Ausgabe 12 - 2012
Rückkehr in den Job individuell begleiten
Das DGB Bildungswerk Bund e.V. untersucht gegenwärtig in vier Großbetrieben, inwieweit sich die Strukturen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) optimieren lassen und ob ein spezielles Arbeitsfähigkeitscoaching für BEM-Berechtigte geeignet ist, die Prozessabläufe effizienter und wirksamer zu gestalten.
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) hat sich in den meisten Großbetrieben zu einem regulären Angebot für langzeit- oder mehrfach erkrankte Mitarbeiter entwickelt. Der Bedarf ist oft größer als zunächst vermutet. Er wird angesichts des steigenden Beschäftigtenalters tendenziell zunehmen. Noch weitgehend ungeklärt sind jedoch Fragen zur Qualität der Umsetzung. Das Projekt „Neue Wege im BEM – Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit wiederherstellen, erhalten und fördern“ vom DGB, welches noch bis März 2013 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie aus Mitteln des Ausgleichfonds gefördert wird, soll hier weiterhelfen. Im Fokus steht die individuelle Begleitung durch ein Arbeitsfähigkeitscoaching.
Das Arbeitsfähigkeitscoaching
Das Arbeitsfähigkeitscoaching für BEMberechtigte Mitarbeiter orientiert sich an dem „Haus der Arbeitsfähigkeit“ nach Professor Juhani Ilmarinen, Finnland. Der Begriff „Arbeitsfähigkeit“ meint dabei mehr als den individuellen Gesundheitsstatus des Beschäftigten. Er schließt die Kompetenzen und Qualifikationen, die Werte, Motivation und Einstellung zur Arbeit sowie die Anforderungen, die Arbeitsumgebung und das Führungsverhalten mit ein. Darüber hinaus berücksichtigt er die Bedeutung familiärer, sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Dies ermöglicht eine ganzheitliche Herangehensweise im BEM-Prozess – von der Analyse der Ursachen für die Arbeitsunfähigkeit bis zur Entwicklung geeigneter Maßnahmen mit nachhaltigem Erfolg.
DGB-Projektleiterin Marianne Giesert und ihr Team verstehen das Arbeitsfähigkeitscoaching als zusätzliches Angebot für die Beschäftigten und als Strukturierungshilfe für den BEM-Prozess: „Das Arbeitsfähigkeitscoaching soll die Mitarbeiter bei der Wahrnehmung ihrer Rechte im BEM stärken.“ Im Projekt wählen die Beschäftigten, die sich für ein BEM entschieden haben, ob sie das herkömmliche BEM oder einen Arbeitsfähigkeitscoach zur Seite haben möchten. Entscheiden sie sich für ein Coaching, so geht es im Kern um die Fragen: Was kann ich tun? Was kann das Unternehmen für mich tun, damit sich mein Gesundheitsstatus verbessert, meine Kompetenzen erweitert beziehungsweise eingesetzt werden können, damit meine innere Haltung zur Arbeit gestärkt wird und damit Arbeitsbedingungen und Führung so gestaltet sind, dass sie meine Arbeitsfähigkeit wiederherstellen, erhalten und fördern.
Stärker als das normale BEM, das sich ausschließlich auf die Maßnahmen zur Eingliederung konzentriert, bringt das Arbeitsfähigkeitscoaching den primärpräventiven Charakter des BEM zum Ausdruck und kommt damit dem gesetzlichen Auftrag nach, die Ursachen der Arbeitsunfähigkeit kenntlich zu machen und Lösungsansätze zu entwickeln.
Der Arbeitsfähigkeitscoach begleitet den Beschäftigten durch den BEM-Prozess. Er strukturiert den Ablauf und koordiniert die erforderlichen Teilschritte und Gespräche. Er ist ein fester Ansprechpartner für den BEM-Berechtigten und entlastet damit den BEM-Beauftragten und die Mitglieder des BEM-Teams, die andernfalls zuständig wären. Idealerweise ermöglicht das Arbeitsfähigkeitscoaching daher eine effiziente, ressourcensparende und zielorientierte Umsetzung des BEM. Es verläuft in acht Schritten und kann sich je nach Fall über einen Zeitraum von mehreren Monaten erstrecken. Den Rahmen bilden Gespräche mit dem BEM-Team, die den Prozess formal einleiten und abschließen (siehe Infokasten).
Ablauf eines Arbeitsfähigkeitscoachings in acht Schritten
- 1.
Erstgespräch zwischen Arbeitsfähigkeitscoach und BEM-Berechtigtem mit Coaching-Vertrag und Datenschutzerklärung
- 2.
Analyse der Arbeitsfähigkeit entlang der Leitfragen zur Arbeitsfähigkeit mit Berücksichtigung von Ergebnissen der Gefährdungsbeurteilung, Arbeitsplatzbegehungen und anderen Erhebungen
- 3.
Gespräch über die Analyseergebnisse mit dem BEM-Berechtigten
- 4.
Maßnahmenplanung mit dem BEM-Berechtigten
- 5.
Maßnahmenworkshop mit allen Beteiligten
- 6.
Koordination und Umsetzung der Maßnahmen
- 7.
Begleitende Gespräche und Monitoring der Umsetzung
- 8.
Abschlussgespräch zwischen Arbeitsfähigkeitscoach und BEM-Berechtigten
Ausbildung mit Supervision
Als Arbeitsfähigkeitscoach eignen sich primär die Mitglieder der BEM-Teams, wobei ihre Kompetenzen in der Gesprächsführung und Moderation sowie ihr Wissen über Gesundheitsmanagement und Arbeitsfähigkeit unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Das Projektteam vom DGB Bildungswerk bietet daher eine Qualifizierung zum Arbeitsfähigkeitscoach an. Sie startet mit einer zweitägigen Grundausbildung zu den theoretischen Grundlagen und dem Prozess des Coachings, eine Ausweitung ist geplant. Die Ausbildung beinhaltet, dass die Teilnehmer mit verteilten Rollen Beratungssituationen durchspielen, um Sicherheit in der für sie neuen Aufgabe zu erlangen. „Der Erfolg des Projektes hängt stark davon ab, mit welcher Qualität die Beratung in den Betrieben umgesetzt wird“, sagt Norbert Breutmann von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und Mitglied des elfköpfigen Projektbeirats: „Mir wäre eine Hospitation sehr wichtig, bei der man einen Fall direkt begleitet, Erfahrungen austauscht und aus ihnen lernen kann. So könnte man die Ausbildung für diejenigen verbessern, die diese hochsensible Tätigkeit in den Betrieben durchführen.“ Aus Sicht des Projektteams ist noch ungewiss, ob sich dies realisieren lässt. Denn es müssten sowohl die Betriebe als auch die BEM-Berechtigten zustimmen. Ferner fehlen bislang Praxiserfahrungen, in denen dieses erprobt worden wäre.
Das Haus der Arbeitsfähigkeit

Die Führungskräfte und betrieblichen Interessenvertreter von HSP erarbeiteten ihr eigenes „Haus der Arbeitsfähigkeit“, indem sie Kernaussagen zu den vier Etagen Gesundheit, Kompetenz, Werte sowie Führung und Arbeitsbedingungen formulierten.
Bislang sind 32 Akteure aus den vier am Projekt beteiligten Großbetrieben an vier Terminen geschult worden. Gegenwärtig findet die Praxisphase statt, in der die angehenden Arbeitsfähigkeitscoachs ihren Fall begleiten. Diese Phase dauert etwa vier bis sechs Monate, je nach Situation des BEM-Berechtigten. Sie wird vom Projektteam durch persönliche Gespräche und eine Gruppenreflexion nach zwei Monaten begleitet und schließt nochmals mit einer Supervision für den Arbeitsfähigkeitscoach ab. Zum Ende der Ausbildung erhalten die Teilnehmer ein Zertifikat. Die Re-Zertifizierung setzt voraus, dass die Teilnehmer einmal jährlich eine eintägige Weiterbildung besuchen, die ihrem persönlichen Weiterbildungsbedarf entspricht.
Praxisbeispiel: Hoesch Spundwand und Profil GmbH
Die Dortmunder Hoesch Spundwand und Profil GmbH (HSP), ein Unternehmen der Salzgitter AG mit knapp 500 Beschäftigten, davon 318 gewerblich Tätige, 106 Angestellte, 23 Auszubildende und 43 Leiharbeiter, ist eines der vier Betriebe, die das Arbeitsfähigkeitscoaching in der Praxis erproben. Die Initiative hierzu ergriffen Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung. Den Ausschlag gab der Ansatz, neue Wege im BEM zu erproben und damit die bisherigen Personalgespräche abzulösen, die disziplinarisch statt präventiv ausgerichtet waren. Handlungsbedarf besteht unter anderem, weil 2025 etwa jeder dritte Beschäftigte bei HSP älter als 55 Jahre sein wird. Der hohe Anteil älterer Beschäftigter ist typisch für die Stahlindustrie, wo Sozialpläne lange Zeit einen vorzeitigen Ruhestand ermöglicht hatten, so dass die Notwendigkeit einer alter(n)sgerechten Personalentwicklung erst relativ spät erkannt wurde.
Im April 2010 startete das Projekt in Dortmund mit einer Ist-Analyse zur Situation des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, speziell des BEM. Dies war zunächst die Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung. In der Folge bildete sich ein festes BEM-Kernteam heraus, dem darüber hinaus je ein Vertreter der Personalabteilung und des Betriebsrats angehören. Eine Betriebsvereinbarung zum BEM liegt seit September 2010 vor.
Das Projekt hat zusätzlich dazu beigetragen, die Rollen zu klären, die betriebliche Akteure im BEM einnehmen; denn Missverständnisse sind vorprogrammiert, wenn Erwartungen und Verantwortungsbereiche auseinanderdriften. Inzwischen trifft sich das BEM-Team halbjährlich mit seinen internen und externen Kooperationspartnern wie Arbeitssicherheit, Betriebskrankenkasse, Berufsgenossenschaft, IG Metall, Rentenversicherung, Agentur für Arbeit, Berufsförderungswerk, Integrationsfachdienste und Integrationsamt des LWL, Betriebsärztlicher Dienst und Sozialservice der Thyssen Krupp Steel (historische Kooperation), um gesundheitsrelevante Maßnahmen zu planen. Hierzu zählt auch die Mitwirkung an den traditionellen Gesundheitstagen bei HSP, die primär auf den Arbeitsschutz und die Sicherheit ausgerichtet sind.
Haus der Arbeitsfähigkeit
Die Umsetzung des BEM gewinnt durch das Arbeitsfähigkeitscoaching eine neue Gestalt, was sich auf allen Ebenen niederschlägt. In einem Workshop erstellten die Führungskräfte – vom Meister bis zur Betriebsleitung – sowie die betrieblichen Interessenvertreter ihr eigenes „Haus der Arbeitsfähigkeit“, indem sie Kernaussagen zu den vier Etagen Gesundheit, Kompetenz, Werte sowie Führung und Arbeitsbedingungen formulierten (siehe Abbildung auf Seite 29). Das Grundverständnis, das sich hierdurch bei den Beteiligten entwickelt hat, bildet die Basis, um das Konzept des Arbeitsfähigkeitscoachings im Betrieb zu festigen und Gesundheitsthemen ansprechen zu können. „Gerade in einem Stahlbetrieb gehen viele auf Distanz, wenn es um gesundheitliche Probleme geht“, sagt Betriebsrat Klaus Frerichs.
Vier Betriebsratsmitglieder und ein Schwerbehindertenvertreter haben inzwischen ihre Ausbildung zum Arbeitsfähigkeitscoach begonnen. Neben der Vermittlung von theoretischen Grundlagen galt es, die Aufgaben des Arbeitsfähigkeitscoachs zu klären und Handlungssicherheit in der Rolle als Begleiter zu erwerben. Zusätzlich fand eine Schulung vor Ort statt. Die Erfahrungen aus den drei anderen Betrieben bestätigen, dass ein dritter Tag hilfreich ist, um die Ausbildungsinhalte trainieren und reflektieren zu können.
Das Arbeitsfähigkeitscoaching bei HSP, so ist zu erwarten, richtet sich primär an die schweren Fälle. Die Betriebsräte vermuten weiter: „Manche werden nicht teilnehmen wollen, bei anderen wird es nicht erforderlich sein.“ Die ersten Anfragen wegen des Coachings lassen aber auf Interesse schließen. Im Zuge der Konzeptentwicklung führt das DGB-Bildungswerk seit März 2011 bereits drei Arbeitsfähigkeitscoachings bei HSP durch. Im Oktober 2012 beginnen die angehenden Arbeitsfähigkeitscoachs die Praxisphase ihrer Ausbildung, nachdem der neue Ansatz nochmals vom Projektteam im Rahmen einer Betriebsversammlung vorgestellt worden ist.
Persönliche Begleitung gibt Vertrauen
Die interne Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig. Betriebsratsmitglied Frerichs nimmt eine wachsende Ernsthaftigkeit wahr, die dem BEM im Betrieb entgegengebracht wird. „Das Coaching ist eine Art Werkzeug, um den Betroffenen besser helfen zu können und dem BEM mehr Nachdruck zu verleihen. Es wird leichter die beteiligten Akteure im Betrieb zusammenzubringen.“
Peter Nunhofer, Mitglied des BEM-Teams bei HSP, geht davon aus, dass das Arbeitsfähigkeitscoaching eine Hilfestellung für Kollegen in Konfliktsituationen sein wird: „Psychische Probleme spielen eine große Rolle, aber häufig erfolgt eine Krankschreibung aufgrund anderer Krankheiten. Viele scheuen sich Sozialdienste aufzusuchen. Die Begleitung durch einen Arbeitsfähigkeitscoach kann hier sinnvoll sein.“ Ein erfolgreiches BEM setzt Vertrauen voraus, welches aufgebaut werden muss. Im Einzelgespräch ist dies oft leichter möglich als im Gespräch mit einer Gruppe. Die persönliche Begleitung stützt den BEM-Berechtigten und entlastet das BEM-Team. Derzeit betreut das Team 26 Fälle, dies sind etwa fünf Prozent der Beschäftigten. Die Unterschiede in und zwischen den Branchen sind hoch. Das Arbeitsfähigkeitscoaching hält BDA-Vertreter Breutmann grundsätzlich für alle Betriebe für praktikabel und nutzbringend: „Probleme zu beheben, die zur Arbeitsunfähigkeit führen, geht nur auf individuelle Weise.“
Die Arbeit als Arbeitsfähigkeitscoach ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Sie erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, Gesprächskompetenz und organisatorischen Fähigkeiten. Eine Herausforderung zeichnet sich bereits heute ab: Sie betrifft die Koordination der Termine für Maßnahmenworkshops. Dies gilt für Schichtbetriebe in besonderem Maße. Zurückhaltend bewertet der Betriebsrat derzeit die empfohlene Dokumentation je Handlungsschritt, da sich diese als zu aufwendig erweisen könnte. Die Praxis werde zeigen, welche Unterlagen sinnvoll sind.
Potenzial liegt in der Prävention. Hoffnung besteht, dass Kollegen das BEM-Team, einen Arbeitsfähigkeitscoach oder eine andere Person ihres Vertrauens künftig direkt ansprechen, wenn sich Probleme der Arbeitsfähigkeit abzeichnen, noch bevor lange Krankheitszeiten entstehen.
Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter: www.neue-wege-im-bem.de
Autorin
Dr. Adelheid Weßling, freie Journalistin, Düsseldorf
- Nichts Neues?
- Gestern Abstellgleis, heute Überholspur
- Best Ager als Azubis
- Jugendwahn und Senioritätsprinzip ade
- Fit und gesund in der Lebensmitte
- Der Arbeitsplatz ist wie ein Turnschuh
- Rückkehr in den Job individuell begleiten
- Freier Kopf für den Job
- Nicht verunsichern lassen
- Das Arbeitnehmervorsorgekonto
- Ist die betriebliche Altersversorgung in Gefahr?
- Die Revolution hat längst begonnen
- Wanted: Flexibel, erfahren, spontan
- Auf eigene Gefahr
- Langfristig ein Gewinn für das HR-Management
- Karriereberatung auf Eigeninitiative
- Der richtige Marktwert
- Eine Lanze für das Alter brechen