Ausgabe 12 - 2012
Karriereberatung auf Eigeninitiative
Führungskraft zu sein ist nicht jedermanns Sache. Der eine weiß, dass er nicht Chef sein will. Der andere ist sich aber nur unsicher, ob er auch das Zeug zur Führung eines Teams hat. Die Gothaer Versicherung bietet ihren Mitarbeitern zur Klärung dieser Frage ein anonymes und webbasiertes Self-Assessment.
An irgendeinem Zeitpunkt während ihrer beruflichen Laufbahn stellen sich viele Mitarbeiter die Fragen: „Wo stehe ich? Wo will ich hin? Habe ich das Zeug zur Führungskraft?“ Manchmal erfordert es bei eigener Unsicherheit Mut, sich mit diesen Themen an Vorgesetzte oder an die HR-Abteilung zu wenden. Mehr Sicherheit kann ein freiwilliger Kompetenz-Check geben. Mitarbeiter können ihre Selbsteinschätzung überprüfen und ihre Motivation reflektieren: „Ist mir überhaupt klar, was es bedeutet, Führungskraft zu sein? Will ich wirklich Führungskraft werden? Kann ich das?“ Je früher sich Mitarbeiter mit den eigenen Stärken und Lernfeldern auseinandersetzen, desto gezielter können die Lernfelder beackert werden.
Der Gothaer Konzern gehört mit über 3,5 Millionen Mitgliedern, Beitragseinnahmen von vier Milliarden Euro und mehr als 5000 Mitarbeitern zu den großen deutschen Versicherungskonzernen. Ende 2010 beauftragte die Gothaer das Bonner Beratungshaus ITB Consulting mit der Entwicklung eines Web Tools: Das neuartige Online-Self-Assessment sollte Mitarbeitern die Möglichkeit eröffnen, sich eigenständig mit diesen Fragen auseinanderzusetzen: anonym und freiwillig.
Wie läuft der Bewerbungsprozess auf eine Führungsposition?
In der jährlichen Leistungs- und Potenzialbeurteilung haben Mitarbeiter und Führungskraft die Möglichkeit, die Vorstellungen über die berufliche Weiterentwicklung abzugleichen: Dort wird das Interesse an der Übernahme einer Führungsposition bekundet. Im Intranet „GoNet“ der Gothaer kann sich der Mitarbeiter vorab über das Thema „Karriere in Führungspositionen“ informieren.
Auch in Orientierungsseminaren wird in Vorträgen und praxisnahen Übungen ausführlich auf die Fragen „Was ist Führung?“, „Wer ist für Führung geeignet?“ und „Möchte ich das?“ eingegangen. Gelegenheit, die eigene Führungskompetenz und die eigene Motivation für die Übernahme einer Führungsposition genauer unter die Lupe zu nehmen, ohne in den Dialog mit dem Vorgesetzten zu gehen, gab es vor Einführung des Online-Self-Assessments nicht.
Durch das neue Self-Assessment sollen das interne Personalmarketing unterstützt und Schlüsselpositionen im Unternehmen gesichert werden. Die dauerhaften und nachhaltigen Investitionen in Beratungsleistungen sind ein Markenzeichen der Gothaer, die an der persönlichen Entwicklung des einzelnen Mitarbeiters interessiert ist. Zudem wurde mit der Implementierung des Self-Assessments auch ein Stück Unternehmenskultur unterstützt: Führung soll keine Blackbox, kein Stein der Weisen sein.
Zu Beginn der Entwicklung des Self-Assessments war der ITB Consulting klar: Die Teilnahme an einem solchen Angebot muss anonym möglich sein. Gesucht wurde ein virtueller Raum, den die Mitarbeiter jederzeit von zu Hause und vom Arbeitsplatz erreichen und vollkommen freiwillig und unerkannt betreten konnten.
Zudem stand für die Verantwortlichen der Gothaer im Vordergrund, das neue Instrument in bestehende PE-Maßnahmen zu integrieren. Es sollte keine Insellösung sein, es sollte mit anderen Instrumenten harmonieren und zum Gothaer-Kompetenzmodell passen. Das Kompetenzmodell hat schon einen hohen Stellenwert und es sollte mit dem Self-Assessment keine Alternative dazu aufgemacht werden. Damit stand ein Produkt aus der Schublade außer Diskussion, eine spezifische Lösung musste entwickelt werden.
Die Entwicklung: Lebensnah und wissenschaftlich fundiert
Das Gothaer-Self-Assessment wurde nicht am Reißbrett entworfen. Wichtig für die Nähe zum Arbeitsalltag in der Gothaer und damit auch für eine hohe Akzeptanz war es, möglichst viele unterschiedliche Perspektiven auf Führung bereits vor der Konzepterstellung zu kennen. Dafür wurden zuerst Gespräche mit Verantwortlichen aus der HR-Abteilung geführt und das Kompetenzmodell ausgewertet. Der mit Abstand wichtigste Part vor der Konzipierung war ein Workshop: In diesem haben Gothaer-Mitarbeiter und Führungskräfte aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen diverse Führungspositionen in der Gothaer beleuchtet, erfolgskritische Eigenschaften von Stelleninhabern erarbeitet und auch Unterschiede in den Anforderungen analysiert.
Im zweiten Schritt wurde die von John C. Flanagan entwickelte „Critical Incident Technique“ verwendet. Dabei wurden möglichst lebensnahe Situationen gesammelt, die erfolgskritisch sind und bei deren Bewältigung sich die Spreu vom Weizen trennt, also die Führungskompetenz sichtbar wird. Nach der Identifizierung dieser kritischen Situationen wurden Verhaltensoptionen erarbeitet: „Wie könnte man in diesen bestimmten Situationen handeln? Was wäre die beste Option? Welche Option wäre weniger hilfreich, die gegebene Herausforderung in den Griff zu bekommen?“
Diese Situationen, zusammen mit den Verhaltensoptionen, stellten die Grundlage für die Self-Assessment-Entwicklung dar. Aus dieser Sammlung wurden durch die ITB Consulting Situationsbeschreibungen und prägnante Handlungsoptionen entwickelt. Über ein Online-Portal wurden nach der Fertigstellung der ersten Entwicklungsversion Experten – derzeitige Führungskräfte der Gothaer – befragt. Damit wurde die Verständlichkeit überprüft, aber auch die festgelegten Antworten bestätigt. Etwa 50 Personen haben diese Forschungsversion durchgearbeitet. Die Ergebnisse, die sich im Rahmen einer fundierten inhaltlichen und statistischen Analyse zeigten, waren sehr erfreulich: Es entstand schließlich die Endversion des Self-Assessments, die kürzer als die Forschungsversion ausfiel und zudem die wichtigen wissenschaftlichen Gütekriterien für Tests und Fragebögen erfüllt.
Das Self-Assessment wurde mit der Software-Lösung „ITB online assessment“, kurz ITB-iona, umgesetzt. Dieses von der ITB Consulting und der Conet Solutions entwickelte Software-System bietet die Grundlage für webbasierte Potenzialanalyseverfahren jeglicher Art. Das umfassende Feedback nach Teilnahme am Self-Assessment wird vom System erstellt.
Der Aufbau: Führungsneigung und Führungskompetenz
Das heutige Self-Assessment besteht aus zwei Bereichen, die unterschiedliche Facetten von Führung beleuchten (siehe Abbildung 1). Erfolgreiche Führungskräfte haben ein starkes Interesse daran, Menschen zu führen und ein Team zu hohen Leistungen zu bringen; sie verlieren sich nur ungern in fachlichen Details.
Abbildung 1
Führungskompetenz und Führungswille

Wer einen ausgeprägten Führungswillen hat, ist noch lange keine kompetente Führungskraft. Das Self-Assessment hilft herauszufinden, ob man als Führungskraft geeignet ist. Es kann eventuelle Defizite in der Führungskompetenz aufzeigen.
Dieser Bereich wird im Self-Assessment Führungsneigung oder Führungswille genannt. Zentrale Fragen dabei sind: „Wie stark interessiere ich mich für Führungsthemen?“, „Ist es für mich spannender, Experte in einem fachlichen Thema zu sein? Reizt mich die Führung von Mitarbeitern wirklich?“
Abbildung 2
Auszug aus dem Self-Assessment

Für die Erstellung des Self-Assessments wurden in einem Workshop möglichst lebensnahe Situationen gesammelt, die erfolgskritisch sind und bei deren Bewältigung die Führungskompetenz sichtbar wird.
Der zweite Bereich beschäftigt sich mit der Führungskompetenz. Grundlage dabei ist das Gothaer-Kompetenzmodell; einzelne Bereiche des Modells werden durch die oben beschriebenen unterschiedlichen Führungssituationen thematisiert. Die beiden genannten Elemente Führungsneigung und Führungskompetenz bilden die Einheit aus „Können“ und „Wollen“. Am Ende des Self-Assessments erhalten die Teilnehmer eine ausführliche Rückmeldung genau zu diesen beiden Bereichen. Dieses Feedback fördert die individuelle Entwicklung – und kann auch eine gute Entscheidungsgrundlage für oder gegen einen Weg in Richtung einer Führungsposition sein. Stellt ein Teilnehmer zum Beispiel fest, dass bei ihm im Bereich Konfliktlösung ein Defizit besteht, kann er im Bildungskatalog nach Angeboten im Bereich soziale Kompetenz suchen und etwa an einer E-Learning-Maßnahme teilnehmen. Nach der Weiterbildung kann er das Self-Assessment dann erneut durchlaufen und den Lernfortschritt feststellen.
Das Ergebnis: Diskussion und Interaktion
Die Einbindung der Führungskräfte in die Entwicklung des Verfahrens hat das Interesse an dem Self-Assessment schon vor seiner Fertigstellung geweckt. Die Freischaltung des Portals wurde über viele Kanäle bekannt gegeben. Führungskräfte der Ebenen eins und zwei wurden per E-Mail informiert. Viele von ihnen stiegen direkt ein und testeten das Tool. Anfangs war das Self-Assessment auf der Startseite des Intranets zu finden; heute gibt es einen direkten Zugang über die Seiten der Personalentwicklung.
„Die Gothaer ist inhaltlich tief in die Materie eingestiegen. Das heutige Tool ist das Ergebnis aus der systematischen Personalentwicklung der Gothaer und der Expertise der ITB Consulting“, resümiert Dr. Martin Schürmann, Senior Consultant bei der ITB Consulting und Teil des Projektteams. Der Aufwand hat sich gelohnt: Insgesamt 5000 Gothaer-Mitarbeiter können auf das System zugreifen. Nach weniger als einem Jahr haben 882 Mitarbeiter das Self-Assessment durchlaufen; 635 Mitarbeiter davon gehörten zur anvisierten Zielgruppe. „Das Self-Assessment hat unsere hohen Erwartungen erfüllt. Durch die präzise Analyse im Vorfeld sowie die maßgeschneiderte Umsetzung haben wir gemeinsam mit der ITB ein innovatives Tool von der Gothaer für die Gothaer erstellt. Das freut uns sehr.“, berichtet Klaus Schöneberger, Leiter Personalentwicklung. Sowohl die Zielgruppe als auch die Führungskräfte nutzen das Angebot, um sich dem Thema Führung zu nähern.
In der Kantine gibt es angeregte Diskussionen darüber, was denn nun gute und bessere Führung sei. Mit dem Self-Assessment testet der eine oder andere auch experimentell aus, was gute Führung im Sinne der Gothaer ist, indem nur die schlechten Antworten angeklickt werden.
„So wurde ein zunächst technisches Produkt, das keine Interaktion zwischen Menschen vorsieht, zu einem Motor für eine angeregte, unternehmensweite Diskussion über das Thema Führung“, zieht Martin Schürmann Bilanz.
Was ist ein Self-Assessment?
Self-Assessments sind Beratungsangebote für Bewerber oder Mitarbeiter. Teilnehmer können ihre Fähigkeiten und Interessen sowie ihre Motivation mit den Anforderungen der Zielposition abgleichen. Ein ausführliches Feedback gibt die Möglichkeit, eigene Stärken und Lernfelder im entsprechenden Bereich kennenzulernen – und das anonym und freiwillig. Am Arbeitsplatz oder zu Hause über das Internet.
Fay, E. (Hrsg.): Das Assessment-Center in der Praxis. Konzepte – Erfahrungen – Innovationen. Göttingen, 2002.
Zimmerhofer, A.: Der Einfluss des Internets auf die Eignungsdiagnostik – E-Recruiting, E-Assessments und Self-Assessments. In: S. Dlugosch/A. Terörde (Hrsg.): Eignungsdiagnostik im Wandel: Perspektiven – Trends – Konzepte. Göttingen, 2009.
Autoren
Dr. Alexander Zimmerhofer, Test-Experte und Gesellschafter bei der ITB Consulting, Bonn,
alexander.zimmerhofer@itb-consulting.de
Lioba Peters, Beraterin bei der ITB Consulting, Bonn,
lioba.peters@itb-consulting.de
Bettina Sökeland, Leiterin Zentrale Rekrutierung und Personalmarketing, Gothaer Versicherung, Köln,
bettina_soekeland@gothaer.de
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