Ausgabe 12 - 2015
Wissenswikis sind tot

Mehr als 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland verarbeiten laut Fraunhofer-Institut Wissen. Um diese zentrale Tätigkeit ranken sich Geräte, Softwarelösungen, Programme, Firmen-Wikis, Intranets und Suchmaschinen. Trotzdem geht täglich Wissen verloren. Informatiker arbeiten deshalb daran, bessere Hilfsmittel zu entwickeln.
Ziel ist es, relevantes Know-how aller Mitarbeiter einer Firma festzuhalten, schnell abzurufen und es mithilfe von Technologie weiterzuentwickeln. Diese Vision, die seit einiger Zeit Realität wird, nennt sich kollektive Intelligenz. „Sie wird erreicht, wenn man siloartiges Einzelwissen von Individuen, Gruppen oder Funktionalbereichen zusammenbringt, um Synergien zu erzielen“, definiert Oliver Gassmann. Es gehe um mehr als nur Wissensdatenbanken aufzubauen, führt der Professor an der Universität St. Gallen aus. Vielmehr stehe die multidimensionale Verknüpfung von Spezialistenwissen zu einem großen Ganzen im Zentrum.
Der Knackpunkt: Bei kollektiver Intelligenz entstehe wertvoller Mehrwert. „Im Gegensatz zu einfachen Events wie Worldcafé werden die meisten kollektiv intelligenten Systeme durch IT unterstützt“, so Gassmann. Das versuchen etwa Siemens, IBM, Microsoft, Jive, Sum-Total und neue, jüngere Unternehmungen wie Starmind aus der Schweiz. Die Technologiefirmen kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, wie sie kollektive Intelligenz erschaffen und zugänglich machen wollen.
Das machen die Großen
Siemens startete mit Share-Net im Jahr 1999. Microsoft legte mit Sharepoint 2001 nach. Direkt danach erschien Jive. IBM stieg 2008 mit einer Software ein, die sich Connections nennt. Gassmann fasst zusammen: „Alle vier Unternehmen wollen mittlerweile damit alle Bedürfnisse auf einmal befriedigen. Entsprechend umfassend und teuer sind diese Social Softwares.“
Und sie haben ähnliche Funktionen. Dokumente lassen sich auf die Plattform hochladen. Dort könne Nutzer sie mit Tags versehen, damit sie auffind- und einsehbar werden. User können Profile einrichten, über Blogs und Foren diskutieren und sich als Experten anbieten. Bei den Datenmengen, die sich dabei auftürmen, sollen Analyse-Funktionen dafür sorgen, den Überblick zu behalten und Irrelevantes auszumustern. Laut einer Studie von Arcando (2011) zeigten die Produkte der Konzerne nur in den Details ihre Stärken. Im großen Ganzen seien sie letztlich gleich auf.
Das Firmengehirn fragen
„Die Konzerne der Technologieindustrie zeigen bei den dynamischen Themen wie künstlicher und kollektiver Intelligenz bisher zu wenig Schnelligkeit“, fasst Gassmann zusammen. Er ist deswegen Fan von den Entwicklungen jüngerer Unternehmen. Eine schlanke Technologie für jedes Wissensmanagement-System gibt es etwa seit 2012 auf dem Markt. Es besteht aus einem intelligenten, selbstlernenden Algorithmus. Mit einem Fragefenster zeigt es sich in den Webbrowsern und Smartphones. UBS und Swisscom verwenden es unter dem Label „Frage das Gehirn“ oder „Das Firmengehirn“. Der Neurowissenschaftler Pascal Kaufmann und Mitgründer und Wirtschaftsinformatiker Marc Vontobel entwickelten die selbstlernende Technologie im Labor für künstliche Intelligenz an der Universität Zürich.
Aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse sowie die Arbeit an virtuellem Hirngewebe und selbstlernenden Nerven-Netzwerken liegen der selbstlernenden Technologie zugrunde. Der Unterschied zu den Expertenfunktionen von IBM & Co.: Mitarbeiter können sich über dieses Tool nicht selbst zum Experten für bestimmte Themen ernennen. Stattdessen bewerten Lösungskonsumenten die abgerufenen Antworten. Der Algorithmus sammelt diese Daten und erlernt die Knowhow-Profile der jeweiligen Fragensteller und Antwortengeber pro Thema oder auch „Tag“. Marc Vontobel erklärt: „Die semantische Textanalyse des Programms erkennt bedeutsame Worte als Tags. Von ‚IT’, ‚Makro’ und ‚entwickeln’ über ‚Bilanzanalyse’ bis ‚Powerpoint’ und Produkt- oder Kundennamen. Diese gewichtet es und verknüpft sie zu übergreifenden Themenclustern.“ Außerdem: Die Fragen werden anonym gestellt. Das erhöht die Nutzerbereitschaft. Die Technologie ist aktuell zudem für Think Tanks in den USA interessant. Der 36-jährige Starmind-Gründer Kaufmann wurde im März in verschiedene Innovations- und Forschungseinrichtungen amerikanischer Großkonzerne eingeladen.
HR- und Firmen-Daten modular integrieren
Einen anderen Ansatz, um kollektive Intelligenz festzuhalten, gibt es seit Ende 2014. Daran arbeiteten Weiterbildungsanbieter und Software-Hersteller seit einigen Jahren. Ihre Fragestellung war, wie eine Firma das Wissen der Mitarbeiter aus Personaler-Perspektive sammeln, strukturieren, analysieren und nützen kann. Ziel der HR-Softwarefirma Sum-Total war es, alle HR-Systeme und jede Unternehmenssoftware in ein System zu integrieren. Inklusive bekannter „Social“-Funktionen, doch nicht so umfassend wie bei den oben beschriebenen Anbietern. Die sogenannte „Talent Expension Suite“ ist eine offene Plattform, auf der Wissen zum Lernen bereitsteht.
Sie lässt sich mit beliebig vielen anderen Informationen und Systemen vernetzen: von der Nachfolgeplanung über das Leistungsmanagement bis zur Fachkräftebeschaffung. Seit Sum-Total zum E-Learning-Platzhirsch Skillsoft gehört, verknüpfen sich alle HR-Prozesse mit dem Lernen. Das wirkt sich auf den intuitiven Zugang zur Plattform und die Art, wie dort Information abgerufen werden, aus. Denn für den Anbieter digitaler Weiterbildung ist der Zugang zu Lerninhalten die zentrale Kompetenz. Neben dem möglichst guten Zugriff auf kollektives Wissen sollen Unternehmen mit der Plattform ihre Mitarbeiter nicht nur verwalten, sondern weiterentwickeln können.
Was ist Unternehmen wichtig und was unwichtig?
Die aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft Deloitte „Global Human Capital Trends 2015“ zeigt, weshalb dieser Ansatz für Personaler interessant sein kann. Rund 3300 Personen aus verschiedensten Hierarchie-Ebenen in Unternehmen aller Größen und Branchen wurden weltweit befragt. Fast alle haben ein dringendes Bedürfnis: Kompetenzen aufbauen. Deshalb würden sich die meisten darauf konzentrieren, ihre Lern-Organisation und -Strategien zu verändern. Diese Sachverhalte rückten seit vergangenem Jahr von Rang acht auf Rang drei der bedeutsamsten Herausforderungen: 85 Prozent gaben an, dass ungenügender Wissenszuwachs ein Problem darstellt.
Zugleich zeigten die Antworten der Befragten, wie gewinnbringend Veränderungen sind: Unternehmen, die ihre Lern- und Entwicklungs-Organisation veränderten, beschleunigen den Wissenszuwachs und das Aneignen von Fähigkeiten bei Mitarbeitern. Zudem steigt das Engagement. Das bewerteten die befragten Führungskräfte als entscheidend.
Um ihre Umsatz- und Firmenziele zu erreichen, sehen Geschäftsführer laut der Untersuchung zudem immer weniger ausreichend kompetente Mitarbeiter in ihren Reihen. Nur 28 Prozent der Befragten glauben, dass ihre Belegschaft bereit für die täglichen Arbeitsprobleme ist. Sie verstehen, dass sie nicht mehr nur rekrutieren, sondern vor allem intern aus- und weiterbilden müssen. Die Deloitte-Berater beziffern, dass 2014 der Aus- und Weiterbildungsmarkt um 14 Prozent wuchs. Investitionen in Führungskräfte-Entwicklung stiegen sogar noch stärker an. Der Lern-Technologie-Markt wuchs um 27 Prozent und besitze ein weltweites Volumen von vier Milliarden Dollar.
Für Kerstin Stengel dreht sich das Problem, von dem die Firmen sprechen, nicht unbedingt um eine Arbeitsmarktkrise. Es geht für die Unternehmenssprecherin von Skillsoft vielmehr darum, Qualifikation und Bildung richtig einzusetzen und besser zu verteilen. Den Firmen ohne Talentpool fehlen die geeigneten Werkzeuge, um ihr Wissen schnell und praxisnah zu sammeln und nutzbar zu machen. Stengel resümiert: „Mit dem richtigen Tool, das kollektive Intelligenz erzeugt und zum Austausch bereitstellt, können Unternehmen ihre eigene Antwort auf die Talentkrise finden.“
Autor
Michael Sudahl, freier Journalist, Schorndorf
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