Ausgabe 2 - 2017
Let's play!

Crowdworker in aller Welt zählen, testen, entwickeln und designen für Unternehmen
. Schnell einsetzbare Expertise, günstig zu haben, mit wenig Risiko. Klingt verlockend – doch kaum einer will darüber reden. Dabei gibt es jede Menge Gesprächsstoff.Von Ulli Pesch
Viele junge Bands wollen vor allem eines: Auftritte spielen – im Fachjargon: Gigs. Gigs bringen Fans, Gigs bringen Geld, Gigs bringen Fame. Und ein Gig bringt oft den nächsten mit sich. Wer es einmal geschafft hat, sich von Gig zu Gig hangeln, wird irgendwann im ganz großen Tourbus sitzen – so die Hoffnung. Ron Wood, Gitarrist der Rolling Stones, hat seine Arbeit als Musiker dem Motto unterstellt: „With every gig, we have to prove ourselves better than the night before.“ Hat ganz gut geklappt: Im Dezember veröffentlichten die Stones ihr 23. Studioalbum, vorher wurde Wood noch rasch Vater von Zwillingen. Im Sommer wird der Mann 70.
Alle auf die Plattform
Dass aus vielen kleinen Gigs irgendwann ein großer Act wird, hoffen inzwischen nicht mehr nur Musiker. Aktuell baut sich ein „Parallel“-Arbeitsmarkt mit Expertenwissen auf, der mittlerweile erhebliche Dimensionen angenommen hat. Es geht um die in den letzten drei, vier Jahren immer heißer geführte Diskussion über die Plattformökonomie, die hierzulande noch primär unter den Klammern Crowd- oder Cloudworking geführt wird, insbesondere in den USA aber längst als „Gig Economy“ bezeichnet wird – eben weil ihre Protagonisten wie Musiker von Gig zu Gig reisen und im Austausch Geld, Kontakte und gute Bewertungen erhalten.
Die Plattformökonomie entstand in den 1990er-Jahren, als sich findige Programmierer über Communities auf Plattformen zusammenschlossen, um gemeinsam – und meist ohne Bezahlung – erste Open-Source-Anwendungen zu entwickeln. Damals wurde der Begriff des E-Lancings für diese neue Form der Zusammenarbeit geprägt. In seinem Artikel „Dawn of the E-Lance Economy“ benutzte der USamerikanische Organisationstheoretiker und MIT-Professor Thomas W. Malone diesen Begriff im September 1998 zum ersten Mal. Nach Angaben des österreichischen Organisationsexperten Professor Ayad Al-Ani bewegte sich diese „Open Source“-Bewegung außerhalb traditioneller Hierarchien und nutzte Elemente wie Selbststeuerung und Selbstidentifikation anstelle von Anweisungen und Zuweisungen. Laut Al-Ani entstand damit ein neuartiges Organisationsprinzip.
„Gewerkschaften befürchten das Aufweichen lange erkämpfter Entlohnungs- und Sozialstandards.“
Expertise aus der Crowd
Zuerst setzte sich das Prinzip der Zusammenarbeit über Plattformen in den USA durch und schwappte von dort aus in alle Welt. Je schneller die Digitalisierung die Wirtschaft umkrempelt, je rascher Unternehmen neue Qualifikationen aller Art benötigen, desto stärker veränderte sich im Laufe der letzten Jahre auch das Wesen der ursprünglichen Plattformidee. Heute existiert eine nicht mehr überschaubare Anzahl kommerzieller Varianten, über die eine Vielzahl unterschiedlichster Dienstleistungen angeboten und erbracht werden. Heute allerdings gegen Entgelt. Der Anbieter: die Crowd.
Personen, die an diese Plattformen angeschlossen sind, nennen sich Gig-, Crowd-, Click- oder Cloudworker und werden hierzulande etwas bürokratisch als „Soloselbstständige“ bezeichnet. Der Plattformbetreiber fungiert dabei als Vermittler zwischen den auftraggebenden Organisationen und den Freelancern. Viele Unternehmen nutzen bereits die Kreativität der Crowd, um neue Produktdesigns entwickeln zu lassen, oder setzen auf Crowdworker, um neu entwickelte Produkte zu testen, riesige Adressdatenbestände abzugleichen oder andere Dienste zu erbringen, für die sie nicht – oder nicht schnell genug – über die benötigten personellen und technischen Kapazitäten verfügen. Die weltweit größte Crowdworking-Plattform freelancer.com hat mittlerweile weit über 20 Millionen Mitglieder.
Unternehmen halten sich bedeckt
Seitens der Unternehmen scheint man das Thema seit dem Fluid-Workforce-Mediendebakel von IBM nicht mehr gerne öffentlich zu diskutieren: 2012 sprach IBM öffentlich von der Idee, einer ausgebildeten Workforce in Afrika Beschäftigungsmöglichkeiten in europäischen Unternehmen zu bieten – ohne dafür nach Europa umsiedeln zu müssen. Damals war das Medienecho so verheerend, dass man sich rasch wieder zurückzog. Seither wird gemauert. Kaum ein Unternehmen will zu dem Thema Stellung beziehen. Das mussten wir auch bei den Recherchen zu diesem Beitrag feststellen. Selten hat es so viele Absagen „aus Zeitgründen“ gehagelt. „Die Situation, keinen Ansprechpartner in Unternehmen zu finden“, bestätigt IG-Metall-Vorstand Robert Fuß, „haben auch die Gewerkschaften und Belegschaftsvertreter.“ Trotzdem kann und wird das Management von Crowdworkern auch für Personaler wichtig werden: in Unternehmen und Branchen, wo Crowdworking zum Bestandteil der Personalpolitik und -strategie wird. Das bestätigt auch David Durward, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Jan Marco Leimeister, dessen Team an der Uni Kassel im vergangenen Jahr eine Hans-Böckler-Studie zum Thema Crowdworking (verfügbar unter goo.gl/HH1iNH) verfasste. „Es geht ja nicht nur um das Skill Management, das Personaler künftig auch für externe Crowdworker übernehmen könnten“, kommentiert Durward die neuen Anforderungen an HR, „sondern grundsätzlich um die Integration Externer in interne Abläufe, beispielsweise auch im Rahmen des Projektmanagements.“
Chancen durch Inklusion
Deutlich aktiver als die Unternehmen zeigen sich die Gewerkschaften beim Thema Gig Economy. Aufgeschreckt wurden sie durch die US-Plattform Amazon Mechanical Turk, auf der Privatpersonen unterschiedlichste Dienstleistungen anbieten und damit nicht selten Stundenlöhne von kaum mehr als einem US-Dollar erwirtschaften. Sie befürchteten das Aufweichen lange erkämpfter Entlohnungs- und Sozialstandards durch die auch in Deutschland mittlerweile in großer Zahl aktiven Crowd-Plattformen. Die IG Metall hat deshalb mit der eigenen Plattform faircrowdwork.org reagiert. Dort erhalten Interessenten Rechtstipps, Plattformen werden bewertet und es gibt Informationen zu auf diesen Plattformen üblichen Bezahlungen. Eine kostenlose Hotline steht ebenfalls zur Verfügung.
„Wir sehen im Crowdworking auch Chancen“, sagt Gewerkschafter Robert Fuß, „insbesondere für Personen, die bisher beispielsweise aufgrund eingeschränkter Mobilität, wegen körperlicher Einschränkungen oder weil sie zu weit weg von einem potenziellen Arbeitgeber leben und aus familiären Gründen ihren Standort nicht wechseln können.“ Dieser Personenkreis, der deshalb bisher nicht oder nur eingeschränkt am Arbeitsleben teilnehmen konnte, erhalte über digitale Plattformen völlig neue Beschäftigungsoptionen, die aber zu fairen Bedingungen angeboten werden müssten. Auch Ines Zimzinski, Vorstandsmitglied des Crowdsourcing-Verbands, verweist auf das Thema Inklusion – nicht selten seien den Auftraggebern, die die Plattformen nutzen, die Personen hinter den Plattformen nicht bekannt. Es zähle nur die Fachkompetenz.
Harald Schirmer, Manager Digital Transformation & Change beim Reifenhersteller Continental – und einer der wenigen Unternehmensvertreter, die zum Thema Stellung beziehen – bewertet das Thema aus eigener Erfahrung ebenfalls positiv: „Bei reduzierter Planbarkeit kann Crowdworking für Organisationen und Freischaffende eine wertvolle Option darstellen – vorausgesetzt, es wird ganzheitlich und nachhaltig angegangen.“ Grundlage für ein erfolgreiches Projekt sei aber, dass Personaler, Projektleiter, Mitarbeiter und Crowdworker gemeinsam und auf Augenhöhe den Rahmen definierten.
Gewerkschaften und Politik schauen hin
Die Gefahr von Dumpinglöhnen und teilweise unfairen Konditionen – nur wenige der auf diesen Plattformen Angemeldeten verdienen bisher ausschließlich damit ihren Lebensunterhalt – scheinen inzwischen erkannt zu sein. Vertreter des Crowdsourcing-Verbands arbeiten in einem Expertenausschuss des Berliner Senats gegenwärtig an einem Gütesiegel für Plattformen. Auch seitens einiger Plattformbetreiber hat man einen gewissen Regulierungsbedarf für faires Crowdworking erkannt. Deshalb haben die Plattformen Testbirds, Clickworker und Streetspotr als Erste in Deutschland einen Verhaltenskodex (Code of Conduct) entwickelt und unterzeichnet, der bestimmte Grundsätze für bezahltes Crowdsourcing und Crowdworking festlegt. Eingangstests sind mittlerweile bei einigen Anbietern Pflicht. Und auch in der Politik gewinnt das Thema an Bedeutung: Im Weißbuch „Arbeiten 4.0“ beschäftigt sich das Bundesministerium für Arbeit ebenfalls mit für die Plattformökonomie relevanten Fragen wie Risikoverlagerung, Arbeitslosigkeit und soziale Absicherung. Erst möglich wird die Gig Economy durch Entwicklungen der Softwareindustrie. Mittlerweile bieten immer mehr Hersteller entsprechende Kollaborationslösungen an. Neben den typischen und schon lange am Markt erhältlichen Tools gibt es heute auch Werkzeuge zum Management vorübergehend Beschäftigter (Contingent Workforce Management): SAP Fieldglass, Beeline, People-Fluent und andere Lösungen werden nicht nur von Outsourcern eingesetzt. Laut Marktforscher Gartner werden sich künftig auch Freelancer-Management-Systeme etablieren, die als Online-Plattform eine direkte Kommunikation zwischen der Personalabteilung und Freelancern sowie Gigworkern ermöglichen. Diese Lösungen werden, so Gartner, durch Algorithmen gesteuertes Job Matching, Compliance Checks, Workflow Automation, Bezahlung und Performance Feedbacks liefern.
„Risikoverlagerung, Arbeitslosigkeit und soziale Absicherung – Themen, die verstärkt die Politik beschäftigen.“
Maschine oder Mensch?
In den nächsten Jahren wird sich auch durch Crowdworking das Verhältnis zwischen Unternehmen, Arbeitnehmern und Freiberuflern – als eigenständigen Produzenten von Arbeitsleistung im Dienst von Unternehmen – wandeln. Gleichzeitig gilt: Der Anteil des Menschen am gesamten Arbeitsvolumen wird, besonders im Bereich der Automatisierung von Prozessen, auf Dauer abnehmen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung nicht mittel- und langfristig den Trend zur Plattformökonomie ebenfalls nachhaltig beeinflussen wird – wenn beispielsweise Massentests, das Design von Produkten, der Abgleich von Daten oder die Entwicklung von Ideen von intelligenten, lernfähigen Maschinen übernommen werden. Denn was Menschen leisten, auch wenn sie ihre Expertise und Arbeitskraft zu Hunderttausenden oder Millionen zur Verfügung stellen, werden Maschinen auch bald leisten können. Genauso schnell, genauso effizient und mindestens so preisgünstig. Denn liegen die Marktforscher mit ihren Prognosen richtig, dann wird das Marktvolumen für die Beratung und Systemintegration intelligenter Maschinen von 451 Millionen US-Dollar in 2016 auf knapp 30 Milliarden US-Dollar bis 2021 explodieren.
Wer spielt also künftig die Gigs? In Japan ist es seit einigen Jahren Hatsune Miku. Zu ihren Konzerten kommen Zehntausende, sie hat zahlreiche Chart-Hits und ist ein Star bei Youtube. Doch sie ist nur ein Avatar – eine digitale Figur. Auf der Bühne flimmert ein Hologramm, drumherum spielt eine echte Band. Und die Songs, die schreiben ihre Fans in aller Welt.
Kategorisierung von Arbeitsplattformen

Die entscheidenden Kriterien für die Differenzierung der Arbeitsplattformen sind Ortsgebundenheit (Cloudwork oder Gigwork) und Personengebundenheit (Auftrag an Crowd oder Individuen).
+++ Bei der „New Work Experience“ am 30. März in Berlin diskutieren wir mit Experten Chancen und Risiken der Gig Economy. Weitere Infos zur Veranstaltung auf den Seiten 64-65. +++
- Von Gig zu Gig
- Hauptsache gesund
- Die Spitze des Eisbergs
- Ein Trainingscenter, das für Industrie 4.0 begeistert
- Schluss mit der Schaumschlägerei
- Kommunikation über alle Grenzen hinweg
- Guter Deal
- „Es ist furchtbar anstrengend schön“
- Let's play!
- „Das sollte zum HR-Instrumentarium gehören“
- Bandleader gesucht
- Chancen der Gig Economy: Innovationsplattformen können Probleme lösen und Talent...
- Risiken der Gig Economy: Nicht auf die soziale Ader der Unternehmen setzen
- Mammutaufgabe für Personaler
- Vorsicht: Glatteis
- Dienstunfall auf dem stillen Örtchen
- Recruiting mit System
- Orientierung im Dschungel
- Ratgeberin auf allen Kanälen
- Angebot und Nutzen beruflicher Auszeiten
- Lotse und Wegbereiter
- Arbeitsdirektorin Margret Suckale geht in den Ruhestand
- Wenn Arbeiten zum Erlebnis wird
- HR braucht gute Geschichten
- Vier gewinnt
- Vereinfachung als Klebstoff