch Mut und Durchsetzungskraft. Drei Beispiele:
Hotels für die Generation Facebook: Wenn es einen Revolutionär in der internationalen Hotellerie gibt, dann ist das Petter Stordalen. 1996 kaufte er sich in die winzige Hotelkette Nordic Choice ein, die heute über 170 Hotels betreibt. Und er brach mit den wichtigsten Gewohnheiten seiner Branche. Viele seiner Häuser sind Hotels ohne Rezeption, die über das Smartphone nicht nur gesucht, sondern auch gebucht und bezahlt werden können und bei denen man sein Handy auch als Schlüssel benutzen kann. Er baut seine Hotels für die Generation Facebook, die kein Obst auf dem Zimmer haben will oder Bademäntel, sondern ein Bett, eine Steckdose und WLAN.
Mobilität im Minutentakt: Noch mehr Autos sind in unseren Innenstädten kaum noch zu ertragen. Wir tun deshalb alles, um sie von dort fernzuhalten – sei es durch Sondersteuern oder durch abschreckend teure Parkplätze. Sehr zum Leidwesen der Fahrzeughersteller, die ihre chromblitzenden Statussymbole nicht in der Rolle unverbesserlicher Umweltsünder sehen wollen. Mit Car2Go stellte Daimler deshalb 2007 einen ökologisch wertvollen Ausweg aus dieser Misere vor: Autos zum Mitnehmen! Ein innovatives Mobilitätskonzept, mit dem sich – ganz nebenbei – auch noch die urbanen Menschen von heute erreichen lassen, für die das neue iPhone ein Statussymbol ist, nicht aber die neue A-Klasse. Was als ökologisch getriebenes Geschäftsmodell in der Nische begann, bedient mittlerweile auch noch einen weltweiten Megatrend: Im Internetzeitalter lernen die Menschen das Teilen.
Achtsamkeit, die aus Achtsamkeit erwächst: Wie können unsere Städte liebenswerter und menschenfreundlicher werden, wie kann die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung sichergestellt werden? Das ist gar nicht so schwer, sagen die Erfinder der „Essbaren Stadt“ und pflanzen Gemüse und Küchenkräuter dort, wo bisher Astern, Geranien und Stiefmütterchen standen. Der neue Wert der öffentlichen Flächen erzeugt einen anderen Umgang mit ihnen. „Eine andere Stadt zu besuchen und zu sehen, wie Menschen auf öffentlichen Plätzen Gemüse anbauen, ist ein Genuss und eine Freude“, findet Mary Clear, die den Trend im englischen Städtchen Todmorden anstieß.
Kopieren erlaubt
Tatsächlich sind Menschen, die Neues schaffen, auffallend oft Wiederverwerter. Und das ist keineswegs überraschend, denn wir kopieren ein Leben lang. Wir lernen schreiben, indem wir das Alphabet abschreiben. Immer und immer wieder. Wir lernen Gitarre spielen, indem wir die Tonleitern rauf und runter spielen bis unsere Finger schmerzen. Und Studenten der Malerei lernen, indem sie große Meister kopieren. Vieles, das auf den ersten Blick wie eine Innovation erscheint, ist in Wirklichkeit eine Imitation. Berühmtestes Beispiel: Apple. Eines der derzeit erfolgreichsten Unternehmen hat es damit sogar an die Weltspitze gebracht. Aus altbekannten Techniken wie WLAN, MP3 oder Bewegungssensoren kreiert Apple mit schöner Regelmäßigkeit neuartige Geräte mit zeitgemäßem, nutzerfreundlichem Design. Auch Apples Produktdesign gilt heute als einzigartig, dabei ist es keineswegs neu, sondern orientiert sich unübersehbar an dem Stil von Braun in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Claude Lévy-Strauss hat für all das schon 1962 in seinem Buch „Das wilde Denken“ den Begriff der „Bricolage“ geprägt. Für den französischen Ethnologen bedeutete er Bastelei, im übertragenen Wortsinne von Neuzusammenfügungen von Bestehendem, längst Bekanntem oder achtlos Liegengelassenem. Oded Shenkar, Professor für Management am Fisher College of Business in Columbus, Ohio, untersuchte in einer Studie 48 Innovationen und musste feststellen, dass sich 34 von ihnen als Kopien entpuppten. Das interessante Ergebnis seiner Untersuchung: Fast 98 Prozent der mit den Neuheiten erzielten Wertschöpfung strichen nicht die Innovatoren, sondern deren Nachahmer ein. McDonald's erfand nicht das Konzept der Fast-Food-Kette, Google war nicht die erste Suchmaschine und Diners Club erfand zwar die Kreditkarte – dann aber kamen die anderen und überholten den Erfinder.
Ungewöhnliche Ideen fördern
Die meisten Großunternehmen haben für das Entwickeln neuer Ideen feste Prozesse eingerichtet. Damit lassen sich bestehende Produkte hervorragend verbessern, revolutionäre Gedanken haben dabei aber kaum eine Chance. Anders läuft es beim amerikanischen Softwareunternehmen Adobe. Dort hat man unter dem Namen „Kickbox“ ein Programm aufgesetzt, das Mitarbeitern die Gelegenheit gibt, auch ungewöhnliche Ideen weiterzuverfolgen. Kern von Kickbox ist eine rote Schachtel, deren Inhalt aus wirkungsvollen Innovationstechniken für Start-ups besteht. Außerdem befindet sich in der Box eine Prepaid-Kreditkarte mit einem Limit von 1000 US-Dollar. Sie versetzt einen Mitarbeiter in die Lage, die Anschubfinanzierung für sein Projekt selbst zu leisten. Die Beschäftigten können sich von ihren Vorgesetzten für bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit freistellen lassen, um ihre Innovationsprojekte über einen Zeitraum von einigen Wochen bis zu ein paar Monaten voranzutreiben.
Die Idee hinter Kickbox ist einfach: Je mehr Ideen ein Unternehmen verfolgt, desto wahrscheinlicher ist es, etwas Revolutionäres hervorzubringen. Früher testete Adobe im Schnitt pro Jahr etwa zwei Dutzend Ideen bei potenziellen Nutzern. Solche Untersuchungen kosten zwischen einigen 100 000 und einer Million US-Dollar. Mit der roten Schachtel aber hat Adobe bis heute fast 1000 Mitarbeiter in die Lage versetzt, eigene Vorhaben voranzutreiben. Kickbox hat mehr Ideen von mehr Beschäftigten in einer höheren Geschwindigkeit und zu geringeren Kosten hervorgebracht als alle anderen Innovationsprozesse zuvor.
Von erfolgreichen Querdenkern lernen
Dabeisein ist alles! Unternehmen bestehen aus Menschen. Und die wünschen sich genau den Beteiligungsgrad, den sie aus den sozialen Medien kennen, auch am eigenen Arbeitsplatz.
Flache Hierarchien für frisches Denken! Hierarchische Strukturen neigen dazu, alte Denkweisen fortzuschreiben, auch wenn das nicht die passende Antwort auf Veränderung ist. Umgekehrt fühlen sich Mitarbeiter der gemeinsamen Sache umso stärker verpflichtet, je flacher die Hierarchien sind.
Querdenker ermutigen! Es sind die Unangepassten, die Typen mit ausgeprägten Stärken und Schwächen, die Gruppen dynamisieren, neue Ideen wagen und ganze Organisationen voranbringen können. Sie geben der soliden Arbeit guter Teams oftmals den entscheidenden Kick. Wer Querdenker ermutigt, wird belohnt.
Ran an die Schwächen
Unkonventionelle Impulse können sich aber auch aus einem bewusst herbeigeführten Wechsel der Perspektive ergeben. Dieser Kniff ist die Grundidee von Lisa Bodells Buch „Kill the Company“. Ein martialischer Titel für einen radikalen Ansatz, Unternehmen auf eingefahrenen Bahnen fit für den notwendigen Richtungswechsel zu machen. Die Chefin von Futurethink, einem New Yorker Beratungshaus, verwandelt dabei die Mitarbeiter ihrer Kunden mit großer Freude in Killer der eigenen Firma. Die zugrunde liegende Übung ist simpel: Man sammelt gemeinsam die besten Ideen, die dazu taugen können, den eigenen Arbeitgeber aus dem Markt zu drängen. Und weil keiner dessen Schwächen besser kennt als seine eigenen Mitarbeiter, ist das Ergebnis eine lange Liste spannender Angriffspunkte, die zugleich auch eine handfeste Analyse der größten Schwächen liefert. Die besondere Stärke dieses Ansatzes liegt in der spielerischen Erlaubnis, Missstände im eigenen Unternehmen aufzudecken und organisatorische Befindlichkeiten kritisch zu benennen. In der Regel verhindert eine restriktive Firmenkultur, dass Mitarbeiter sich trauen, Ärgernisse oder Verbesserungspotenziale aufzuzeigen, etwa ein falsches Produktsortiment oder ausufernde Vorschriften für jeden Kleinkram. Unternehmen, die innovativer werden wollen, leiden nicht an einem Mangel an guten Ideen. Meist leiden sie unter einer Firmenleitung, die durch Bürokratismus und autoritären Führungsstil verhindert, dass die guten Ideen bis nach oben durchdringen können.
Offen, agil, beweglich
Unbändige Motivation, umfassende Fähigkeiten und jede Menge Freiräume sind Zutaten mutiger Geschäftsmodelle, die erfolgreich mit bestehenden Mustern gebrochen haben. Neue Formen kollektiver Wertschöpfung scheinen auf klassische Organisationsformen und Hierarchieverständnisse zu pfeifen. Sie sind offen, agil und beweglich. Und sie sorgen dafür, dass unser Wirken auch noch höheren Zielen dienen kann als nur der Gewinnmaximierung. Von der Förderung einer neuen Kultur des Teilens bis hin zu Geschäftsmodellen, die auf Partizipation und Transparenz oder Erneuerung setzen – wenn es einen roten Faden gibt, der all diese Ansätze verbindet, dann lässt er sich in drei Worten umschreiben: Wollen. Können. Dürfen.
Klage, Jan Pierre: I did it my way! Geschichten von mutigen Machern, Querdenkem und Revolutionären. Wiesbaden 2015.
Autor
Dr. Jan Pierre Klage, Berater und Trainer sowie Dozent an der Business and Information Technology School Hamburg und der Hochschule macromedia in München und Berlin,
klage@drkmb.de
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