Ausgabe 11 - 2017
Der Mensch steht im Mittelpunkt

Heino Niederhausen ist Projektleiter der Demografie-Initiative YES.
Mit der Demografie-Initiative „YES“ greift die Daimler AG die Chancen des demografischen Wandels auf und rückt das Wichtigste in den Mittelpunkt, den Menschen. Mit diesem Konzept errang das Unternehmen den Deutschen Personalwirtschaftspreis in der Kategorie Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM).
Markus Schäfer, Bereichsvorstand Produktion und Supply Chain Management, Mercedes-Benz Cars, formulierte den Auftrag an HR, der ambitionierter kaum sein konnte: die Entwicklung einer nachhaltigen Strategie, um die Auswirkungen des demografischen Wandels für Mercedes-Benz Cars Operations mit seinen circa 80 000 Mitarbeitern positiv zu gestalten. Das Ziel: ein Paradigmenwechsel auf allen Ebenen des Unternehmens. In den Arbeitsstrukturen am Shopfloor, im Handeln der Führungsteams und in den Köpfen der Mitarbeiter. Nicht weniger also als ein Struktur- und Kulturwandel im diversesten und mitarbeiterstärksten Geschäftsbereich der Daimler AG. Großartige Idee – nur: Wie bitte sollte das gelingen? Der Ansatz im Grunde so einfach wie folgerichtig: Mitarbeiter, Betriebsräte und Gewerkschaft von Anfang an beteiligen und ein attraktives Kommunikations- und Marketingkonzept etablieren, das in einer öffentlichen Diskussion um die Chancen des demografischen Wandels mündet.
Veränderung sichtbar machen
Das Projekt „YES“ wurde im Sommer 2014 ins Leben gerufen, gemeinsam mit Vertretern der Fachbereiche, dem Betriebsrat sowie Partnern aus der Wissenschaft wurden Arbeitspakete geschnürt und Inhalte erarbeitet. Die Anforderung an alle Maßnahmen: Nachhaltigkeit. Der Veränderungsprozess im Unternehmen sollte Bestandteil der täglichen Arbeit und somit Bestandteil der Unternehmenskultur werden. Die ersten Meilensteine folgten weniger als ein Jahr später: Die ersten Prototypen-Workshops für den sogenannten Demografiespiegel starteten im Betriebsmittelbau des Mercedes-Benz-Werk Sindelfingen und in den Montagen des Mercedes-Benz-Werk Bremen. Ziel des Demografiespiegels ist es, Arbeitsstrukturen nachhaltig demografiegerecht zu gestalten, weit über das übliche Betriebliche Gesundheitsmanagement hinaus. Anhand von mehr als 20 Kriterien und in mehrtägigen Workshops mit Beteiligung auf allen Ebenen macht er die demografische Fitness jeder Abteilung sichtbar. Das Vorgehen: Ziele definieren, handfeste Maßnahmen umsetzen und in regelmäßigen Review-Workshops weiterentwickeln. Zusammen mit dem wissenschaftlichen Partner, der RWTH Aachen, wird diese Methode seit 2015 mit großem Erfolg angewendet. Seit April 2016 unterstützen zudem vier eigens qualifizierte Demografiemanager deutschlandweit in der Planung und Umsetzung. Bis dato wurden im Rahmen des Demografiespiegels 22 Workshops durchgeführt, insgesamt 500 Personen aus der Produktion involviert und 210 Maßnahmen für die Belegschaft abgeleitet.
Ein weiteres Highlight in diesem Zusammenhang ist die Gründung der „YES“-Markenbotschafter-Community im Sommer 2016. Engagierte Kollegen aus HR und den Fachbereichen sowie überzeugte Mitglieder des Betriebsrates der größten deutschen PKW-Produktionsstandorte (Berlin, Bremen, Gaggenau, Rastatt, Sindelfingen, Untertürkheim) transportieren die Botschaft von YES in das Unternehmen. Das Ziel: Vernetzung, Etablierung in Werks- und Regelkommunikation sowie standortübergreifendes Best Practice Sharing.
Der Demografiespiegel ist jedoch nur einer von insgesamt drei „YES“-Bausteinen. Um das Ziel des Wandels im gesamten Unternehmen zu realisieren und auch über die Konzerngrenzen hinaus Wirksamkeit zu erreichen, bilden zwei weitere Bausteine die Basis des Projektes. So wurde zur Sensibilisierung der Führungskräfte in Zusammenarbeit mit der Jacobs University Bremen das Leadership-Programm „Mensch im Mittelpunkt: YES!“ entwickelt, an dem mittlerweile mehr als 2500 Führungskräfte teilgenommen haben. Es geht darum, eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen anzuregen, Potenziale in jedem Alter zu erkennen und altersgemischte Teams zu fördern. Aufgabe der Führungskräfte ist es, alle Mitarbeiter über das gesamte Arbeitsleben hinweg zu entwickeln.
Die interaktive Wissenschafts- und Erlebnisausstellung „Ey Alter – Du kannst dich mal kennenlernen“ ist der dritte Baustein und sorgt auf kreative Weise für eine Auseinandersetzung mit dem Alter(n). Die öffentliche Ausstellung klärt die wissenschaftlichen Fakten, zeigt die Stärken jeder Generation auf und hilft dabei, gängige Stereotype zu hinterfragen. Bislang erreichte „Ey Alter“ über 350 000 Besucher in Bremen und Stuttgart, gewann viele Fans und wurde von namhaften Institutionen zu Netzwerkveranstaltungen genutzt. In 2018 wird „Ey Alter“ in Berlin zu sehen sein.
Im Mittelpunkt: der Mensch
„YES“ hat das Ziel, den Erfolgsfaktor Mensch für die Zukunft zu stärken. Weniger Trainingsteilnahmen, weniger Beförderungen, häufigere Entlassungen und schlechtere Leistungsbewertungen älterer Arbeitnehmer? Die Ursache solcher Vorurteile liegt in den Köpfen von Vorgesetzten, Kollegen und den Mitarbeitern selbst. Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit wird durch verschiedenste Altersstereotype und Altersbilder geprägt. Dabei zeigt die Wissenschaft eindeutig: Alter hat mit Arbeitsleistung und Kreativität nichts zu tun. Und: Fast alles ist möglich, und zwar immer! Jeder Mensch hat zu jedem Zeitpunkt seines Lebens einen Gestaltungsspielraum, den er nutzen kann, um sein individuelles Alter(n) positiv zu beeinflussen. Diese Erkenntnisse machen den Paradigmenwechsel im Konzern immer wieder durchschlagend erfolgreich. YES initiiert eine Diskussion innerhalb der Daimler AG, aber auch darüber hinaus und regt so auf allen Ebenen des Unternehmens den Abbau von Altersvorurteilen an, gegenüber älteren und jüngeren Mitarbeitern gleichermaßen.
Durch „Ey Alter“ und das Leadership-Programm wurden die wichtigen Entscheidungsträger in allen Produktionsstandorten bei Mercedes-Benz Cars Operations sensibilisiert. Der Demografiespiegel wirkt als Transformator dieses „Mindsets“ in die Produktionshallen. Er erfasst die Maßnahmen des Demografiemanagements sowohl quantitativ als auch qualitativ mit dem Ziel, die Situation der Belegschaft zu verbessern. Über alle Standorte hinweg sind Maßnahmen zu den Handlungsfeldern „Ressourcen steuern“, „Mitarbeiter gewinnen und binden“, „Mitarbeiter arbeitsfähig halten“ und „Know-how teilen und sichern“ definiert worden. Durch die „Review-Workshops“ innerhalb des über zwölf Monate angelegten Demografiespiegel-Prozesses kann die Verbesserung in den Dimensionen messbar nachgewiesen werden und die Transparenz in diesen Themen wird auf ein neues Niveau gehoben. Durch die von Führungskräften und Betriebsräten definierten Maßnahmen wird die Philosophie von „YES“ in das Unternehmen getragen und der Nutzen am Shopfloor verankert.
Auf einer ganz praktischen Ebene ist es so gelungen, dass die Vertreter unterschiedlicher Disziplinen gemeinsam Fragestellungen entwickeln, welche die Bedürfnisse und Motivationen aller Mitarbeiter berücksichtigen. In der Vergangenheit beispielsweise gab es oft Forderungen nach „Schon-Arbeitsplätzen“ für Mitarbeiter mit Einsatzeinschränkungen. Heute formuliert „YES“ auch Fragen des Demografie- und Gesundheitsmanagements proaktiv: Welche Ergonomie muss die Produktionsplanung beinhalten, damit junge und ältere Menschen gesund zusammen arbeiten können? Wie kann Verantwortung für die eigene Gesundheit der Mitarbeiter gestärkt werden? Aber auch: Wie kann man das Wissen der erfahrenen Kollegen im Unternehmen halten und wie geben die Jungen ihr Wissen an die Älteren weiter? „YES“ gibt nachhaltige Antworten.
Der Veränderungsprozess im Unternehmen sollte Bestandteil der täglichen Arbeit und somit Bestandteil der Unternehmenskultur werden.
Gemeinsam und interdisziplinär
Damit ein solches Vorhaben gelingen kann, braucht es mehr als einen guten Gedanken und ein paar begeisterte Umsetzer. „YES“ konnte gelingen, weil Vertreter aus dem Business und HR standortübergreifend zusammenarbeiteten und weil die entwickelten Ideen mit wissenschaftlicher und gestalterischer Begleitung zu den genannten Bausteinen geformt wurden. Darüber hinaus braucht es aber vor allem eines: Durchhaltevermögen. In der Entstehungsphase arbeiteten Mitarbeiter vollumfänglich im Projekt. Ergänzt wurde dieses Projektteam durch zeitweise Abstellungen aus dem Business und Vertreter der HR-Organisation aus Sindelfingen, Untertürkheim und Rastatt. Die wissenschaftliche Begleitung erfolgte durch die Jacobs University Bremen („Ey Alter“) sowie die RWTH Aachen (Demografiespiegel). Getragen aber wird „YES“ zu einem sehr großen Teil durch die Mitarbeiter selbst, nicht zuletzt in Form der „YES“-Markenbotschafter-Community.

Flankiert von den Moderatoren, nahmen Gerd Hens, Britta Deux, Frank Weber, Barbara Dengel, Sylvia Hütte-Ritterbusch und Torben Andrasch (v.l.n.r.) den Preis in der Kategorie BGM von Dr. Sabine Voermans (TK, 2. v.r.) entgegen.
Innovation, Integration, Nachhaltigkeit
Seit Projektbeginn haben wir viel gelernt, als Unternehmen, als Beteiligte, Mitmacher oder Besucher der Ausstellung. Die wichtigsten Erkenntnisse?
1) Sei innovativ von Anfang an: Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für YES. Der gewählte Design-Thinking-Ansatz ebnete den Weg zu einer, innerhalb der Daimler-Welt, neuartigen Arbeitsweise und einer neuen Form der Kooperation.
2) Integriere die Zielgruppe. Die Einbindung von Vertretern des Business Partners in der Produktentstehung war und ist ein echter Mehrwert. „YES“ wird der HR-Organisation nicht exklusiv zugeordnet. Heute sind es die Botschafter aus den unterschiedlichen Produktionsdirektionen, die den Paradigmenwechsel in den gesamten Konzern tragen.
3) Gestalte den Prozess nachhaltig: Wie kann es gelingen, dass sich die Fachbereiche auch mittel- und langfristig mit dem demografischen Wandel, Altersvorurteilen und den Vorteilen altersgemischter Teams auseinandersetzen? Der Kulturwandel ist ein langfristig angelegter Prozess. Unterstützung findet dieser durch die von den Mitarbeitern festgelegten Maßnahmen, die im Demografiespiegel für die nächsten ein bis drei Jahre definiert werden. Nachhaltigkeit entsteht auch durch eine konsequente organisatorische Verankerung: Demografiemanager, Umsetzung der Maßnahmen aus dem Demografiespiegel und standortübergreifender Austausch von Best Practices. Nach drei Jahren lässt sich resümieren: Die entwickelten Bausteine wirken – und zwar sehr erfolgreich. Sie greifen wie Zahnräder eines Getriebes ineinander und schaffen echten Mehrwert. In der Führungsriege, in den Arbeitsstrukturen der Produktion und in den Köpfen der Belegschaft. YES ist der vermutlich umfassendste, mit Sicherheit aber innovativste Ansatz zur Gestaltung des demografischen Wandels, den es in der deutschen Industrie bisher gegeben hat. Ein Projekt, das erstmals eine positive Diskussion rund um das Thema Alter anstößt, Erfahrung, Potenzial und Erfolge in den Mittelpunkt rückt. So wird aus einem vermeintlichen Problem eine Herausforderung, die Spaß und zukunftsfähig macht.
Autor
Heino Niederhausen, Projektleiter der Demografie-Initiative YES, Personalleiter, Mercedes-Benz-Werk Bremen,
heino.niederhausen@daimler.com
Das Siegerprojekt im Überblick
Das Unternehmen:
Die Daimler AG setzte im Jahr 2016 mit insgesamt 282 488 Mitarbeitern rund drei Millionen Fahrzeuge ab. Der Umsatz lag bei 153,3 Milliarden Euro, das EBIT betrug 12,9 Milliarden Euro.
Das Projekt:
Die Initiative „YES – Young and Experienced together Successful“ besteht aus drei Bausteinen. Der erste ist ein Führungskräfteprogramm, bei dem es darum geht, eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen anzuregen, Potenziale in jedem Alter zu erkennen und altersgemischte Teams zu fördern. Mehr als 2400 Führungskräfte haben die zugehörige Veranstaltung bereits besucht. Zweiter Baustein ist der Demografiespiegel. Anhand von mehr als 20 Kriterien, ergänzt um mehrtägige Workshops mit Beteiligung auf allen Ebenen, macht er die demografische Fitness jeder Abteilung sichtbar, auch auf dem Shopfloor.
Der dritte Baustein von YES ist die interaktive Wissenschafts- und Erlebnisausstellung „Ey Alter – Du kannst dich mal kennenlernen“. Die Ausstellung klärt die wissenschaftlichen Fakten, zeigt die Stärken jeder Generation auf und hilft dabei, gängige Stereotype zu hinterfragen.
Weitere Informationen finden Sie unter www.eyalter.com
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