Ausgabe 11 - 2017
Leitplanken gesucht

HR hat jede Menge Zukunftsthemen auf der Uhr. Dringlich sind sie alle, doch welche sind am wichtigsten? Keine leichte Entscheidung. Wir haben Personaler nach ihrer Einschätzung gefragt.
Von Cliff Lehnen
Welche drei Themen müssen Personaler jetzt anpacken, um in Zukunft erfolgreich zu sein? Diese offene Frage ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten haben wir online einer bunt gemischten Gruppe von 30 HRlern gestellt – von der Start-up-Einzelkämpferin über den Personalleiter im Mittelstand bis zur Business Partnerin im Konzern. Ihre insgesamt 85 von 90 möglichen individuellen Antworten haben wir inhaltlich codiert und zu Themenclustern zusammengeführt. Um ein Beispiel zu nennen: Aspekte wie „Candidate Experience“, „Mitarbeitergewinnung“ oder „Attraktivität für Top-Talente“ wurden dem Bereich „Recruiting und Employer Branding“ zugeordnet.
Die dahinter stehende Frage: Korrespondieren die spontanen Einschätzungen von Personalern im Tagesgeschäft mit den High-Level-Diskussionen zur Zukunft der Arbeit, die wir bei der Veranstaltung „HR macht – Next Act“ geführt haben? Ein gewisses Maß an Spreizung zwischen Paneldiskussion und operativer Arbeit ist richtig und gewollt – doch wenn die Realität derjenigen auf der Bühne eine andere ist die derjenigen im Büro, wird es schwierig.
Recruiting, Retention, Transformation
Das ist zum Glück nicht der Fall. Die 20 Themenkreise (siehe Abbildung) und ihre Ausprägungen bilden im Wesentlichen die Kerndiskussionen ab, denen sich HR aktuell stellt: Wie gewinnen wir trotz Fachkräftemangel die besten Talente für unser Unternehmen (Recruiting und Employer Branding)? Wie entwickeln wir sie weiter (Personalentwicklung und -weiterbildung) und sorgen dafür, dass sie zufrieden sind, gesund bleiben und gern langfristig bei uns arbeiten (Mitarbeiterzufriedenheit und -bindung, Demografiemanagement, BGM)? Wie stellen wir unsere Organisation so auf, dass sie die digitale Transformation gestärkt übersteht (Digitalisierung)? Und wie muss sich Arbeit bei uns im Unternehmen verändern, um diesem Wandel und den Bedürfnissen der Mitarbeiter zu begegnen (Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort, New Work und Arbeit 4.0, Unternehmenskultur)?
Die Top-Zukunftsaufgaben für HR

Wir haben 30 HRler (verschiedene Hierarchielevel, Branchen, Organisationstypen und -größen) gefragt: „Welche drei Themen müssen Personaler jetzt anpacken, um in Zukunft erfolgreich zu sein?“
Es waren keine Antwortoptionen vorgegeben, die Befragten konnten frei assoziieren. Insgesamt wurden 85 von 90 möglichen Antworten gegeben. Diese individuellen Antworten wurden codiert und zu Themenclustern zusammengeführt – Beispiele: Aspekte wie„Candidate Experience“, „Mitarbeitergewinnung“ oder „Attraktivität für Top-Talente“ wurden dem Bereich„Recruiting und Employer Branding“ zugeordnet.
Dass das Recruiting auch in dieser Schlaglichtbefragung als Topthema identifiziert wird, wundert nicht. Für die allermeisten Personaler ist es sowohl tägliche operative Aufgabe als auch Zukunftsprojekt. Es lässt sich so kleinteilig zerlegen, dass immer etwas zu tun ist. Ob auf Messen, Kongressen, in Fachzeitschriften oder Blogs, das Thema boomt, die führenden Dienstleister im Markt erzählen eine Erfolgsgeschichte nach der anderen (siehe unser beiliegendes Special E-Recruiting). Auch das Gewinnerkonzept beim Deutschen Personalwirtschaftspreis 2017, die Kampagne „Willkommen, du passt zu uns“ der Deutschen Bahn, entstammt der Kategorie Recruiting.
Sinn, Kultur, Führung
In den Paneldiskussionen beim Event „HR macht – Next Act“ standen allerdings noch stärker Themen im Vordergrund, die sich, wenn wir sie mit der vorliegenden Befragung abgleichen, an den Schnittstellen der Cluster „Mitarbeiterbindung und -zufriedenheit“, „Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort“, „New Work und Arbeit 4.0“ sowie „Unternehmenskultur“ abspielen. Verschiedene Debatten drehten sich um den Sinn der Arbeit. Längst ist dieser Faktor als nicht-esoterisch erforscht: Je besser die Unternehmenskultur, desto besser schneiden Unternehmen auch am Kapitalmarkt ab. SAP-Zukunftsforscher Kai Goerlich dazu: „Die Firmen, die sich dem Sinn verschreiben, outperformen die, die nur auf Umsatz und KPIs setzen!“
Waren also „Sinn“ und „Kultur“ zwei der beim Event am häufigsten wiederholten Begriffe, finden sich unter den 85 spontanen Assoziationen der online befragten Personaler nur drei, die auf den Cluster „Unternehmenskultur“ einzahlen; der Begriff „Sinn“ wurde gar nicht genannt. Auch die auf dem Podium sowie in unserer HR-Macher-Befragung als besonders erfolgskritisch und zukunftsrelevant identifizierten Aspekte „Führung“ und „Kommunikation“ wurden nur relativ selten benannt. Da scheint also durchaus Macher-Potenzial brachzuliegen.
Immer diffusere Aufgaben
Das legt allerdings weniger einen Theorie-Praxis-Konflikt offen als vielmehr die Vielfalt der Baustellen, an denen HR parallel zu arbeiten hat. Nahezu alle Themen greifen inzwischen ineinander, kaum eines ist in sich über längere Zeit beherrschbar. Die Schnelligkeit der Entwicklungszyklen nimmt zu und führt manches Projekt noch vor dem Launch ad absurdum. Hinzu kommt die Kurzatmigkeit der Entscheidungen und Strategiewechsel, die in größeren Organisationen – nicht nur den börsennotierten – an der Tagesordnung sind. „Kaum ein Projekt wird je noch fertig“, knurrt ein erfahrener Change-Management-Berater, der nicht zitiert werden will.
Das alles ergibt natürlich keinen Sinn. Aber es ist täglich geübte Praxis in vielen Unternehmen. Es ist der Rhythmus des Immer-mehr-immer-schneller, der den Sinn aus den Unternehmen saugt, weil für nichts mehr wirklich Zeit bleibt. Dadurch erscheint auch nichts mehr wirklich wichtig. Je mehr auf dem Tisch liegt, je diffuser das Aufgabenspektrum wird, je weniger beherrschbar der eigene Job wirkt – desto weiter rückt das hehre Ziel in die Ferne, einen Job „mit Sinn“ zu machen. Oder einen solchen anzubieten.
Bemerkenswert ist indes, dass drei Personaler (unabhängig voneinander, in der individuellen Formulierung ähnlich) das relativ abstrakte Ziel fordern, HR müsse „die Eigenverantwortung der Mitarbeiter stärken“. Als orientierende Klammer denkbar ist tatsächlich nur eine klar an die Unternehmensstrategie gekoppelte, sinngeleitete Unternehmens- und Führungskultur. Und hier kann HR gestaltend wirken – vielleicht in einer ganz anderen Rolle als derzeit.
Gesellschaftlicher Auftrag: Fehlanzeige
Apropos Zukunft, und apropos Sinn: Schade ist auch, dass kein befragter Personaler das Thema gesellschaftliche Verantwortung oder „Corporate Citizenship“ aufs Tapet bringt. Mit der Implosion der deutschen Willkommenskultur nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016 ist auch in vielen Unternehmen das Engagement erkaltet, eine Rolle bei der Integration von Geflüchteten über Sprache, Arbeit und soziale Kontakte zu spielen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, häufig individuell und teilweise durchaus nachvollziehbar – manche Hoffnung wurde enttäuscht. Nun leben wir aber in einem Land, das merklich nach rechts rückt und Gefahr läuft, einer weiteren Einwanderergeneration mehr Türen vor der Nase zuzuschlagen als nötig – mit Spätfolgen, die uns allen nicht recht sein werden. Wenn sie auch womöglich zu überschwänglich gewesen sein mag: Ein bisschen von der integrativen Euphorie der Herbsttage 2015 würde man sich auch heute noch wünschen.
Das muss übrigens, ganz wie das sinngetriebene Management ja auch nachweisbar bessere Geschäftszahlen nach sich zieht, aus HR-Sicht gar nicht uneigennützig geschehen. Das beste Beispiel bieten die Imland-Kliniken in Kooperation mit dem Weiterbildungsanbieter BFW, die in Schleswig-Holstein mit viel Engagement Ärzte aus Drittstaaten auf dem Weg zur Sprachprüfung und Approbation begleiten – und dabei nicht nur einen gesellschaftlichen Auftrag wahrnehmen, sondern mitten im Fachkräftemangel gut ausgebildete Mitarbeiter gewinnen. Das Projekt wurde mit einen starken zweiten Platz in der Kategorie „Recruiting“ beim Deutschen Personalwirtschaftspreis gewürdigt.
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