Ausgabe 12 - 2015
Der Konjunktur-Lokomotive geht die Puste aus

Von den gewohnt zweistelligen Zuwachsraten hat sich die deutsche Wirtschaft nach dem Konjunktureinbruch in China mit Wehmut verabschiedet. Wie es weitergeht, ist völlig offen. Unternehmen sind gut beraten, sich einer weitsichtigen Personalplanung zu bedienen.
Der weltweiten Konjunktur-Lokomotive China geht zusehends die Puste aus. Laut einer Umfrage der Europäischen Handelskammer unter 541 Unternehmen wollen fast 40 Prozent ihre Kosten in China senken. Zwei Drittel planen, Mitarbeiter zu entlassen – ein zwar verbreitetes, dafür in HR-Kreisen diskreditiertes Mittel, um die Bilanz auf einen Schlag zu entlasten.
Auch an der deutschen Wirtschaft geht die China-Krise nicht spurlos vorbei. Während der Maschinen- und Anlagenbau erst mit Verzögerung betroffen sein wird, melden andere in China investierende Branchen wie die Medizintechnik oder Landmaschinen „SOS“. Auch Bosch Rexroth will Personal substanziell abbauen. Der chinesische Markt für Landmaschinen, für die das Unternehmen Mobilhydrauliksysteme entwickelt, ist um 40 Prozent eingeknickt. Deutsche Produktionsstätten sollen personell ausgedünnt oder sogar gänzlich in osteuropäische Länder verlagert werden.
Allen voran Autobauern und Zulieferern, die im Reich der Mitte operieren, machen die negativen Rahmendaten zu schaffen. Nach anhaltend hohen Zuwachsraten wurden zuletzt immer weniger Autos in der Volksrepublik verkauft. Beim Platzhirsch im Oberklasse-Segment, Audi, brach der China-Absatz um 12,5 Prozent ein. Mutterkonzern VW, gemeinsam mit General Motors Marktführer in China, hat es noch schlimmer erwischt. Das bedroht den Gewinn: Knapp 40 Prozent aller weltweiten Verkäufe entfallen auf China.
Es gilt Einstellungsstopp
Die Auswirkungen auf die chinesischen Produktionsstätten sind beträchtlich. Nach Beobachtung von Oliver Liegel, Leiter Automotive in der Pekinger Personalberatung Signium, haben zahlreiche Unternehmen der deutschen Automobilindustrie bereits reagiert und die Produktion heruntergefahren oder sogar angehalten. „Es gilt Einstellungsstopp.“ Selbst der VW-Konzern, der zuvor an 360 Tagen im Jahr rund um die Uhr produzierte, habe Bänder angehalten. Aufgrund der schrumpfenden Verkaufszahlen wird die durchschnittliche Arbeitszeit in den chinesischen Werken laut Liegel von bislang 300 Tagen im Jahr auf 270 Tage verringert.
Gut unterrichtet ist auch Bernd-Uwe Stucken, Restrukturierungsexperte bei der Kanzlei Pinsent Masons in Shanghai. Hätten OEMs im letzten Jahr noch kräftig auf Halde produziert, würden längst beschlossene Ausbaupläne nun zurückgefahren. Stucken zufolge droht den meisten Beschäftigten noch kein Personallabbau. „Das würde erst passieren, sollten die Absatzzahlen nachhaltig schrumpfen.“ Wie deutsche Autokonzerne und Zulieferer mit Blick auf China aktuell ihr Personal disponieren und ihre Personalplanung ausrichten, ist Spielball wilder Spekulation. Auf Anfrage weicht man aus und verweist auf das große Marktpotenzial Chinas. Freilich ist in der Industrie nun der VW-Abgasskandal in den Fokus gerückt, dessen Auswirkungen die Tragweite der China-Krise zweifellos in den Schatten stellen werden. Fakt ist, dass das Marktpotenzial im Reich der Mitte trotz des Konjunktureinbruchs von gigantischem Ausmaß bleibt: Nahezu erschöpft ist es bereits an der boomenden Ostküste. Dort nähern sich immer mehr Menschen europäischer Lebensqualität an. Man fährt einen eigenen Wagen, bisweilen besitzen Familien sogar Zweit- und Drittfahrzeuge. Doch je weiter man sich von der Küste entfernt, umso mehr bröckelt dieses Niveau. Im riesigen Kernland Chinas sieht man eher Zweiräder und Trucks.
Markt nach anderen Maßstäben
„Mit seinen 1,4 Milliarden Menschen ist der chinesische Markt nicht mit unseren Maßstäben zu bewerten“, sagt Siegfried Baumeister, einst Personalleiter des Automobilzulieferers Voss in Wipperfürth. „Selbst wenn deutsche Hersteller noch zehn Jahre erfolgreich Autos verkaufen, werden die meisten Menschen immer noch kein eigenes Auto besitzen.“ Verständlich, dass Konzerne sich an diese Vision klammern und lieber über Absatzmärkte sprechen als über Personalabbau. BMW gewährt zumindest Einblick, wie man flexibel auf „Schwankungen“ reagiert.
Grundlage ist eine vor zwei Jahren getroffene Betriebsvereinbarung, intern „Flex-Baukasten“ genannt. Sie erlaubt, „kurzfristig Kapazitäten anzupassen“, wie Personal-Sprecher Jochen Frey erläutert. Rückgrat der Vereinbarung ist ein Zeitkonto. Für Beschäftigte kann es je Monat maximal 300 Stunden im Plus oder im Minus stehen. Um Nachfrageschwankungen auszugleichen, können Zusatzschichten vereinbart, Pausen durchgearbeitet, Schichten gekürzt oder sogar gestrichen werden. Auch die Urlaubsplanung ist im Notfall betroffen. Ein weiteres Element der Vereinbarung ist die Zeitarbeit. Ihr maximaler Anteil an der Belegschaft ist auf acht Prozent begrenzt, kann aber unter besonderen Bedingungen um weitere vier Prozent steigen.
Freilich greifen diese Maßnahmen erst, wenn sich Nachfrageschwankungen nicht mehr über die weltweit verteilten Werke auffangen lassen. Viele BMW-Modelle werden in mindestens zwei Werken produziert, die großen Limousinen etwa in Dingolfing wie auch in Shenyang. Kaum anders ist das flexible Produktionssystem, mit dem Konkurrent Audi auf Marktimpulse reagiert. Wie Personal-Sprecherin Michaela Schnellhardt mitteilt, werden Zusatzschichten jeden Monat mit dem Betriebsrat ausgehandelt. Die Bilanz nach den ersten zehn Monaten des Geschäftsjahres: An 32 Tagen wurden in den Werken Neckarsulm und Ingolstadt insgesamt 55 Zusatzschichten gefahren.
200 verschiedene Arbeitszeitmodelle
Audi praktiziert über 200 verschiedene Arbeitszeitmodelle, die große Flexibilität ermöglichen. Schnellhardt zufolge können auch Produktionsmitarbeiter in Teilzeit arbeiten, indem sie sich auf bestimmte Schichten beschränken oder sich Schichten mit anderen Kollegen in Teilzeit aufteilen. „Durch aktives Zeitmanagement, das die Vorgesetzten, die Mitarbeiter selbst und das Personalwesen steuern, können Schwankungen ausgeglichen werden“, betont die Sprecherin. Diese Flexibilisierung schaffe die „nötige Bewegungsfreiheit“ für alle Seiten.
Über solche Mittel verfügen die meisten Automobilzulieferer nicht. Deshalb neigen sie in Krisenlagen dazu, an der Personalkostenschraube zu drehen. Baumeister hat Verständnis: „Wenn sich Zulieferer in Märkten wie China in Abhängigkeit von einem oder wenigen Autobauern begeben, was bleibt ihnen dann ohne strategische Personalplanung im Krisenfall, außer den Kostenapparat anzugleichen?“ Deshalb schloss sich Voss Automotive während Baumeisters Amtszeit mit anderen Zulieferern wie Conti oder ZF zu einem Zulieferpark zusammen, um von dort auch chinesische Hersteller als Kunden für ihre Teile in originaler deutscher Qualität zu gewinnen und zu beliefern.
Heute steht vielen Automobilzulieferern und auch anderen in China investierenden Mittelständlern das Wasser bis zum Hals. Wie sie unter Druck reagieren, kennt Marktbeobachter Stucken aus eigener Anschauung. „In Krisen entscheiden deutsche Mittelständler zumeist, zwei oder drei Jahre durchzuhalten. Schreiben sie jedoch länger rote Zahlen, ziehen sie sich zurück und liquidieren.“ Pinsent Masons begleitet oft solche Prozesse, obwohl die Anwälte laut Stucken Alternativen wie eine Restrukturierung, einen Management-Buy-out oder den Verkauf an chinesische Unternehmen empfehlen. Doch darauf geht man selten ein. „Wenn der Erfolg ausbleibt, wollen die Unternehmen ein schnelles Ende und nicht unnötig Zeit, Geld und vor allem Management-Attendance aufwenden“, sagt der Wirtschaftsanwalt.
Triftige Gründe für eine Kündigung
Personal in China zu entlassen, ist kompliziert. Darauf verweist Oliver Prüfer, Personalchef der Deutschen Außenhandelskammer (AHK) in Peking. „Da Arbeitnehmer nach dem chinesischen Arbeitsrecht gut geschützt sind, müssen triftige Gründe für eine Kündigung vorliegen.“ Von Mitarbeitern, die nicht die geforderte Leistung erbringen, trenne man sich häufig, indem ein beispielsweise auf zwei Jahre befristeter Arbeitsvertrag nicht verlängert werde. „Dies ermöglicht auch eine Trennung mit weniger Gesichtsverlust für den Mitarbeiter“, betont Prüfer.
Offenkundig dreht sich das Personalkarussell immer schneller in China. Verunsichert zeigen sich auch chinesische Fach- und Führungskräfte, wie Personalberater Liegel beobachtet. „Die vergleichsweise jungen Manager kennen nur den Wachstumspfad.“ Sie könnten sich kaum vorstellen, was der gegenläufige Trend für sie bedeutet. Nach Liegels Informationen bereiten Unternehmen Führungskräfte in Trainings und Coachings darauf vor, Kosten zu senken und sich von Mitarbeitern zu trennen. Das sei für auf Harmonie bedachte Asiaten erheblich schwerer als für Europäer. „Schlingert die Wirtschaft, sind Managementkompetenzen gefragt, die diese Generation noch nicht auszeichnen“, betont Liegel.
Klar ist auch, dass viele Unternehmen dem Druck standhalten und womöglich bald wieder durchstarten können. Dazu kann die Personalplanung laut Baumeister viel beitragen, selbst wenn noch nicht zum Standardrepertoire vieler HR-Verantwortlicher zählt, Risiken in einem Absatzmarkt zu erkennen und möglichst auch zu vermeiden. Als Teil des Risikomanagements empfiehlt der Personalexperte, auch die Kulturfrage zu beantworten. „Wer sich in China um Wertschätzung bemüht, wird mit erheblichen Bindungswirkungen belohnt.“
Der personelle Aufbau gliedert sich meist in die Entsendung von Expatriates und die Rekrutierung vor Ort. Freilich unterlaufen Unternehmen dabei Fehler. Wer Mitarbeiter entsendet, die sich Baumeister zufolge „wie Kolonialherren“ aufführen, werde weder dauerhaft erfolgreich sein noch an Talente herankommen. Baumeister rät dazu, chinesische Führungskräfte zu rekrutieren, die in Deutschland studiert haben und womöglich bereits bei einem deutschen Automobilunternehmen tätig waren. Audi etwa veranstaltet jedes Jahr einen „Audi CareerDay China“. Zur Zielgruppe der zweitägigen Veranstaltung in Deutschland zählen Chinesen oder China-affine Deutsche, die langfristig in China arbeiten wollen.
Zusätzlich unterhält der Hersteller seit fünf Jahren das Audi China Expert & Management Program (ACEMpro). Kandidaten werden in zwölf bis 15 Monaten auf verantwortungsvolle Positionen in China vorbereitet. Laut Schnellhardt haben die ersten Teilnehmer bereits Managementverantwortung bei Audi China übernommen. Baumeister zufolge sind chinesische Kandidaten mit Deutschlanderfahrung ganz besonders geeignet, um Kontakte zur Politik und zu anderen Entscheidungsträgern zu pflegen. „So gewinnt man in China Vertrauen.“ Und wer nicht sofort Leute entlasse, wenn es mal brenzlig wird, würde Mitarbeiter besonders an sich binden können – „dann gehen sie für die Firma auch durchs Feuer“.
Dauerhafte Herausforderung
Die Rekrutierung von qualifizierten Mitarbeitern in China nennt AHK-Personalchef Prüfer „eine dauerhafte Herausforderung“. Danach würden sich Kandidaten oft nur mittels Lebenslauf auf eine Vielzahl von Stellen bewerben. So einen besser bezahlten Job zu ergattern, der nicht zwingend zu den eigenen Qualifikationen oder Interessen passt, sei laut Prüfer das vorrangige Motiv.
Problematisch sei auch ist die Qualität der schriftlichen Bewerbungen. Auf Details im Lebenslauf werde weniger Wert gelegt. Sich selbst in einem persönlichen Anschreiben zu präsentieren, sei die Ausnahme. Selbst fachlich qualifizierte Kandidaten reichen laut Prüfer oft unvollständige oder fehlerhafte Bewerbungen ein. „Dies erschwert das Identifizieren von geeigneten Kandidaten.“ Audi rekrutiert in China zunehmend über Praktika. Über Hochschulkooperationen, zum Beispiel mit der Tsinghua-Universität in Peking, knüpft man erste Kontakte. „Auch die persönliche Empfehlung unserer Mitarbeiter ist ein wichtiger Rekrutierungsweg“, sagt Sprecherin Schnellhardt.
Bei der Auswahl von Fach- und Führungskräften legen in China operierende deutsche Unternehmen Liegel zufolge denselben Maßstab an wie in Deutschland. Dazu zähle eine ausgeprägte Bindungsbereitschaft. „Wessen Lebenslauf hingegen kurze berufliche Etappen auszeichnet, fällt durchs Raster.“ Grundsätzlich ist unter chinesischen Fach- und Führungskräften die Verweildauer geringer und die Absprungbereitschaft größer als in deutschen Unternehmen. Nachdem die Konjunktur eingebrochen ist, wird jedoch damit gerechnet, dass die Verweildauer zunehmen wird, da die großen Gehaltszuwächse nicht mehr zu realisieren sind. Zudem nimmt das Interesse an einem krisensicheren und auf langfristiges Wachstum ausgerichteten Arbeitgeber zu.
In China hat die Familie großen Einfluss auf Karriereentscheidungen. Familien wollten nicht auseinandergerissen werden. „Ein Kandidat aus Shanghai wird sich nicht zu einem Wechsel in die unbeliebten nördlichen Landesteile entscheiden, obwohl dort viele OEMs produzieren und auch namhafte Zulieferer angesiedelt sind“, sagt Liegel. Für chinesische Kandidaten seien die nördlichen Produktionsstandorte insbesondere in Changchun und Shenyang auch deshalb weniger attraktiv, weil es im Winter sehr kalt und ungemütlich werden kann und die Industriezentren eine geringere Lebensqualität aufweisen. Liegel zufolge gebe es deutlich weniger Freizeitangebote, zudem sei die Umwelt in dieser Region höher belastet. Letztlich fielen die kulturellen Unterschiede zwischen Chinesen aus Shanghai und Chinesen aus Nordchina recht groß aus.
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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