Ausgabe 2 - 2013
Ratlose Artisten unter der Zirkuskuppel
Die Energiewende zwingt den großen Energieversorgern neue Geschäftsmodelle auf, mit drastischen Auswirkungen auf die Belegschaften. Noch wagt sich kaum jemand mit Einzelheiten aus der Deckung. Klar ist nur: Die überregionalen Strom- und Wärmeerzeuger ziehen in die Welt hinaus. In die Lücke stoßen könnten kommunale Anbieter – wenn es HR gelingt, die Mannschaften neu aufzustellen.
RWE will 8000 Stellen streichen, davon ein Drittel in Deutschland. Eon baut weltweit 11 000 Arbeitsplätze ab, mehr als die Hälfte verschwindet hierzulande. EnBW kürzt seine Payroll um 1600 Datensätze, vorwiegend im Ländle. Mit zunächst 1350 Jobs weniger hofft Vattenfall über die Energiewende zu kommen – es können jedoch auch mehr werden.
Zahlen, die eine Branche im Umbruch beschreiben. „Wir sitzen im selben Boot wie unsere Kollegen – das gilt für das Personal im Allgemeinen wie für den Bereich Human Resources im Speziellen“, erklärt Vattenfall-Veränderungsmanagerin Felicitas von Kyaw. Geschickt variiert sie den Satz „HR muss professioneller werden“, bevor sie das Gespräch mit einem kraftvollen Bild beendet: „Die Reise hat erst begonnen.“
Eine Branche auf der Reise – doch wohin?
Was wie ein Cliffhanger daherkommt, bei dem der Drehbuchautor weiß, welche Fäden sich in der nächsten Folge ent- und welche sich neu verwirren, soll den Spannungsbogen dehnen – oder Ratlosigkeit übertönen. EnBW-Sprecher Raphael Diecke, normalerweise ein äußerst redefreudiger Zeitgenosse, fasst sich äußerst kurz: „Wir stehen gerade inmitten großer Veränderungen.“ Weiter sagt er nichts. Auch ein längeres Gespräch mit Dieter Jurgens, Leiter Group Talent Management bei RWE, lässt sich kurz zusammenfassen: „Die Energiewende erfordert Veränderungen. Wir müssen unser Geschäftsmodell überprüfen und uns Gedanken machen, wie wir uns in der Zukunft organisatorisch aufstellen.“ Man denke über Shared Services nach und wolle Personalmanager, die im Business und im Ausland gearbeitet hätten. Und: „Die Personaler müssen sich weiter qualifizieren.“ Das werden sie gerne hören.
Regine Stachelhaus, Arbeitsdirektorin bei Eon, ist da schon weiter. Sie präsentiert die Umrisse der geplanten Reorganisation: Abbau von Stellen in der Verwaltung, Internationalisierung auf breiter Front, Einführung von Business Partner, Kompetenzcenter und Shared Service Center (siehe Interview Seite 23). Beste Grüße an Dave Ullrich.
Statik raus, Dynamik rein
Auf Flipcharts und in PowerPoint-Präsentationen werden eilends entworfene Visionen in Strukturen und Organisationen gegossen. Daraus lässt sich das Personaltableau der Zukunft ablesen. Zählerableser raus, IT-Fachkräfte rein. Portfolioverwalter raus, Stromhändler rein. Stadtkämmererspezis raus, smarte Banker rein. Beamtentypen raus, Marketingtypen rein. „Was die Energiebranche früher ausgemacht hat – Konstanz, Sicherheit, Bedachtsamkeit –, bleibt auch in Zukunft wichtig“, erklärt Anja Seng, Professorin für Personalmanagement an der FOM Hochschule in Essen. „Hinzukommen muss aber mehr Dynamik und Beweglichkeit. Denn wir gehen weg von der zentralen Energieversorgung durch die vier großen Anbieter und hin zu einer dezentralen Versorgung, die einerseits durch Natur, andererseits durch eine Vielzahl von Erzeugern bestimmt wird. Das bedeutet viele Veränderungen für die Menschen, die dort tätig sind.“
HR sei dabei besonders gefordert, müsse Veränderungsprozesse steuern, Mitarbeiter aktiv begleiten und für neue Aufgaben befähigen. „Das Personalmanagement muss neue Geschäftsmodelle mit den bestehenden Mitarbeitern umsetzen“, beschreibt Seng den akuten Handlungsdruck, „und gleichzeitig am Markt Kräfte finden, die risikobereit, international orientiert und flexibel sind.“
Fluch oder Segen? Eine Frage der Perspektive
Das klingt nach einem harten Stück Arbeit. Und alles nur, weil die Bundesregierung nach Fukushima die Reißleine gezogen und die Atomkraft mit einem Fluch belegt hat?
Ja, behaupten die Mitglieder des führenden Energiequartetts, die sich in der von ihnen aufgeteilten Republik wohlig eingerichtet haben und nun gezwungenermaßen vor einer kompletten Rundumerneuerung stehen.
Nein, widerspricht Beate Höger-Spiegel, Sprecherin des Kraftwerkzulieferers ABB in Mannheim: „Die Energiewende hat die Struktur unseres Mitarbeiterbedarfs nicht verändert. Als Komponentenhersteller haben wir uns frühzeitig umgestellt. Eigentlich spielt uns die Energiewende in die Hände.“
Nein, widerspricht Reinhard Büttner, Geschäftsführer Personal bei den Münchner Stadtwerken: „Wir bauen querbeet Personal auf. Wir setzen seit acht Jahren auf regenerative Energien, Wind, onshore, offshore, Solarthermie, Geothermie. Neue Jobs entstehen im Beteiligungsmanagement, im Portfoliomanagement, im Energiehandel. Das ist ein ganz anderes Geschäft geworden.“
Nein, widerspricht auch Colette Rückert-Hennen, Vorstand Personal und Marke bei Solarworld in Bonn: Der veränderte Personalbedarf treffe insbesondere die traditionellen Energieversorger. „Wir haben ein neues Geschäftsmodell. Wir haben die Prozesse und Qualifikationen, die wir brauchen. Für uns hat sich nichts geändert.“
Ein Windfall Profit im doppelten Sinne
Nicht allein das Machtwort von Angela Merkel hat RWE, Eon, EnBW und Vattenfall in schmerzhafte Geburtswehen getrieben. Sondern auch Taubheit gegenüber schwachen Signalen aus der Politik und starken aus der enger zusammengeschnürten Welt, Lähmung bei der Umsetzung schlanker Organisationsstrukturen und Blindheit gegenüber veränderten Verbrauchergewohnheiten. „Die Revolution findet nicht auf der Erzeugungsseite statt, sondern auf der Kundenseite“, versichert Thomas Breuer, Personalvorstand der RheinEnergie AG in Köln. „Die Kunden werden selbst zu Produzenten. Die bauen sich auf dem Dach eine Photovoltaikanlage.“ Seine Leute hätten ein Gefühl dafür, was auf sie zukomme. Überhaupt seien die regionalen Anbieter tendenziell besser aufgestellt als die großen Vier. „Wenn man sich richtig positioniert, kann man von der Energiewende profitieren, weil wir näher am Kunden sind und deren Bedürfnisse besser umsetzen können.“ Aktuelle Studienergebnisse belegen diese Einschätzung.
Nun ist es ja nicht so, dass man nicht verstehen könnte, warum das von der Energiewende nass erwischte Konzernquartett nach Kräften mauert. Teils steht man mitten in Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern (EnBW, RWE), teils müssen die getroffenen Vereinbarungen noch mit einem Vorgehensmodell unterfüttert werden (Vattenfall), teils liegt der Fahrplan zwar vor (Eon), aber man will die (Noch-)Mitreisenden nicht durch allzu viel Offenheit verschrecken. Wenn Regine Stachelhaus ihren deutschen Personalern den Umzug nach Rumänien als coole Sause verkauft, könnte manchem das Wort „alternativlos“ in den Sinn kommen.
Vom Ende der Stabilität
„Aus Sicht der Mitarbeiter boten die Energieversorger früher Stabilität und einen sicheren Job fürs Leben. Mit der Energiewende bricht dieses Bild um“, spiegelt Jürgen Prinz von Steria Mummert Consulting die Sicht der Beobachter und die Sorgen der Belegschaften, HR eingeschlossen. „Künftig sind neue und andere Qualifikationen gefordert, zum Beispiel im Bereich der Erzeugung und bei den Ingenieuren. Außerdem braucht es neue, flexible Organisationsstrukturen. Da kommt natürlich an vielen Stellen die Frage ‚Make or Buy‘ hoch. Das betrifft definitiv auch die Personalarbeit.“ Der Experte für Human Capital hat im letzten Sommer die Personalleiter von Energieversorgern nach ihren Umbauplänen gefragt. Unter anderem kam dabei heraus: „Die Mitarbeiter brauchen in Teilen andere Qualifikationen als früher. Sicher wird es den Kraftwerksmeister auch weiterhin geben. Aber es werden Anreicherungen nötig sein.“
Wen die überregional tätigen Stromkonzerne sowie die regionalen und kommunalen Stadtwerke in Zukunft an Bord haben wollen und wen nicht, umreißt RheinEnergie-Vorstand Thomas Breuer mit deutlicheren Worten: „Ganz andere Mitarbeiter als bisher. Wir brauchen unternehmerisch denkende und vernetzt arbeitende Allrounder und keine Spezialisten, die nur ein Gebiet abdecken können.“ Einige seien zwar schon da, aber um mehr Personalentwicklung komme man nicht herum: „Wir werden viel investieren müssen.“
Auch die in anderen Großstädten und Regionen beheimateten Kollegen spitzen schon die Bleistifte. „90 Prozent der von uns Befragten sagen, dass sie hohen Wert auf die Weiterbildung ihrer Leute legen“, bestätigt Norbert Neumann, Kenner der Energiebranche. „Das betrifft vor allem die kommunalen Versorger. Sie benötigen mehr Ingenieure, Betriebswirte und IT-Spezialisten mit exzellenten Kenntnissen über die Nutzung modernster Erzeugungs- und Informationstechnologien. Die Größeren suchen zunehmend auch nach Investment-Bankern für den Energiehandel.“ Das bedeute? „Damit kommt eine ganz neue Generation von Mitarbeitern in diese Unternehmen.“
Umfassender Kulturwandel
Für viele wird Deutsch eine Fremdsprache sein. Wenn Eon-Vorstand Regine Stachelhaus eindringlich für mehr Internationalität wirbt, dann hat das auch damit zu tun, dass sich die Energieversorger Stück für Stück aus Deutschland herausbewegen wollen. Vattenfall verhandelt gerade über die Auslagerung des Kundenservices. RWE will die Lohn- und Finanzbuchhaltung sowie das Rechnungswesen ins kostengünstigere Ausland verschieben, im Gespräch ist die Türkei. Eon baut in Rumänien ein Servicecenter auf. EnBW findet vielleicht auch ein anderes Land, in dem die angestrebte Effizienzsteigerung billiger zu haben ist.
Da braucht man auslandshungrige Berufseinsteiger und erfahrene Business Globetrotter, die, wie der oberste RWE-Talentmanager Dieter Jurgens formuliert, bereit seien, deutlich weiter über den Tellerrand hinauszuschauen: „Die Rahmenbedingungen sind schwieriger geworden. Deshalb müssen wir uns international besser vernetzen. Und das verlangt den Mitarbeitern mehr Flexibilität ab, Mobilität und die Bereitschaft, an einem anderen Ort oder in einer anderen Funktion zu arbeiten. In der Vergangenheit mussten sie das nicht unbedingt mitbringen.“ Der unausgesprochene Nachsatz lautet: Heute wäre es schön, und morgen wird es Pflicht.
Der Druck steigt – auch für HR
Die Beschäftigten in der Branche spüren den kommenden Druck. Die Personalmanager stöhnen bereits heute, was alles von ihnen erwartet wird. „Die Veränderungsbereitschaft muss durch die Personalbereiche kanalisiert werden“, fordert die Professorin und Beraterin Anja Seng. „Und dabei müssen Fehler erlaubt sein. Das ist relativ neu in der Energiebranche. Die Menschen müssen gedanklich, persönlich und auch räumlich flexibler werden, was sich auch darin äußern kann, dass die Mitarbeiter systematisch über Funktionsbereiche hin wechseln können und wollen.“ Das kann man doch eher durch eine Neueinstellungspolitik erreichen, oder? Ja und nein – denn die bestehende Belegschaft muss natürlich auf die Reise mitgenommen werden und die Veränderung bewältigen.“ Leicht gesagt, wenn man dafür nicht mit dem eigenen Kopf haften muss.
Personalmarketing und Recruiting sind wichtige Hebel, um neue Kompetenzen für die Unternehmen zu gewinnen. An dieser Stelle kommt Christoph Beck, Professor für Personalmanagement an der Hochschule Koblenz, mit einer guten Botschaft: „Als Arbeitgeber können die Energieversorger mit vielen Attraktivitätsmerkmalen punkten.“ Das habe seine Studie „Arbeitgeberimage Energie 2012“ belegt. „Die Branche hat unzweifelhaft Zukunft, und die Energieversorger haben sich von dem Bild als klassische Versorgungsinstitution gelöst.“
Lange To-do-Liste für Personaler
Richtig gut, schränkt Beck ein, sei die Botschaft allerdings nur für einen Teil der Branche. Nämlich für den kleineren, der sich der Überalterung der Belegschaft, der teils enorm langen Betriebszugehörigkeiten, der Notwendigkeit hinzuzufügender Vertriebskompetenzen, des schwieriger werdenden Recruitings und des Wertes eines starken Personalmarketings bewusst sei. So wie die Stadtwerke Leipzig. Dort sollen in den nächsten Jahren Vertrieb und Kundenservice hochgerüstet werden. Beck sieht sich bestätigt: „Die Personalstrategie muss enger mit der Unternehmensstrategie verzahnt werden – erst recht wenn man in neue Geschäftsfelder geht.“ Außerdem solle dem Total Workforce Management unbedingt eine Demografieanalyse vorangehen.
„Wenn 34 Prozent der Mitarbeiter im Schnitt älter als 50 Jahre sind und durchschnittlich 18 Jahre Betriebszugehörigkeit haben, dann geraten die personalwirtschaftlichen Themen Know-how-Transfer und Personalentwicklung inklusive der Aus- und Weiterbildung in den Fokus, ebenso Personalmarketing und Beschaffung“, schreibt Beck den Personalern auf die To-do-Liste. Danach kämen die Themen Vergütung und Anreizsysteme sowie Flexibilisierung der Arbeitszeit. „Last but not least die Umgestaltung der Arbeits- und Unternehmenskultur“, fügt Beck hinzu. „Das ist besonders wichtig, weil sich die Unternehmen so stark verändern.“
Falls vor lauter Veränderung dafür überhaupt noch Zeit bleibt.
Autorin
Christine Demmer, freie Journalistin, Värnamo (Schweden)
- Die Wende für HR
- Ratlose Artisten unter der Zirkuskuppel
- Starke Perspektiven – aber noch ein schwaches Image
- „Wir öffnen ganz neue Karrierepfade“
- Wegen Umbau geöffnet
- Erfolgreich gegen Korruption & Co.
- Informelles Lernen wird wichtiger
- Schnitzeljagd vor Industriekulisse
- Wege aus der Sackgasse
- Die neue Rolle des Human Resources Managements
- Im Dialog in die Arbeitswelt von morgen
- Fit für den Vertrieb
- Kein rechtsfreier Raum
- Innovative Wege gegen den Fachkräftemangel
- Schnelle Umstrukturierung, neue Technologien
- Der Handlungsdruck steigt
- Förderung Fehlanzeige
- Personalabbau als Führungsaufgabe