Ausgabe 4 - 2014
Zwischen Utopia und Untergang
Personaler gehen glänzenden Zeiten entgegen, schmeicheln die einen. Ach was, poltern die anderen, HR sei ein unprofitabler Kostgänger und damit so gut wie erledigt. Ein aktuelles Meinungsbild zeigt, wohin sich die Waage neigt. Außerdem zeigen wir anhand von drei zum Teil sehr düstere Szenarien, wohin die Reise für HR gehen könnte.
Was düstere Parabeln angeht, kann sich Christian Scholz durchaus mit Franz Kafka messen. „Die Personalabteilung“, beschreibt der Betriebswirtschaftsprofessor aus Saarbrücken seine Vision, „sitzt am Rande des Firmengeländes in einem Gebäude ohne Fenster. An der Eingangstür hängt ein Schild, darauf steht: HR. Die Tür ist abgeschlossen. Niemand geht hinein, niemand kommt heraus. Und innen drin schweben die Personaler in einer Wolke der sozial konstruierten Glückseligkeit.“ Der Schlüssel zu dem Haus, so ließe sich ergänzen, ist unauffindbar. Das ist die kohlrabenschwarze Vorhersage, wie es mit dem Bereich Human Resources weitergehen wird: Ziemlich genau 100 Jahre nach ihrer Ernennung zu einer Betriebsfunktion droht HR das Ende, weil Personal nicht so funktioniert, wie der Betrieb es will. Funktionieren heißt: Geld ins Haus spielen. Weil HR nur sehr verrenkt erklären kann, wie es das tut, stehen die Finanzer zur Übernahme und Produktion guter Zahlen bereit.
Unentrinnbar zum tragischen Finale
Auch die Fachbereiche würden sich der Sache wohl annehmen, ließe man denn das Kleinteilige außen vor. Am Performance Management stünden sie jedenfalls viel näher dran, versichern die Gewinnbringer, für Recruiting, Karriereentwicklung und Compensation fände sich auch noch ein Plätzchen. Unterdessen stecken sich die Personaler die Finger in die Ohren, pfeifen ein fröhlich’ Liedlein und finden sich großartig. Untergangsprophet Scholz hat viele solcher Dystopien auf Lager, und er verkündet sie mit Inbrunst. „Der Prozess des Niedergangs hat Anfang der 90er-Jahre mit der virtuellen Personalabteilung begonnen“, beschreibt er den Anfang vom Ende. „Das hat inzwischen eine komplette Managergeneration beeinflusst und schlägt sich jetzt in den Unternehmen nieder. Die ersten sind schon ganz ohne HR aufgewachsen.“ Was unentrinnbar zum tragischen Finale führen muss: „Die nächste Generation wird sich nicht mehr daran erinnern können, wie eine strategische Personalabteilung aussieht.“
Albernes Geschwätz, sagen die Marketender der Zunft. HR gehe glänzenden Zeiten entgegen, weil nur die Fachleute wissen, wie man die künftig knappen Talente gewinnen und glücklich machen kann. 2030 werden in Deutschland ein paar Millionen Arbeitskräfte fehlen, und die, die noch da sind, sind alt, verwöhnt oder DSDS-gebildet. Talent Management, Workforce Management, Work-Life-Balance, die Firma als umsorgende Familie, Nachwuchssicherung, Health Care – wer diese Riesenherausforderung nicht begreift, soll später nur ja nicht heulen, wenn sie den Finanzern auf die Füße fällt. Ohne gute Mitarbeiter keine guten Zahlen. Allerdings – „Machen wir uns doch nichts vor“, sagen die Marketender an dieser Stelle gern – braucht Personal den fachkundigen Beistand der Spezialisten, um am Ende als strahlender Sieger dazustehen und die stehenden Ovationen des Managements entgegennehmen zu können. Andernfalls droht – siehe oben. Das Strickmuster ist durchscheinend und lässt HR dennoch an sich zweifeln, die Stick-and-Carrot-Strategie ist perfide, aber trotzdem erfolgreich. „HR 2030: Auf dem Weg in die Zukunft“ übertitelt Towers Watson seine jüngste Trendstudie in den fünf Bildern „Qualifiziertes Personal wird Mangelware“, „Vielfalt wird vielfältiger“, „Vertreter der Generation Y sind schon in der ICT-Welt zu Hause“ und „HR muss flexibles Arbeiten fördern“.
Die Fachabteilungen klopfen sich auf die Schenkel
Soweit gewiss. Trend Nummer Fünf aber ist ein wahrer Geniestreich. Den Bummelanten unter den Kunden in spe legt er eine raffinierte Exitstrategie nahe, während die Fortgeschrittenen mit einem neuen Meilenstein motiviert werden: „Das Ziel des strategischen Business Partners, das viele HR-Funktionen noch nicht einmal erreicht haben, wird bald hinfällig sein. Denn der Personalbereich kann nur dann den entscheidenden Business-Mehrwert liefern, wenn er dem Geschäft nicht mehr ‚hinterherläuft‘, sondern selbst strategische Linien vorgibt.“
Die Fachabteilungen klopfen sich vor Lachen auf die Schenkel und flüstern einander kichernd zu: „Buh!“ Man sieht es vor sich. Man fühlt sich ohnmächtig. Man will etwas tun. Das sagt der letzte Satz der Studie auch: „Unternehmen sollten jetzt etwas tun, um sich eine hohe Wettbewerbskraft zu sichern.“ Man greift zum Telefon. Mission Accomplished und ein Punkt für Raffinesse.
So divers ist die Prognoselage anno 2014: Die einen nähren Glücksgefühle, die anderen schüren Versagensängste, beides aus transparenten Motiven, Trends mit Tendenz. In 90 Prozent der, grob geschätzt, zwölfeinhalb Millionen Studien über die „Zukunft von HR“ diktiert die Marketingstrategie des Absenders die Botschaft. Meist mit hohem Besorgnisfaktor, weil mehr Lähmung nicht mehr geht und Angst ja auch Beine machen kann. „Talent wird knapp“, warnen die Recruitingagenturen. „HR must go Hightech – otherwise Highnoon“, alliterieren die Systemanbieter.
Für Business-Partner-Rolleninstrukteure hat HR ohne gescriptete Business-Partner-Rolle dieselbe Zukunft wie ein stotternder Stummfilm-Star im Tonfilm. Und dass die Workforce schon bald territorial, saisonal, ambitions- und motivations- und geschlechts- und lebensphasengeclustert, also am besten individuell gemanaged werden muss („Workforce of One“), kommt schon gar nicht mehr als Verkaufe daher, sondern vom Start weg als unumstößliche Vorhersage. Aber wer verlässt sich schon darauf?
Wer in oder nahe HR arbeitet, hat seine eigene Meinung. Oder auch nicht, denn für die Mehrheit der Befragten liegt das Jahr 2030 in so weiter Ferne, dass sie erst gar keine Prognose wagt. Jörg Breiski tastet sich über die Vorhersagen der Ökonomen heran. „In wirtschaftlicher Hinsicht wird Europa abrutschen“, fürchtet der Niederlassungsleiter von Mercuri Urval in München. „Die immensen Talente in den BRIC-Staaten werden ihr Know-how verstärken, auch in der Hochtechnologie. HR muss Arbeitskräfte aus den Emerging Markets holen und auch dafür sorgen, dass die Leute später ordentlich zurückgebracht werden.“ Dafür müsse der Personaler viel vom Geschäft verstehen und eine sozial interaktive Rolle einnehmen. Was macht HR 2030 sonst noch? „HR wird viele Aufgaben abgeben müssen“, bedauert Breiski „aber nicht das Gewinnen und Motivieren von Leuten und die Konzentration auf Talente und Leistungsträger.“
Oliver Maassen, Geschäftsführer bei Pawlik Consultants, stimmt dem Drohszenario im Prinzip zu. Schuld daran sei aber nicht die Verschiebung der globalen Wirtschaftsgewichte, sondern diejenigen, die HR kraftlos werden ließen. Wie Dave Ulrich zum Beispiel: „Er hat die Mechanisierung der Funktion vorgegeben“, erklärt Maassen, „hat es aber gar so nicht gemeint. Wir haben das in Europa falsch verstanden.“ Statt Human Resources, sagt der Consultant, müsse es heißen: Resources for Humans. „Wir sind falsch aufgestellt in HR. Das meiste sind Prozessthemen, Technokratenthemen und nicht Kulturthemen. Man muss heute den Nachweis bringen, was HR in Zahlen und Fakten bedeutet. Dabei können wir längst nachweisen, was der Verlust an Kulturarbeit kostet.“ Weiter will sich Maassen nicht zur Zukunft der Profession äußern. Er muss pfeifen, ganz laut pfeifen. Cooler gibt sich Helmuth Uder, leitender Berater bei Towers Watson. Ausgehend von seiner Diagnose, derzufolge die Wertschätzung der HR sinke, müsse sich der Bereich stärker positionieren und einen Wertbeitrag zum Geschäft liefern. Passiere das nicht, sieht freilich auch Uder schwarz: „Vieles wird bis 2030 zu Beratungshäusern gehen. Übrig bleiben die Center of Expertise. Und HR als interner Consultant.“ Was Susanne Harvie von Robert Half nur graduell anders sieht: „Wenn sich HR nicht durch umsichtiges, vorausschauendes und dabei immer auch betriebswirtschaftliches Verhalten dem Business empfiehlt, wird es zum administrativen Verwalter werden.“ Zur Abwehr ihres drohenden Bedeutungs- und Machtverlustes müssten sich die Personaler in Bewegung setzen und Mehrwerte schaffen. „Wir müssen dahin kommen, dass der CEO vor einer Entscheidung zu HR kommt und nicht erst hinterher, damit von dort aufgeräumt wird.“
Ist der Zug abgefahren?
Kein Berater, der mehrheitlich von HR-Aufträgen lebt, sagt offen: „Leute, der Zug ist abgefahren.“ Aber so denken alle – ausgenommen einige wenige Idealisten, die fest daran glauben, dass Kapitalismus und Menschlichkeit zwei Seiten derselben Medaille sind. Die anderen sehen schlicht Münzen, und wenn deren Zustrom an einer Stelle zu versiegen droht, muss man neue Quellen erschließen. Zweifellos macht sich auch die Hay Group Gedanken um ihr Firmenkundengeschäft.
„Ein völliges Verschwinden der HR-Funktionen, wie wir sie kennen, ist nicht wahrscheinlich, aber durchaus möglich“, heißt es in der jüngsten Studie zur Zukunft von HR. Das kann man als Warnung verstehen oder als subtile Anregung. „Natürlich kann man die Frage stellen, ob die Rolle von HR nicht von anderen Gruppen übernommen und HR damit eingespart werden kann. Theoretisch ist dies möglich.“ Wie, zeigt der ansatzweise ausgerollte Schlachtplan: Ordnungspolitik und Governance gehen an die Hausjuristen, den Service erbringen die Finanzer, das Management kümmert sich um die Mitarbeiter. Messer und Hände abgewischt, fertig.
Während Christian Scholz aus Saarbrücken den Jüngsten Tag anbrechen sieht, hält Jutta Rump von der Fachhochschule Ludwigshafen das Doomsday-Gerede für überzogen. „Ein noch größerer Teil der Personalaufgaben wird zwar digitalisiert werden“, sagt sie voraus, „aber was im Kopf passiert, wird man nicht durch künstliche Intelligenz ersetzen können.“
Produktion und Arbeitsplätze werden 2030 aus Asien zurückgekehrt sein, weil sich das Lohnniveau bis dahin dem Westen angenähert habe. Das neue Asien sei dann Afrika. Dank seines innovativen Mittelstandes gehöre Deutschland jedoch zu den Gewinnern, deshalb gebe es keinen Grund, HR aufzugeben, „jedenfalls nicht die Verwaltung und Teile des Gehirns.“ Personal werde zu einem schlagkräftigen Instrument der globalen Investitionspolitik – „allerdings geschrumpft auf die gestaltenden Funktionen.“
Zwischen Armageddon und Heilsversprechen
In der quantitativen Prognose sind sich Rump und Scholz also einig, nicht aber in der qualitativen. Und wo die eine mit positiven Verstärkern in die Köpfe dringen will, setzt der andere auf die Methode Armageddon, kombiniert mit einem Heilsversprechen. „Wir kommen zu einer immer intensiveren Entkernung der Personalabteilung“, weissagt Scholz seit Jahren, „aber eine kleine Zahl von Unternehmen wird bewusst dagegensteuern: Unternehmen aus wissensintensiven Bereichen, IT-Unternehmen, vielleicht Banken, wer eben auf Top-Mitarbeiter angewiesen ist.“ Gespräche, die er augenblicklich mit fünf, sechs Firmen führe – ob in seiner Rolle als Hochschullehrer oder in der als Chefberater des Saarbrücker Instituts für Managementkompetenz, ließ er offen – machten ihm Hoffnung, dass der Niedergang des Berufsfelds zumindest in Teilen abgewendet werden könne. Entscheidend sei, so der Professor, dass man gute Personalarbeit leiste, „mit bewusst ausgewählten externen Partnern unter Federführung der Personalabteilung.“ Andernfalls gehe die Auflösung von HR weiter, unter tätiger Beihilfe von Beratern, Medien und Kongressveranstaltern, die den Personalern ständig zuriefen, wie toll sie seien. Das seien sie aber gar nicht – Beweis: die steigende Outsourcingquote.
„Personalcontrolling, Reporting, Führungskräftebetreuung, Lohn- und Gehalt ist schon weg, auch das Recruiting ist oft an Externe abgegeben. Ab einem bestimmten Punkt kann man das Absterben nicht mehr durch Gejubel kompensieren. Dieser Punkt ist noch vor 2030 überschritten.“
Personaler neigen zur fortwährenden Klage
Als Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ist Karl Brenke bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der Sozialwissenschaftler recherchiert soeben das Thema Arbeitszufriedenheit. „In den USA ist die Diskussion sehr viel weiter als in Deutschland“, stellt er fest, „wir haben hier ziemlich viele weiße Flecken.“ Dafür beschäftige man sich intensiv mit Personaladministration. Das verstehe er auch, sagt Brenke: „Bürokratien neigen dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das Gefühl habe ich auch beim HR Management.“ Personaler neigten zur fortwährenden Klage, um ihre Arbeit als bedeutend dazustellen. „Man gibt nicht zu, dass man eigentlich gar nicht so große Probleme mit dem Recruiting hat, wie man es nach außen darstellt. Man will Bewerber, die zu 150 Prozent passen, weil das den Einarbeitungsaufwand verringert. Im Umkehrschluss: Man achtet bei Bewerbern nicht auf deren Potenziale, sondern sucht das Haar in der Suppe.“ Seine Schlussfolgerung angesichts der wachsenden Konkurrenz auf den Weltmärkten: „Das kann nicht so bleiben.“
Es ist also eine schlechte Idee, das HR-Ressort aus dem Vorstand zu werfen? „Nö“, sagt Brenke, „warum sollen die Fachabteilungen nicht besser Bescheid wissen, was auf der Personalseite nötig ist? Warum soll eine Abteilung dazwischen stehen, die eher bremst als fördert?“ Und wer schafft in Zukunft die Fachkräfte heran? „Bei einem knapperen Arbeitskräfteangebot und als Folge steigender Löhne sind betriebliche Anpassungsmaßnahmen nötig: Rationalisierungs-, Weiterbildungs-, Innovationsstrategien“, erklärt Brenke, „darin sind dann alle Bereiche des Unternehmens eingebunden. Im besten Fall wird der Personaler zum Veränderungsmanager. Als Personalchef spielt er keine besondere Rolle mehr.“
Personalberater halten sich bedeckt
Auch Personalberater müssen ihren Wirt pflegen. Kein Wunder, dass die meisten fest an die Zukunft von HR glauben. So reden sie jedenfalls. Astrid Habeder-Preuß war 15 Jahre lang Personalerin, bevor sie zu Heimeier und Partner gewechselt ist. Die Headhunterin sieht keinen Schatten auf HR. „Der demografische Wandel ist ja rechenbar“, sagt sie, „wir sehen ja schon, wie schwierig es ist, gute Leute zu finden.“ Die Kunden kümmerten sich intensiv um die Weiterentwicklung von administrativen Prozessen zur qualitativen Unterstützung der Unternehmen, um das Talent Management et cetera. Nun gut, überall sei das noch nicht angekommen. Aber die Personaler seien auf gutem Weg und daher: Daumen rauf für die Zukunft.
Allerdings stehe HR unter Druck, gibt Oliver Maassen von Pawlik Consultants zu bedenken, was freilich nicht an der Qualität der Personalarbeit liege, sondern an der „Schwäche der handelnden Akteure“. Womit die Ebene über HR gemeint ist: „Das kann doch nicht sein, dass Unternehmen den HR-Vorstand nicht mehr als eigenständige Funktion ansehen“, schimpft Maassen, bis 2012 Bereichsvorstand Personal bei der Hypovereinsbank. Sicher ist er sich trotzdem nicht, dass HR die Zukunft in jetziger Gestalt erlebt. Ebenso wenig wie Michael Faller von der Baumann Personalberatung: „Kaum ein Personaler kümmert sich noch um Themen ohne aktuelle Relevanz“ sagt der Arbeitsrechtler, „strategische Personalarbeit ist in den Unternehmen nicht erwünscht.“
Eine starke Behauptung, die Thomas Sattelberger weder stützen noch bestätigen mag. Versteht man ja auch: Als ehemaliger HR-Vorstand kann er seinen Kollegen schwerlich ins Gesicht sagen, sie hätten versagt. Und als mit dem Business gut vernetzter AR-Vorsitzender, Stiftungsvorstand und Vizepräsident kann er für Personal nicht die Kohlen aus dem Feuer holen, ohne sich selbst die Hände zu verbrennen. „Man muss ja sehen, woher die Personaler kommen“, holt er aus, häufig nämlich aus der Sozio-, Psycho- und Kulturecke und damit weit weg von der Welt der Zahlen, Daten, Fakten. „Auf dieser Klaviatur kann HR nicht spielen“, sagt Sattelberger ohne Mitleid, „die Personaler sind dem nicht gewachsen.“ Mit der Folge, dass die Funktion keine Überlebenschance habe: „Wenn wir nicht zu einer neuen Form der Unternehmenssteuerung kommen, wird HR aufgelöst.“ Das könne man gern schreiben, er bittet nur darum, ihn nicht allzu defätistisch herüberkommen zu lassen. Eigentlich sei er nämlich optimistisch.
Und wie geht es nun wirklich weiter mit HR? Keine Ahnung. Außen sieht man sie nicht, innen herrscht hektische Betriebsamkeit. Möglicherweise sind alle gerade heftig beschäftigt, hin zum Business Partner oder wieder zurück. Oder im Umzugsstress. In das Gebäude am Rande des Firmengeländes.
Szenario 1: Personaler im Mittelstand
Auf der anderen Seite
„Und dann schauen Sie sich eben eine Zeitlang auf der anderen Seite um.“ Wieder und wieder kaut er auf dem eben gehörten Satz herum. Was hat der Alte damit gemeint? China? Oder dass er immer noch Berater werden könne?
Vor einigen Jahren hatte er tatsächlich mit einem Wechsel gespielt. Das war in der schweren Rezession gewesen, als der einst so gefeierte deutsche Mittelstand letztlich doch in die Knie gegangen war. Bis zuletzt hatte der Familienbetrieb gekämpft: mit mehr Computern gegen weniger Fachkräfte, mit der Auslagerung sämtlicher Nicht-Produktionseinheiten gegen den Gewinnrückgang und zuletzt mit einem koreanischen Vertriebspartner gegen das Importembargo der Chinesen. Denn nachdem die ökonomische Supermacht die 23 Prozent-Marke am globalen Sozialprodukt geknackt hatte und westliche Erzeugnisse von heute auf morgen unerwünscht waren, bot das fernöstliche Bandenspiel den einzigen Ausweg. Die verarmten europäischen Märkte sogen nur noch Dienstleistungen auf, die USA rückentwickelten sich zum Schwellenland, Afrika und Australien gehörten den Chinesen. Damals hatte sich der Produktionschef für den Aufbau des Werks in Foshan stark gemacht und sich sogar als Leiter vor Ort angeboten. Zähneknirschend hatte der Senior nachgegeben und die von Beijing verordnete Schachtelbeteiligung in Kauf genommen. Er als Ressourcenoptimierer hatte noch gewarnt: Der schon jetzt kaum spürbare Arbeitskostenvorteil werde sich bald ins Gegenteil verkehren, und eines Tages sitze das Know-how in fremden Köpfen, die nur höflich lächelten, wenn man sie einlud, ihr Wissen mit glanzlosen Firmen in Deutschland zu teilen. Aber gegen 300 Millionen Euro Umsatz, die Knall auf Fall wegzubrechen drohten, konnte er schlecht argumentieren – schon gar nicht als jemand, dessen Einkommen progressiv an die Senkung der Produktionskosten gekoppelt war. Vielleicht hätte er damals wirklich gehen sollen.
Denn nach langem Widerstand hat der Senior nun doch dem Drängen der chinesischen Beteiligungsagentur nachgegeben. Wie hat er soeben kurz und bündig erklärt: „Die Entwicklung geht nach Foshan, die Steuerungseinheit wird aufgelöst. Die Zentralkoordinatoren für Finanzen, Ressourcen und Vertrieb, Sie und Ihre Kollegen also, bekommen den üblichen Jahresvertrag als Begleitberater. Und dann schauen Sie sich eben eine Zeitlang auf der anderen Seite um. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Auf dem Heimweg wird er nachdenken müssen, ob er seiner Familie den erneuten Kontinentalwechsel schmackhaft machen kann.
Szenario 2: Personalberater
Talente unter Vertrag
„Der Ökonomiekurs war heute wohl besonders spannend“, denkt sie angesichts der Gruppe aufgeregt gestikulierender Zehntklässler auf dem Weg in die Mensa. Aus der Erfahrung vieler Schulvormittage weiß sie, dass sie jetzt auch zum Essen gehen kann. Ohne die volle Konzentration der Jugendlichen hat es keinen Sinn, sie zum Gespräch mit dem Talent Agent einladen zu wollen. Mit leichtem Bedauern steht sie auf, greift zur Handtasche und verlässt den Raum. Als sie die Glastür hinter sich abschließt, fällt ihr Blick auf das darin eingelassene Hologramm mit dem flammenden Logo. Wärme und Dynamik, das passt perfekt zu ihrem Arbeitgeber VGS: Vertraglich Gesicherte Zukunft.
Die VGS schützt die jungen Menschen tatsächlich vor der frostigen Kälte des freien Arbeitsmarktes. Selbstverständlich nicht alle Schüler einer Kohorte, aber diejenigen, deren Leistungen und Verhalten streng definierte Talente erkennen lassen. Wenn sie sich als mündige 16-Jährige dafür entscheiden, mit VGS einen Dekadenkontrakt mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit zu schließen – das Marketingteam hatte den branchenüblichen Begriff „Zehnjahresvertrag“ entsetzt zurückgewiesen; es hieß, er würde die Youngster erschrecken –, dann können sie sicher sein, ihre berufliche Zukunft in die allerbesten Hände gelegt zu haben. Nun gut, das sagen alle Talentagenturen. Doch weil sie früher für andere Zukunftsfinanzierer gearbeitet hat, weiß sie, dass es vor allem auf die Länge und Qualität der Kundenliste ankommt. Rund 350 Arbeitgeber nutzen bereits ihren Account bei VGS, um ihre Fach- und Führungskräftelücke keinesfalls unter die Schmerzgrenze sinken zu lassen. Die Suche nach den Mitarbeitern von morgen übernehmen Talent Agents wie sie, meist ehemalige Recruiter, fest installiert in Schulen, Universitäten, Sportvereinen und Jugendclubs. Wie stolz war sie auf ihre Idee, sich bei den Nachwuchsorganisationen der Parteien umzuschauen! Allein dort hat sie in diesem Jahr knapp zwei Dutzend Kontraktpartner für VGS gewinnen können. „Es kostet Sie keinen Cent“, ist ihr Lieblingsargument, „und Sie können ganz sicher sein, dass wir Sie während Ihrer Ausbildung rundum betreuen. Wir sind gründlich vertraut mit allen Studienfächern und Hochschulen, und wenn wir Sie in unserer Testing Area noch besser kennengelernt haben, dann garantieren wir Ihnen den optimalen Match, die Übernahme der Studiengebühren und nach Ihrem Abschluss die besten Arbeitgeber. Denn wir nehmen nur Gewinner.“
Was sie nicht sagt: Bis die jungen Menschen marktreif sind, kosten sie uns Geld. Danach verdienen wir an ihnen – zehn oder vielleicht auch 20 Jahre lang. Denn so lange verpflichten sich die Talente zur exklusiven Vermittlung durch VGS. Unser Chef war schließlich auch mal im Ökonomiekurs.
Szenario 3: Personaler im Konzern
Jobnomaden
Im Grunde wäre es vernünftig, sich einer neuen Aufgabe zuzuwenden. Das Projekt war abgeschlossen, die Feedbacks der Trainingsgruppe zur Kenntnis genommen und archiviert, der Vorstand hatte sich schriftlich bedankt, und in seiner Mailbox häuften sich Verfügbarkeitsanfragen. Auf einen hochqualifizierten Weiterbildungsexperten wie ihn wartete mehr als genug. Andererseits wusste er, dass das nächste Projekt in Kürze durch die Pipeline sein und er gefragt werden würde, ob er es übernehmen könne. Mal sehen, was bei dem Meeting heute Nachmittag herauskommen würde.
Es barg eine, nun ja, ziemliche Überraschung. „Wie nicht anders zu erwarten, haben Sie auch diese Aufgabe glänzend gelöst“, hatte der Bereichsleiter gesagt und ihn dabei freundlich angelächelt. „Die Techniker loben Sie für die Auswahl des Trainers, der Methode und der Location, und der Leiter Fertigung ist sicher, dass er mit dieser Mannschaft gut arbeiten kann. Meinen besten Dank auch hierfür und überhaupt: In den letzten zwei Jahren waren wir mit Ihnen sehr zufrieden.“ Er stand auf, trat an den Wandmonitor und wischte sich zum Education Scheduler 2030. „Wie Sie wissen, steht das nächste Projekt kurz vor der Freigabe. Vieles spricht dafür, den Auftrag erneut an Sie zu geben.“ Der Bereichsleiter hielt kurz inne. „Aber das werde ich nicht tun.“ Der Projektleiter schaute fragend zu ihm hoch. „Sie sind schon eine ganze Zeit lang für uns tätig und kennen unsere Abläufe gut. Vielleicht zu gut. Vielleicht so gut, dass Sie nicht mehr daran denken, dass es auch anders laufen könnte. Grundsätzlich halte ich es für strategisch besser, nicht so lange zu warten, bis sich ein hochqualifizierter Mitarbeiter von selbst ein neues Projekt sucht und kündigt. Bevor Sie verschwinden, ist es klüger, wir geben Sie für andere Kunden frei. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie danach, sagen wir in drei oder vier Jahren mit einem neuen Blick und frischen Ideen wiederkommen, ist dann wesentlich höher.“
Zuerst schien ihm die Kündigungslogik reichlich schräg. Doch als er länger darüber nachdachte, verstand er, was sein Kunde hatte ausdrücken wollen. Zwei Jahre Projektleitung in der Weiterbildung der technischen Mitarbeiter ließen das Risiko, dass er betriebsblind werden würde, auf ein unangemessen hohes Maß steigen. Und wenn er ehrlich war, musste er dem Betriebsleiter zustimmen. „Ich halte Sie für einen exzellenten Weiterbildungsspezialisten“, hatte er zum Abschied versichert, „zählen Sie deshalb unbedingt auf meine Empfehlung im Verbundnetzwerk. Aber ich kann auch verstehen, wenn Sie nun erst mal etwas ganz anderes sehen wollen. Ich wünsche Ihnen alles Gute – und klopfen Sie später gerne wieder bei uns an.“
Autorin
Christine Demmer, freie Journalistin, Värnamo, Schweden
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