Ausgabe 12 - 2013
Arbeitswelt im Wandel
Welche Auswirkungen hat die neue Phase der Industrialisierung für die Facharbeiter? Welche arbeits- und personalpolitischen Maßnahmen werden erforderlich sein? Diese Fragen beschäftigen IG Metall-Vorstand Dr. Constanze Kurz.
Im Blickpunkt der öffentlichen Debatte steht derzeit die sogenannte Industrie 4.0. Sie soll nach dem Zeitalter der Dampfmaschine (Industrie 1.0), der tayloristischen Massenproduktion (Industrie 2.0) und der Automatisierung (Industrie 3.0) eine neue Phase der Industrialisierung einläuten. Im Kern geht es darum, dass sich die Produktionstechnologie und die Informations- und Kommunikationstechnik in neuer Qualität verbinden. Produktionssysteme und Wertschöpfungsnetzwerke, in denen intelligente Produkte, Maschinen, Betriebsmittel und Vernetzungstechnik eigenständig Informationen austauschen, Aktionen auslösen und sich gegenseitig selbstständig steuern, werden sicher nicht von heute auf morgen Realität werden. Aber sie sind auch keine ferne Vision mehr, wie Beispiele aus der Praxis heute schon zeigen.
Verstärkte Komplexitäts- und Flexibilitätsanforderungen
Industrie 4.0 wird das System Arbeit verändern. Sie wird mit unterschiedlicher Tiefe und Reichweite alle Beschäftigtengruppen betreffen – von der Produktion bis in die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Dabei wirken insbesondere zwei Treiber: Zum einen das technische Prinzip dezentraler Selbstorganisation von intelligenten Produkten und sich selbst organisierender Produktionseinheiten. Zum anderen der zunehmende Einsatz intelligenter Assistenzsysteme, insbesondere in den Produktionsbereichen der Smart Factory. Die Kontaktaufnahme zwischen Menschen und Maschinen wird immer enger (vom Knopfdruck zur Gesten-, Sprachen- oder sogar Atemsteuerung) und die Art der Interaktion intelligenter. All dies bei gleichzeitig zunehmender Vernetzung von Sensoren, RFID-Funkchips, Aktuatoren und mobilen Rechnern.
Diese Entwicklungen führen nicht in eine menschenleere Fabrik, in der Computer die Arbeit machen. Der wesentliche Aspekt des technologischen Wandels ist vielmehr darin zu sehen, dass die Arbeitnehmerschaft in der Produktion mit deutlich erhöhten Komplexitäts-, Problemlösungs-, Lern- und vor allem auch Flexibilitätsanforderungen konfrontiert sind. Es steigt der Bedarf an Überblickswissen und Verständnis über das Zusammenspiel aller Akteure im Wertschöpfungsprozess.
Re-Qualifizierung von Produktionsarbeit
Es wachsen jedoch nicht nur die Anforderungen an Metakognitionskompetenzen. Auch soziale Kompetenzen erlangen einen erhöhten Stellenwert, da mit der intensivierten Verzahnung einstmals getrennter Abteilungen und Disziplinen der Bedarf an Interaktion – real wie computervermittelt – zunimmt. In fachlicher Hinsicht werden verstärkt interdisziplinäre Kompetenzen gefordert sein, die heute vielfach erst in Ansätzen existieren. Hinzu kommt die Fähigkeit sich zu vernetzen, selbst zu organisieren und flexibel zu steuern. Kurzum: Durch das Zusammenwachsen von Produktionstechnologie, Automatisierungstechnik und Software werden mehr Arbeitsaufgaben in einem technologisch, organisatorisch und sozial sehr breit und flexibel gefasstem Handlungsfeld zu bewältigen sein. Die Beschäftigten werden zunehmend als Entscheider, Steuerer und Problemlöser gefragt sein. Industrie 4.0 eröffnet neue Arbeitszusammenhänge, die mit wachsender Eigenverantwortung, zusätzlichen Entfaltungsmöglichkeiten und einer Steigerung der Arbeits-, Kooperations- und Beteiligungsqualität einhergehen. In diesem Zusammenhang darf freilich nicht übersehen werden, dass die Besserqualifizierten im Vorteil sind. Denn mit fortschreitender IT-Durchdringung dürfte sich der Abbau einfacher, manueller Tätigkeiten in der industriellen Fertigung fortsetzen. Ob sich dieser Abbau durch mehr Arbeitsplätze im Rahmen von Planungs- oder Koordinationstätigkeiten wird kompensieren lassen, lässt sich gegenwärtig nicht zuverlässig abschätzen. Es bleibt die Frage, wie es gelingen kann, allen Beschäftigten und damit auch Un- und Angelernten eine Chance auf aktive Teilhabe und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten in der Industrie 4.0 zu ermöglichen.
Die Arbeit wird weiter standardisiert
Obwohl nicht zuletzt die technischen Artefakte für eine Aufwertung sprechen, kann ein gänzlich anderer Entwicklungspfad von Industriearbeit nicht ausgeschlossen werden: Die Arbeit wird weiter standardisiert, digital quantifiziert, zu Parametern innerhalb von Algorithmen (um)strukturiert und am Ende zum geistlosen Niedriglohnjob. Die Beschäftigten wären nur noch vernetztes Rädchen in einer unmenschlichen Cyberfabrik, ohne nennenswerte Handlungskompetenzen, entfremdet von der eigenen Tätigkeit durch eine fortschreitende Dematerialisierung und Virtualisierung von Geschäfts- und Arbeitsvorgängen.
Letzteres wäre ein digital basierter Taylorismus 4.0, eine Neuauflage der alten Spaltung zwischen Kopf- und Handarbeit, die für die Beschäftigten nicht akzeptabel und für die erfolgreiche Realisierung einer Industrie 4.0 in hohem Maße dysfunktional ist. Denn auch in hochkomplexen, virtuellen Systemen wird es Unvollkommenheiten, Störungen und Prozessunsicherheiten geben, die menschlicher Interventionen bedürfen.
Neue Lösungsansätze in der Arbeits- und Personalpolitik
In der Debatte um die Erfolgsbedingungen einer Industrie 4.0 geben bislang Techniker und Ingenieure den Ton an. Obwohl auch unter ihnen die Einsicht wächst, dass der „Mensch im Mittelpunkt einer Industrie 4.0 steht“ bedarf es der stärkeren Einmischung von Personalverantwortlichen, Arbeitswirtschaft, Betriebsräten und IG Metall. Gerade sie sind gefragt, der Integration des Menschen in eine intelligente Fabrikumgebung eine konkrete Gestalt und tragfähige Perspektiven zu geben sowie eine Arbeitswelt zu schaffen, in der die Beschäftigten von heute für ihre Rolle von morgen qualifiziert und motiviert sind. Das ist eine anspruchsvolle Herausforderung, die mit den gängigen Ansätzen der Personal- und Arbeitspolitik allein nicht zu meistern sein wird. Neue Problemlagen erfordern neue Lösungsansätze und Organisationsparadigmen von Arbeit, die sich auf eine Vielzahl von Regelungstatbeständen und Regulierungsebenen in Betrieb und Unternehmen richten. Aus Sicht der IG Metall sind aktuell vor allem zwei Gestaltungsfelder von zentralem Interesse, wenn es darum geht, den technologischen Wandel mit innovativen Organisations- und Personalkonzepten konform gehen zu lassen.
Eine lernförderliche Arbeitsorganisation schaffen:
Industrie 4.0 erfordert neue, innovative Arbeitsorganisationskonzepte, die einerseits lernförderlich, anderseits dazu geeignet sind, das Prinzip dezentraler Selbststeuerung mit breit gefassten Aufgabeninhalten, hohen Dispositionsspielräumen sowie Kooperation, Kommunikation- und Interaktion unterstützenden Arbeitsorganisationsformen zu realisieren. Ziel ist es, intelligente, selbstorganisierte Interaktionen zwischen den Beschäftigten und/oder den technischen Operationssystemen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu ermöglichen. Dementsprechend ist zu berücksichtigen, wie kooperative Lern- und Arbeitsprozesse quer zu herkömmlichen Funktions- und Abteilungsstrukturen befördert und sichergestellt werden können. Nicht zuletzt das altbekannte Thema der Notwendigkeit zur Veränderung von betrieblichen Führungskulturen erfährt durch Industrie 4.0 eine neue Aktualität und Zuspitzung.
Weiterbildung und Qualifizierungsmaßnahmen neu angehen:
Mit Industrie 4.0 werden sich die Anforderungen an lebenslanges Lernen noch einmal deutlich erhöhen. Zugleich bieten sich technisch neue Formen für mobiles, interaktives und situationsadaptives Lernen, die es zu nutzen und auszubauen gilt. Erforderlich ist die Entwicklung von umfassenden und nicht zuletzt arbeitsplatznahen Qualifizierungsmaßnahmen, die an der ganzen Breite der Belegschaften ansetzen und Angelernte, Facharbeiter wie auch Ingenieure einbeziehen. Alle Beschäftigten müssen entsprechend ihrer Fähigkeiten eine Chance auf aktive Teilhabe an Weiterbildung haben. Sonst droht nicht „nur“ die soziale Deklassierung ganzer Beschäftigtengruppen, sondern wächst die Gefahr zu demotivieren und hierdurch einen wichtigen Impact für die Wettbewerbsfähigkeit zu verschenken.
Autorin
Dr. Constanze Kurz, IG Metall Vorstand, Funktionsbereich Betriebs- und Branchenpolitik,
constanze.kurz@igmetall.de
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