Ausgabe 12 - 2012
Gestern Abstellgleis, heute Überholspur
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels gerät langsam eine Mitarbeitergruppe in den Fokus, die sich bisher oft im personalpolitischen Niemandsland bewegte. Unternehmen erkennen zunehmend, dass sie den über 45-Jährigen neue und andersartige Karriere- und Qualifizierungsmöglichkeiten bieten müssen.
Es hat durchaus etwas Bedrohliches an sich, wie sich die Welle der Baby-Boomer von Jahr zu Jahr über die interaktive Bevölkerungspyramide schiebt. Das animierte Zahlenmaterial auf der Website des Statistischen Bundesamts zeigt etwa, dass 2040 bereits 32 Prozent der Bevölkerung Deutschlands älter als 65 Jahre sein wird. Folgen hat die prognostizierte demografische Entwicklung bekanntlich nicht nur für die Sozialsysteme – auch Unternehmen stehen vor immensen Herausforderungen. „Die meisten größeren Unternehmen haben mittlerweile Altersstrukturanalysen gemacht. Wenn man schwarz auf weiß hat, welchen Altersdurchschnitt die Belegschaft schon in zehn Jahren haben wird, dann ergibt sich die Handlungsbereitschaft automatisch“, beobachtet Professorin Dr. Jutta Rump vom Institut für Beschäftigung und Employability der FH Ludwigshafen.
Demografiefest mit dem Triple-R
Bestes Beispiel ist die Deutsche Bahn AG. Deren Belegschaft hat einen Altersschnitt von 46 Jahren, wobei 43 Prozent 50 Jahre und älter sind. Zusammen mit der normalen Fluktuation führt dies dazu, dass der Konzern in Deutschland in den kommenden zehn Jahren rund 80 000 Mitarbeiter ersetzen muss. „Wir wissen, dass es mit der Rekrutierung von bis zu 7000 Mitarbeitern pro Jahr nicht getan ist. Deshalb haben wir verschiedene Projekte aufgesetzt, die auf eine längere Beschäftigungsfähigkeit unserer Mitarbeiter abzielen“, beschreibt Sigrid Heudorf, Leiterin Beschäftigungsbedingungen und Sozialpolitik beim Mobilitäts- und Logistikkonzern, den Handlungsbedarf.
Für Rudolf Kast, Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Initiative „Das Demographie Netzwerk“ (ddn), der richtige Weg: „Wir können an den Geburtenraten der vergangenen Jahrzehnte nichts mehr ändern. Umso wichtiger ist es, dass wir die vielen ungenutzten Potenziale der heutigen Erwerbsbevölkerung besser ausschöpfen. Gelingt uns das nicht, haben wir am Standort Deutschland ein Problem.“ Was für ihn die wichtigsten Handlungsfelder sind, erläutert Kast so: „Die Bonität von börsennotierten Unternehmen wird mit dem Triple-A System bewertet. Bei der Demografiefestigkeit ist es das vom Institut der deutschen Wirtschaft vorgeschlagene Triple-R aus Recruiting, Retention und Retirement.“ Für die Top-Bewertung in diesem Bereich müssten deutsche Unternehmen noch einiges tun, analysiert der Demografie-Fachmann: weitaus häufiger auch erfahrenere Mitarbeiter einstellen, sich mehr um ihre Motivation und Bindung kümmern und clevere Strategien für den Ausstieg aus dem Erwerbsleben entwerfen.
Die Assets in den Vordergrund
Dass Unternehmen tatsächlich langsam beginnen, ihre Hemmschwellen gegenüber Bewerbern mittleren Alters abzubauen, beobachtet Katharina Priess, Senior Consultant bei der Personal- und HR-Beratung Mercuri Urval Germany. „Die Nachfrage nach Kandidaten aus der Altersgruppe 45plus wächst vor allem aufgrund des demografischen Wandels zur Zeit spürbar.“ Dennoch, so ihre Beobachtung, schätzen viele Personaler die Motive dieser Bewerbergruppe weiterhin falsch ein. „In Personalabteilungen herrscht beispielsweise oftmals die Sorge, Bewerber 45plus würden sich nur mit einer Führungsposition zufrieden geben. Das ist nicht der Fall. Vielen kommt es vor allem darauf an, sich mit ihrer Erfahrung fachlich einbringen zu können“, stellt Priess klar. Ähnliche Motive beobachtet auch Jutta Rump: „Personalarbeit für erfahrene Mitarbeiter sollte im Auge haben, dass diese nicht mehr bereit sind, ein Rädchen im Getriebe zu sein. Sie interessieren sich sehr für den Kontext ihrer Arbeit und wollen ihr Erfahrungswissen einbringen können.“
In den Augen von Rudolf Kast wiederum herrscht bezüglich altgedienter Mitarbeiter immer noch eine defizitorientierte Sichtweise. „Die Assets älterer Mitarbeiter müssen noch mehr im Unternehmen bewusst gemacht werden – etwa das höhere Qualitätsbewusstsein, das bessere Urteilsvermögen, die unverminderte Lernfähigkeit und das ausgeprägtere Wissen über Prozesse und Abläufe“, so der Demografie-Experte.
Die mancherorts hartnäckige Geringschätzung schon von Arbeitnehmern ab Ende 40 hat nach Ansicht von Mercuri Urval-Expertin Priess sowohl politische als auch gesellschaftliche Gründe. „Eine Zeit lang wurde die Frühverrentung von der Politik unterstützt, unter anderem um jungen Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Gleichzeitig entwickelten sich in der Gesellschaft Vorurteile gegen ältere Mitarbeiter, die leider auch in der Recruiting-Praxis zu beobachten waren. Heute sind Unternehmen quasi unter Druck dazu gezwungen, einen personalpolitischen U-Turn hinzulegen.“
Mit Vorurteilen aufräumen
Diesem Druck begegnet die Deutsche Bahn AG, die bis vor nicht allzu langer Zeit als Sanierungsfall galt und ihre Belegschaft auch durch Frühverrentungen verkleinerte, heute unter anderem mit lebensphasenorientierter Personalarbeit. „Wir merken: Es gibt bei unseren Mitarbeitern ein wachsendes Bedürfnis nach Individualisierung – auch im Zusammenhang mit Arbeitszeiten“, sagt Sigrid Heudorf. Häufige Gründe seien die Pflege von Angehörigen oder aber der Wunsch älterer Mitarbeiter, aus Gesundheitsgründen weniger häufig in Nachtschichten zu arbeiten. Seit 2009 prüft die DB gemeinsam mit Mitarbeitern und Betriebsräten in deutschlandweit 100 betrieblichen Arbeitszeitprojekten, wie solche Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen sind. Über den Aspekt Lebensphasenorientierung verhandelt der Konzern zudem in diesen Tagen mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im Zusammenhang mit einem neuen „Zukunftstarifvertrag“.
Speziell für die Zielgruppe der Mitarbeiter 45plus konzipiert ist ein Pilotprojekt, das die Deutsche Bahn gerade in Kooperation mit Professor Dr. Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg durchführt: CLARA (Clever und aktiv in Richtung Alter). Das am DB Regio-Standort Bremen durchgeführte Projekt für zunächst 45 Mitarbeiter (Altersschnitt 50 Jahre) besteht aus drei Phasen: Im Modul „Gesundheitsrelevante Informationen“ wird ein Gesundheitscheck durchgeführt und Wissen zu Risikofaktoren, Ernährung und Stress vermittelt. Das Modul „Sportmotorisches Training“ zielt auf die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit ab. Und im Modul „Kognitives Training“ verbessern die Mitarbeiter unter anderem ihre Informationsverarbeitungsfähigkeit und das Arbeitsgedächtnis. Alles in allem soll das Programm aber den Mitarbeitern auch ihre Stärken bewusst machen. „Wir wollen mit falschen Vorstellungen aufräumen, was die Kompetenz und Lernfähigkeit berufserfahrener Mitarbeiter angeht“, sagt Sigrid Heudorf. „Und dabei geben uns die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse Recht. Mitarbeiter werden keinesfalls unproduktiver mit dem Alter. Im Gegenteil: Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit und Gelassenheit nehmen sogar noch zu.“ Das sei auch der Grund, warum man bei der Bahn nicht nur unglücklich über den hohen Altersdurchschnitt sei. Gerade in sicherheitsrelevanten Bereichen, von denen es bei der Bahn viele gebe, seien besagte Kompetenzen unabdingbar.
Mehr Weiterbildung für Ältere
Nach Meinung der Wissenschaftlerin Rump basiert eine demografiefeste Personalarbeit idealerweise auf einem Dreieck aus Kompetenzen/Qualifikationen, Motivation/Identifikation und Gesundheit/Wohlbefinden: „Aktuell wird in Unternehmen erfreulicherweise sehr viel auf dem Feld der betrieblichen Gesundheitsförderung getan. Allerdings sollten sie auch die Kompetenzentwicklung nicht vernachlässigen – gerade bei Wissensarbeitern.“ Hierbei gelte es jedoch, bestimmte Weiterbildungspräferenzen älterer Arbeitnehmer zu beachten: „Es kommt auf eine konsequente Verzahnung der Lerninhalte mit dem Unternehmen und dem Arbeitsplatz an. Ältere lernen nicht mehr gerne auf Vorrat, bevorzugen anwendungsorientiertes Wissen. Und: Mit zunehmendem Alter wird man intoleranter gegenüber schlechter Weiterbildung. Hier liegt sogar ein potenzieller Demotivationsfaktor.“ In die gleiche Kerbe schlägt ddn-Mann Kast: „Unternehmen müssen sich noch proaktiver an Modellen des lebenslangen Lernens orientieren. Es gilt, intelligente Förderkonzepte und Anreize zu schaffen, die Spaß an der Weiterentwicklung vermitteln.“ Beispiele seien der Ausbau von Wissensvermittlung am Arbeitsplatz und Mentoren-Programme, in denen Jung von Alt, aber auch Alt von Jung lernen könnten.
Berufswechsel mit 55
Der Aufwand, den Unternehmen für die Personalentwicklung betreiben werden, da sind sich die Experten einig, wird in Zukunft sogar noch viel größer werden. Sigrid Heudorf ist beispielsweise davon überzeugt, dass Unternehmen in Zukunft verstärkt dazu übergehen, Mitarbeitern in körperlich belastenden Tätigkeiten rechtzeitig alternative berufliche Perspektiven zu eröffnen. „Wir machen bereits heute bei Mitarbeitern, die von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen sind, einen Abgleich zwischen Jobprofilen und Fähigkeitsprofilen, um sie gegebenenfalls in andere Berufsbilder zu entwickeln.“ Die Notwendigkeit dazu sieht auch Rudolf Kast. „Was wir vermehrt brauchen, sind die sogenannten Second Careers. Dafür müssen Karrierewege in Unternehmen durchlässiger werden und sich mehr am Potenzial ausrichten“, fordert der ehemalige Personalchef der Sick AG die Bereitschaft von Unternehmen, berufliche Neuanfänge zu ermöglichen. Über „Second Careers“ könnten nicht nur Fachkräftelücken geschlossen, sondern auch Perspektiven für Menschen in körperlich anstrengen Berufen geschaffen werden. Beispiele sind für Kast der Schornsteinfeger oder der Installationsmechaniker, die aufgrund ihrer technischen Fachkenntnisse im höheren Lebensalter im Facility-Management tätig werden können und der Außendienstler, der auch gut in der Back-Office-Unterstützung eingesetzt werden kann.
Damit nicht genug. In Zukunft werden sich auch aufgrund eines allgemeinen Mentalitätswandels radikale berufliche Neuorientierungen häufen, ist sich Jutta Rump sicher: „Feste Berufslaufbahnen über 40/50 Jahre wird es nicht mehr geben. Stattdessen wird es normal sein, sich in regelmäßigen Abständen von zehn bis fünfzehn Jahren ganz neue Berufsfelder zu erschließen. Das gilt dann selbstverständlich auch noch für 55-Jährige.“ Wer weiß? So unwahrscheinlich ist es nicht, dass sich bald auch 50-Jährige von ihrem Arbeitgeber noch einmal ein Studium finanzieren lassen. Oder sich noch weitaus öfter als heute selbstständig machen – wie eben Rudolf Kast, der als langjähriger Personalchef der Sick AG mit 58 eine HR-Beratung gründete.
Kast ließ denn auch keinen Zweifel daran, dass die durchschnittliche Lebensarbeitszeit trotz kürzlich wiederbelebter Diskussion um die Rente mit 67 zunehmen wird. „Jeder einzelne Beschäftige muss sich darauf einstellen, dass er länger arbeiten muss – schon aus finanziellen Gründen.“ Damit dies auch bis zum 67. Lebensjahr und möglicherweise darüber hinaus funktioniere, bedürfe es gesunder Arbeitsbedingungen. „Dazu gehört für mich neben der Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz, dass in das Arbeitsleben Pausen integriert werden.“ Seine Forderung: Auszeiten wie Sabbaticals sollten schon für jüngere Arbeitnehmer möglich sein. Um später nach hinten raus mehr Energie zu haben.
Autor
Alexander Kolberg
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