Ausgabe 4 - 2014
Eine Idee, deren Zeit noch nicht gekommen ist
Der Wirtschaft fehlt es an Nachwuchs. Doch sehenden Auges wehren sich Verantwortliche, Arbeit so zu flexibilisieren, dass Eltern sich nicht mehr zerreißen müssen. Die Wirtschaft schiebt das Problem lieber auf die lange Bank.
Fast täglich melden sich Väter und Mütter in der von Jürgen Seifert geleiteten Personalabteilung der TNT Express GmbH in Troisdorf. Ihr dringlichster Wunsch: die Arbeitszeit zu reduzieren oder sogar einen Arbeitstag zuhause bleiben zu können. Das Unternehmen, von der Hertie-Stiftung für seine Familienpolitik zertifiziert, kommt ihnen meistens entgegen. „Aber das löst das grundsätzliche Problem nicht“, räumt Seifert erfrischend offen ein. In deutschen Betrieben sei es kaum möglich, Karriere zu machen, wenn man der Kinder wegen weniger arbeiten wolle. „Wir sind Gefangene der Arbeitszeit, der Karriere, des Verdienstes.“
Deutschland altert, die Belegschaften gehen im Schnitt auf die Fünfzig zu, und in zahllosen Berufen herrscht schon heute ein gravierender Fachkräftemangel. Sich für Kinder zu entscheiden und damit der Volkswirtschaft einen wertvollen Dienst zu erweisen fällt jedoch vielen Frauen und Männern schwer. Wer eine Familie gründen und die Kindererziehung mit beruflichen Ambitionen in Einklang bringen möchte, stößt auf wenig Gegenliebe. „Work Life Balance“ – Fehlanzeige.
Raus aus Teilzeitfalle und Hamsterrad
Dieses Manko, das die Deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich zurückwirft, gehöre endlich auf die Tagesordnung, fordert Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. „Die Vollzeit von Männern und die Teilzeit von Frauen haben uns gerade noch Zeit für die Kinder gelassen. Diese ungleiche Verteilung von bezahlter Arbeit führt dazu, dass Frauen weniger verdienen und geringere Karriereaussichten haben. Motivierte Beschäftigte gehen verloren.“
Mütter in der Teilzeitfalle, Väter im beruflichen Hamsterrad – damit will sich auch Manuela Schwesig nicht abfinden. Kaum zur neuen Familienministerin berufen, enthüllte die SPD-Politikerin zum Jahresauftakt ihren ambitionierten Plan: die staatlich unterstützte und mit Steuermitteln finanzierte Familienarbeitszeit. Vollzeit sollte für Eltern mit kleinen Kindern nicht 40 Stunden bedeuten, sondern zum Beispiel 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Eltern dürften in dieser Familienphase keine Nachteile erleiden, wenn sie im Beruf zurücksteckten. „Ich will damit aufräumen, dass Eltern immer wieder das Gefühl vermittelt bekommen, sie müssten sich zwischen Kind und Job entscheiden. Beides muss möglich sein.“
Arbeitgeber fürchten um Wettbewerbsfähigkeit
Kanzlerin Merkel pfiff das neue Kabinettsmitglied zwar sofort zurück – es gebe andere Prioritäten. Doch das Thema hatte sich längst in der medialen Debatte festgekrallt. „Wir brauchen keine starren staatlichen Vorgaben zur Arbeitszeit“, teilten die Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit. Harsche Kritik auch vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH): Mit einer pauschalen Reduzierung der Wochenarbeitszeit von Eltern auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich wolle die Politik offenbar Familienpolitik „auf Kosten der Unternehmen“ betreiben. Grundsätzlich befürchten die Lobbyisten, die Familienarbeitszeit würde die Arbeitskosten in die Höhe treiben und so die internationale Wettbewerbsfähigkeit infrage stellen. Anders die Bewertung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dem die Ministerin mit ihrer Initiative folgt. Würden Eltern das „80/80-Modell“ wählen, also wie von Schwesig vorgeschlagen ihre wöchentliche Arbeitszeit um ein Fünftel reduzieren, sei das aus ihrer Sicht finanziell attraktiv und für den Staat laut DIW-Kalkulation mit rund 140 Millionen Euro Kosten pro Jahr eine „moderate“ Investition von Steuermitteln.
Sozialverbände unterstützen Schwesig
Bei Kirchen, Frauen- und Familienverbänden sowie Gewerkschaften findet die Idee großen Zuspruch. Einer Beschäftigtenbefragung der IG Metall zufolge würden viele Eltern lieber einen Tag weniger in der Woche arbeiten. „Auffällig ist der deutliche Wunsch nach leicht abgesenkten Arbeitszeiten von 30 Stunden in der Woche, nach reduzierter Vollzeit“, so Jörg Hofmann, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft, die in Tarifverhandlungen sogar eine 30-Stunden-Woche für Eltern fordert.
Rückhalt erfährt die Ministerin ferner vom „Zukunftsforum Familie“. Gestärkt würden die Vielfalt der Familie, die Geschlechtergerechtigkeit und die soziale Gerechtigkeit, heißt es. Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter meint, wer finanziell auf eigenen Füßen stehen wolle, dem werde die Zeit mit Kindern oft knapp. „Reduzieren Alleinerziehende – zu 90 Prozent Frauen – jedoch die Arbeitszeit zugunsten der Kinder, fehlt es oft an einem das Existenzminimum der Familie deckenden Einkommen“, sagt die Bundesvorsitzende Edith Schwab. Daher sei eine angemessene Entlohnung oder ein Rückkehrrecht auf Vollzeit zu begrüßen.
Personaler fordern bessere Infrastruktur
Unter Personalern, in den Betrieben meist erste Anlaufstelle für Kinder erziehende Mitarbeiter, gehen die Meinungen ebenfalls auseinander. Kritik entzündet sich insbesondere an staatlichen Vorgaben. „Mal wieder eine Idee, die ohne Rücksicht auf individuelle Unternehmensstrukturen die gesamte Wirtschaft in Sippenhaft nimmt“, urteilt Karl-Heinz Stroh, freiberuflicher HR-Berater in München. Betriebe sollten lieber selbst nach Lösungen suchen, schließt sich Jürgen Seifert an.
Dass Schwesigs Vision der Familienarbeitszeit nicht ohne Charme ist, gibt hingegen Hilal Dinc, Personalleiterin der SC Electronic Service GmbH in Herford, zu erkennen. Das Angebot würde beiden Elternteilen nicht nur mehr Zeit für das Kind und die Erziehungsarbeit erübrigen. So ließe sich auch entspannter arbeiten im Wissen, dass „auch während der Woche Familienleben stressfrei möglich und machbar ist“. Letztlich könnten Unternehmen und Politik mit der Familienarbeitszeit ein Zeichen der „Wertschätzung von Familien und des Willkommenseins der Kinder“ setzen.
Freilich spart auch Dinc nicht mit Kritik. Zunächst sollten hinreichend Betreuungsplätze für über und unter dreijährige Kinder gewährleistet sein. Sollten zusätzlich Steuergelder investiert werden, dann eher in eine kostenlose Kinderbetreuung, „da in gewissen Berufsfeldern eine enorm große Nachfrage nach Fachkräften herrscht und hier die Unternehmen große personelle Engpässe haben könnten“.
An der Infrastruktur der Kinderbetreuung hapert es hinten und vorn, wie auch Sylvia Grob aus ihren Gesprächen mit Eltern berichtet.
Warum, fragt die Personalleiterin der inzwischen insolventen Donauer Solar Vertriebs GmbH in Gilching, bekomme eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern erst einen Kindergartenplatz, wenn sie Vollzeit arbeitet? Wieso werde einem zugemutet, eine Stunde pro Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, um das Kind in die Betreuungsstätte zu bringen? Weshalb verlangten Städte bei der Anmeldung eines Krippenplatzes eine Bescheinigung des Arbeitgebers? „Ich muss doch erst einen Krippenplatz suchen und kann mich dann nach einer Arbeit umsehen, und nicht andersherum“, verschafft sich die Personalerin Luft.
Was Unternehmen tun können
Doch laut Dinc und Grob ist auch die Wirtschaft in der Pflicht. Unternehmen könnten Eltern bei der Suche nach Krippen und Kindergartenplätzen tatkräftig unterstützen und idealerweise eine eigene Kinderkrippe unterhalten oder sich an einer Einrichtung beteiligen. „Viel wichtiger ist jedoch, Mitarbeitern Teilzeitstellen und flexiblere Arbeitszeiten anzubieten“, fordert Grob. Doch Führungskräfte und Top-Manager würden dies oft blockieren. „Jeder möchte 40 Stunden auf Mitarbeiter zugreifen können, weil sich so Personaleinsatzplanung und Vertretungsregelungen leichter gestalten.“ Hier sei noch viel Überzeugungsarbeit seitens HR zu leisten, wendet Grob ein.
Wie es geht, zeigt das Beispiel der Hamburger Innogames GmbH. In der jungen Firma, die Computerspiele entwickelt und viele Mitarbeiter mangels heimischer Fachkräfte international rekrutiert, sind flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, zuhause zu arbeiten, kein Tabu. Laut Personalleiterin Anne Grovu würden insbesondere Väter ermutigt, sich Zeit für ihre Familie zu nehmen. Dies fördere die Bindung wertvoller Arbeitskräfte, die sich willkommen fühlten und nach der Elternzeit gerne wieder einstiegen. „Sie sind dadurch viel motivierter und loyaler.“
Es braucht Vorbilder
Freilich sind Firmen wie Innogames nicht die Regel. Starre Vorgaben wie 40-Stunden-Woche und Anwesenheitspflicht richten hohe Hürden auf. „Viele Führungskräfte, die gedanklich in den Achtziger Jahren hängengeblieben sind, sagen: Das brauchen wir nicht“, beobachtet Thomas Perlitz, Personalleiter der Gerresheimer AG in Düsseldorf. Väter verdienten das Geld, während sich Mütter um den Nachwuchs kümmerten, lautet die überkommene Denkweise.
Um über solche Vorurteile hinwegzukommen, sind Vorbilder wichtig. Seifert verweist auf skandinavische Länder. Dort hätten es viele Firmen geschafft, überzeugende flexible Strukturen aufzubauen, weil die Führungskräfte vorangehen: Punkt fünf verlassen viele das Büro. „Wenn wir so eine Kultur einführen und von oben vorleben, dann ist das vorbildlich.“ In Deutschland, beobachtet Seifert, täten sich Führungskräfte ziemlich schwer.
Um die erwünschten Impulse auszulösen, hat Gerresheimer beispielsweise „Richtlinien für modernes Arbeiten“ eingeführt. Hierin sei laut Perlitz nachzulesen, dass jeder Mitarbeiter den einklagbaren Anspruch auf flexibles Arbeiten habe. Dazu zählten auch individuelle Lösungen für Eltern, die für die Erziehung ihrer Kinder vorübergehend weniger arbeiten wollten. Die von Ministerin Schwesig vorgeschlagene zeitlich festgezurrte Familienarbeitszeit sei laut Perlitz jedoch untauglich. Einen Anspruch auf exakt 32 Stunden Arbeitszeit würden Mitarbeiter gar nicht erheben. „Vielmehr geht es ihnen darum, die familiäre Situation so zu gestalten, dass auch ihr Anspruch, beruflich weiterzukommen, nicht untergraben wird.“ Ob es sich um 32 Stunden oder eine andere Zahl handelt, sei „Ergebnis des Prozesses und nicht sein Ausgangspunkt“.
Mehr Flexibilität wagen
Eine wichtige Rolle in dieser Arbeitszeitflexibilisierung spielt das Angebot, unterwegs und vor allem daheim arbeiten zu können. „Ich plädiere für die konsequente Nutzung des Home Office“, prescht Seifert vor. Das gelte zwar nicht für jegliche Tätigkeit, eine Krankenschwester etwa habe Präsenzpflicht. Warum aber sollte ein Lohnbuchhalter unbedingt werktäglich von neun bis fünf am Firmensitz arbeiten? Er könne, so Seifert, sein Quantum an Abrechnungen auch am Samstag von zuhause erledigen. „Das würde viel Zeit für die Familie erübrigen.“
Aktuell verhandelt Seifert mit dem Betriebsrat über die Umsetzung einer „Home-Office-Richtlinie“. Sie soll für alle Arbeitsplätze gelten, wo Computer und Telefon die wichtigsten Arbeitsinstrumente sind. Führungskräfte seien bewusst eingeschlossen. Beispielhaft sind auch Siemens sowie die Hypovereinsbank: Gehen Führungskräfte in Elternzeit oder nehmen sich familienbedingt eine längere Pause, werden Interim Manager angeheuert. Wie Provider erläutern, ließen sich weibliche Führungskräfte dabei nicht nehmen, die Auswahl des Managers auf Zeit mitzubestimmen. „Es trägt zur Beruhigung bei, dass während der Abwesenheit alles in besten Händen ist“, sagt Harald Schönfeld vom Interim-Management-Verband AIMP.
Die Renaissance der Präsenzkultur
Lassen wir uns nicht täuschen: Chefs, die zuhause arbeiten oder zugunsten ihrer Familie sich den Arbeitsplatz mit anderen Führungskräften teilen – eine Fata Morgana, wie eine DIW-Studie nun herausfand. Während in anderen Ländern die Zahl der Heimarbeitsplätze wächst, sank sie in deutschen Betrieben über die vergangenen vier Jahre um 800 000 auf nunmehr 4,7 Millionen.
Die Forscher erklären das nicht mit branchentypischen Zwängen. Der Grund sei vielmehr eine kontraproduktive Unternehmenskultur. In der Wirtschaft herrsche Anwesenheitswahn. Diesem Eindruck tritt Stroh entschieden entgegen. Als Führungskräftecoach spreche er zunehmend mit Frauen und Männern, die nach erlebter Arbeit von zu Hause wieder ins Unternehmen zurückkehren. „Sie bevorzugen den direkten Austausch mit ihren Kollegen und wünschen sich, tatsächlich Teil des Teams zu sein.“
Stroh hält auch das Ansinnen, Vorgesetzte familienpolitisch für Teilzeit zu begeistern, für einen Irrweg. Hätten Menschen sich erst einmal eine Führungsposition erarbeitet, sei ihre Absicht, „dass die bisherige Investition in ihre berufliche Entwicklung dauerhaft Früchte trägt“. Seifert hingegen rechnet damit, dass Betriebe künftig weit flexibler sein werden als man es sich heute vorstellen könne. Kommende Generationen würden selbst bestimmen wollen, ob sie werk-, sonn- und feiertags in Arbeitsleistung investierten. „Künftig werden Menschen ihre Arbeit dann verrichten, wenn es mit der Familie am besten passt.“
Voraussetzung dazu sei neben der Entschlackung arbeitsrechtlicher Vorgaben vor allem ein grundsätzlicher Wechsel von der Vergütung nach Arbeitszeit zur Vergütung nach Leistung. Wäre Karriere nicht mehr mit Arbeitszeit verknüpft, sei Seifert als Personalleiter auch bereit, darüber hinwegzusehen, ob jemand 20, 40 oder weit mehr Stunden arbeitet.
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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