Ausgabe 11 - 2015
Sorgenfrei bei der Sozialversicherung?

Immer mehr Mitarbeiter werden kurzfristig im Ausland tätig. Die Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen wird an das Bestehen eines Arbeitsvertrages in Deutschland geknüpft. Niemand thematisiert, ob nicht etwa ausländische Beiträge fällig werden könnten. Ist das in dieser Form tatsächlich risikofrei?
Ein Beispiel aus der Beratungspraxis: Ein IT-Mitarbeiter eines Unternehmens im Südwesten Deutschlands wohnt in Straßburg. Er schätzt die dortige Lebensqualität und vereinbart mit seinem Chef, dass ihm Homeoffice für einen Teil seiner Arbeitswoche gestattet ist. Der Chef denkt nicht im Entferntesten daran, dass hier Probleme bestehen können. Dies ist aber durchaus wahrscheinlich.
Im Sozialversicherungsrecht der EU gilt als Grundregel das Territorialprinzip. Danach entsteht die Beitragspflicht dort, wo die Arbeitnehmer tatsächlich tätig sind. Wenn aber ein Mitarbeiter „gewöhnlich“ in zwei oder mehr Staaten tätig ist, gilt ein anderes Regime. „Gewöhnlich“ heißt hier mindestens fünf Prozent der Arbeitszeit in einem Zeitraum von drei Monaten. Dazu hat sich die Praxis herausgebildet, dass ein Arbeitnehmer gewöhnlich in mehreren Staaten tätig ist, wenn er zum Beispiel einen Tag im Monat oder eine Woche im Quartal in einem anderen Land tätig geworden ist. Nehmen wir an, dass unser IT-Mitarbeiter zwei Tage in der Woche im Homeoffice in Straßburg arbeitet. Damit verbringt er 40 Prozent seiner Arbeitszeit in Frankreich, 60 Prozent in Deutschland und überschreitet die Fünf-Prozent-Schwelle klar. Er ist damit ein Mitarbeiter, der gewöhnlich in zwei EU-Staaten arbeitet. Wo muss er jetzt Sozialversicherungsbeiträge abführen?
Beitragspflichtig in Frankreich
Hier kommt eine zweite Schwelle ins Spiel. Wenn der Mitarbeiter 25 Prozent oder mehr seiner Arbeitszeit im Staat seines Wohnsitzes ableistet, ist er dort sozialversicherungspflichtig. Andernfalls wäre es der Sitzstaat des Unternehmens. Für den IT-Mitarbeiter bedeutet dies, dass er in Frankreich beitragspflichtig wird, weil er dort 40 Prozent seiner Arbeitszeit verbringt. Wenn er nur einen Homeoffice-Tag hätte, würde er nur 20 Prozent seiner Arbeitszeit in Frankreich ableisten. Durch das Unterschreiten der 25-Prozent-Schwelle verbleibt die Sozialversicherungspflicht im Sitzstaat des Unternehmens (hier: Deutschland).
Wirtschaftlich bestimmt die Gestattung des zweiten Homeoffice-Tages pro Woche also darüber, ob die niedrigeren deutschen oder die weitaus höheren französischen Beiträge abgeführt werden müssen. Im letzten Fall muss sich der Arbeitgeber in Frankreich registrieren und hat neben der höheren Beitragslast auch einen höheren administrativen Aufwand. Macht der Arbeitgeber bei der Einschätzung Fehler, hat dies gravierende Folgen. Das „richtige“ Land wird später Beiträge nachfordern, ohne dass die irrtümlich abgeführten Beiträge in jedem Fall zurückgefordert werden können (Verjährung). Der Arbeitnehmer hat Nachteile bei seiner Altersversorgung zu befürchten, wenn er nämlich in Deutschland seinen Rentenantrag stellt, aber die Jahre des Homeoffice in Frankreich nicht wie Inlandsbeiträge gewertet werden. Stattdessen muss der angehende Rentner vielleicht noch einen Rentenantrag in Frankreich stellen.
Auch in anderen Konstellationen kann es Probleme geben. Viele Unternehmen besetzen ihre Projekte international, das heißt, auch mit Mitarbeitern ausländischer Tochtergesellschaften. Dazu ein weiterer Praxisfall. Die Mitarbeiter einer Tochtergesellschaft in der Schweiz wurden in der Vergangenheit durch die deutsche Muttergesellschaft sehr regelmäßig auch im Inland eingesetzt. Die oben beschriebene Fünf-Prozent-Schwelle wurde klar überschritten. Die Deutsche Rentenversicherung vertritt die Auffassung, dass eine Beitragspflicht in Deutschland vorlag. Der Fall liegt bei seiner Aufdeckung bereits einige Jahre zurück und es sind zahlreiche Mitarbeiter betroffen, von denen auch ein gewisser Teil nicht mehr im Unternehmen beschäftigt ist. Die Behörden in der Schweiz sind zunächst nicht bereit, die Einzelfälle zu überprüfen und die notwendigen Bescheinigungen über den Verbleib in der Sozialversicherung der Schweiz auszustellen. Hier ist neben der fachlichen Expertise auch ein hohes Maß an Verhandlungsgeschick gefragt. Denn wenn die Forderung der Deutschen Rentenversicherung ungeschmälert bedient werden muss, entsteht eine Doppelbelastung mit Beiträgen in der Schweiz und Deutschland, für die in der Regel immer der Arbeitgeber haftet.
Die Regeln zur richtigen Zuordnung der Sozialversicherungspflicht bei kurzfristigen Auslandstätigkeiten sind selbst innerhalb Europas komplex und bereiten Schwierigkeiten bei der Anwendung. Wenn außereuropäische Staaten betroffen sind, erhöht dies die Komplexität weiter. Denn dann ist zu berücksichtigen, ob es um ein Land mit Sozialversicherungsabkommen geht, welche Versicherungszweige betroffen sind oder ob die Mitarbeiter in einem vertragslosen Staat tätig werden.
Komplexe Regeln
Sofern es zu einer doppelten Kostenbelastung kommt, weil Sozialversicherungsbeiträge in mehreren Staaten gleichzeitig anfallen, wird dies für das betroffene Unternehmen regelmäßig sehr teuer. Für die betroffenen Mitarbeiter können empfindliche Leistungslücken entstehen, wenn Beiträge versehentlich im falschen Land abgeführt werden. Es lohnt sich also, Vorsorge zu treffen. Was aber können Unternehmen tun?
Zunächst sollte das Problembewusstsein geschärft werden. Die hier beschriebenen und viele weitere Fallgruppen können kaum sachlich oder personell begrenzt werden. Insofern muss ein größeres Auditorium in den Unternehmen in geeigneter Form angesprochen werden. Die Personalbereiche brauchen interne und/oder externe Expertise, um die auftretenden Fragen lösen zu können. Dies sollte gebündelt werden. Wenn nämlich mehrere Beteiligte an einem Fall unter verschiedenen Aspekten arbeiten, hat dies fast zwangsläufig unterschiedliche Ergebnisse zur Folge. Auch dazu ein Beispiel: In Belgien besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Pflicht, Inlandstätigkeiten zu melden, damit die Sozialversicherungspflichten durch die belgischen Behörden überprüft werden können (Limosa). Wenn die Limosa-Meldungen durch andere Personen als die sozialversicherungsrechtlichen Meldungen und Anträge selbst bearbeitet werden, kommt es durchaus häufig zu gegenläufigen Resultaten. Dies hat dann die Konsequenz, dass die Behörden Rückfragen stellen beziehungsweise schlimmstenfalls zu hohe Beiträge erheben.
Jeden einschlägigen Fall überprüfen
Am besten ist es, wenn jeder einschlägige Fall von Auslandstätigkeit im Unternehmen auf seine sozialversicherungsrechtlichen Folgen überprüft wird. Es ist aber auch denkbar, Risikogruppen zu definieren, bei denen die meisten und schwerwiegendsten Fehler zu erwarten sind, und diese Fallgruppen lückenlos zu überprüfen.
Gerade im zweiten Fall ist es unabdinglich, bei Auslandstätigkeiten die Personalbereiche einzuschalten. Denn nur dort kann sich im Laufe der Zeit das nötige Erfahrungswissen sammeln, das eine Vermeidung teurer Fehler garantiert. Um Sicherheit zu gewinnen, sollten die Anträge auf Ausstellung einer Bescheinigung über die anzuwendenden Rechtsvorschriften gestellt werden. Dies gilt sowohl für einen Wechsel der Sozialversicherungspflicht durch die Auslandstätigkeit als auch dann, wenn die bisherige Zuständigkeit sachlich bestehen bleibt. Im Zweifel lassen sich nur durch diese Bescheinigungen bei einer behördlichen Prüfung Nachforderungen durch die Sozialversicherung im Tätigkeitsstaat zutreffend abwehren. Eine Bindungswirkung entsteht allerdings nur dann, wenn der Sachverhalt richtig und vollständig beschrieben ist (insbesondere der zeitliche Umfang der Auslandstätigkeit). Sorgenfreiheit bei kurzfristiger Auslandstätigkeit lässt sich durch richtiges Management des Themas Sozialversicherung also durchaus erzielen.
Autoren
Wolfgang Apel, Steuerberater, Deloitte, Berlin,
wapel@deloitte.de
Jens Glaser, Senior Manager/Sozialversicherung, Deloitte, Düsseldorf,
jglaser@deloitte.de
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