Ausgabe 11 - 2015
Wettbewerb um unsichere Kantonisten
Am 1. Oktober fand zum siebten Mal das World Talent Forum in der Allianz Arena in München statt. Hochkarätige Referenten diskutierten Themen rund um Mitarbeitersuche und Talent Management. Ein Thema, das für Zündstoff sorgte, war das Corporate Alumni Management.
Das World Talent Forum in der Münchner Allianz Arena begann mit einem Paukenschlag. Professor Dietmar Harhoff, seit acht Jahren Leiter der Expertenkommission Forschung und Innovation, zitierte einen Studenten, der zum Kreis der Toptalente zählt, die ein großer Versicherungskonzern jedes Jahr auswählt. „Wenn ich ein innovatives Umfeld suche, dann gewiss nicht HR.“ Doch der Schreck fuhr den 270 Teilnehmern nur kurz in die Glieder. Solange sie Kreative und Querdenker nicht „mit Kennzahlen quälen“, sondern sich mit Herzblut für ihre Belange verwenden würden, könnte der Schritt zu mehr Innovation tatsächlich gelingen, machte Harhoff ihnen Mut.
Mit Kommando und Kontrolle als Kulturbasis schreckt man Hoffnungsträger ab. In der Tat ist die Wirtschaft im Umgang mit den von Harhoff „Entrepreneurs“ genannten kreativen und von Innovation begeisterten Leistungsträgern unentschuldbar vom Kurs abgewichen. „Immer mehr springen ab, um in Start-ups ihren vielfältigen Talenten freien Lauf zu lassen.“ Dieser Trend versetzt auch die Beratungsbranche in helle Aufregung. War diese einst Sammelbecken der Besten, laufen die Entrepreneurs auch dort in Scharen davon.
Schüler-Marketing
Eine gute Idee ist es, schon bei Schülern anzusetzen, um sich für „Überflieger“ als potenzieller Arbeitgeber zu positionieren. Wie in einem Brennglas fließen hier gesellschaftliche Trends, etwa der demografische Wandel und die raumgreifende Digitalisierung, zusammen. „Schüler-Marketing ist das beste Anti-Aging-Programm“, sagte Isabell Brauer vom Referat Berufsausbildung der Allianz. Führungen, Bewerbungstrainings und auch Praktika dienten dem Ziel, sich möglichst frühzeitig den Nachwuchs als künftigen Talentpool zu sichern. In Auswahlverfahren würden Recrutainment-Elemente eingefügt, die den Lebensnerv der Zielgruppe treffen. Erfolg verspricht Brauer zufolge das Peer-to-Peer-Konzept: „Vielleicht tickst Du so wie wir?“, fragen Azubis ihre potenziellen Nachfolger.
Alumni-Programme
Die einen kommen, die anderen sind auf dem Absprung – und gehen Arbeitgebern womöglich für immer verloren. Ein vielfach ignoriertes Element des „Talent Life Cycles“ sind Alumni-Programme. Worauf man bei der Implementierung achten sollte, erläuterte Sarah Dovlo, Leiterin HR Marketing beim Industriekonzern ABB. Wie auch andere Unternehmen unterhielt ABB vielfältige Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitern, allerdings in unkoordinierter Weise. Das ändert sich nun: „Ehemalige sollen einem exklusiven Alumni-Club beitreten und gezielt als Botschafter fungieren“, betonte Dovlo.
Neben der Entscheidung, ein eigenes System zu entwickeln statt etwa eine Alumni-Gruppe auf Linkedln oder Xing zu gründen, beschränkt sich ABB auf die Zielgruppe der High Potentials als Teilnehmer des Alumni-Clubs. Die Entscheidung, wer in den Alumni-Club eingeladen wird, trifft der ehemalige Vorgesetzte. Die Einladung erfolgt unmittelbar, nachdem der Mitarbeiter ABB verlässt. „In einem zweiten Schritt wollen wir den Alumni-Club auch auf die besten ehemaligen Praktikanten ausweiten“, bekundete Dovlo. Bei Antritt des Praktikums würden die Talente darüber informiert, dass ihnen diese Option winkt.
Talente von den Universitäten
Alumni-Programme treffen auf große Vorbehalte. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, heißt es oft. Eine fragwürdige Maxime mit Blick auf Leistungsträger. Die kulturelle Eigendynamik, die Unternehmen über Jahre entwickeln, könnte zum großen Stolperstein werden. Das Bonmot „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“ drückt das trefflich aus.
Heilloses Durcheinander fand auch Christian Schutz vor, als er von Siemens zum Chef des Arbeitgebermarketings berufen wurde. Eine wichtige Aufgabe bestand darin, die völlig verfahrenen und unkoordinierten Beziehungen zu Universitäten weltweit zu ordnen. „Ein Hochschullehrer teilte mir mit, in einer Woche hätten drei verschiedene Siemensianer wegen einer Kooperation angefragt. Keiner wusste vom anderen.“
Seit CEO Joe Kaeser das jüngste Restrukturierungsprogramm vorgab, wurden alle HR-Projekte auf Eis gelegt. Das von Schutz entwickelte Framework blieb davon unberührt. Aus gutem Grund: Zwei Drittel aller neu eingestellten Mitarbeiter sind Akademiker. Siemens will die besten Talente von den Universitäten gewinnen. Ob sie dem Konzern auch langfristig verbunden bleiben, hängt freilich davon ab, ob der oft beschworene Kulturwandel auch gelingt.
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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