Ausgabe 4 - 2014
Nicht nur die Traumkandidaten suchen
Unternehmen stehen weiterhin vor der Herausforderung, dem Fachkräftemangel adäquat zu begegnen. Personaler müssen ihre bisherigen Herangehensweisen überdenken und neu ausrichten. Ein Plädoyer für den Perspektivenwechsel nach innen.
Der Fachkräftemangel stellt eine der größten Herausforderungen für das Personalmanagement deutscher Unternehmen dar. Die Problemstellung wird durch entsprechende Statistiken seit einigen Jahren eindrucksvoll belegt. So stellte der Verein Deutscher Ingenieure 2012 die „größte Ingenieurslücke seit elf Jahren – 110 000 offene Stellen“ fest, und laut Deutschem Industrie- und Handelskammertag konnten 2011 37 Prozent der Firmen offene Stellen zwei Monate oder länger nicht besetzen. Doch Unternehmen tun sich nach wie vor schwer, geeignete Lösungen für die vielfach konstatierte Fachkräftelücke zu finden. Woran liegt das?
Von der Außen- zur Innenperspektive
Der bisherige, „traditionelle“ Ansatz der Mehrzahl der Unternehmen rückt externe Recruiting-Kanäle sowie die Personalmarketing-Strategie in den Fokus. Die Employer Branding-Diskussion versucht, in diesem Sinne Akzente zur Positionierung des Unternehmens auf dem Arbeitsmarkt zu setzen (vgl. Trost 2009). Dem Fachkräftemangel wird primär durch „verstärktes“ und „besseres“ Personalmarketing begegnet – notfalls durch den kostenintensiven Einsatz von Personalberatungen.
Nachteilige Konsequenzen dieses Vorgehensmodells sind aus unserer Sicht im Wesentlichen:
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hohe Kosten für Personalmarketing und -beschaffung bei unsicherer „Rendite“,
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hohe Opportunitätskosten einer Nichtbesetzung oder späten Besetzung, die oft nicht kalkuliert werden,
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hohe Entlohnungserwartungen der „geeigneten“ externen Kandidaten sowie
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Einarbeitungskosten für externe Einstellungen, welche oft vernachlässigt werden.
Wir sind überzeugt: Der Fachkräftemangel gerade in Bezug auf IT-Experten oder Ingenieure verlangt einen Paradigmenwechsel in der Personalbeschaffungsstrategie. Um dem Fachkräftemangel effektiver zu begegnen, schlagen wir ein Konzept vor, welches eine Fokusverschiebung der HR-Beschaffungsstrategie fordert: eine Orientierung nach innen.
Den Talent-Begriff ausweiten
Unternehmensinterne Potenzialförderung findet klassischerweise nur für erlesene Belegschaftsgruppen in Talent Pools statt, in welche die Top-Talente des Unternehmens oftmals erst nach Bestehen eines Assessment Centers aufgenommen werden. Es schließen sich vielfach laufbahnspezifische, aber standardisierte Qualifizierungsprogramme an (vergleiche Enaux/Henrich 2011). Maßnahmen im Retention Management von kritischen Mitarbeitergruppen setzen meist erst dann ein, wenn es fast schon zu spät ist, einen talentierten Mitarbeiter zu halten. Der zentrale Aspekt unseres Vorschlages ist, dass das vorhandene Talent Management im Unternehmen durch eine deutlich frühzeitigere Betrachtung von internen Mitarbeitern geprägt wird und damit als Quelle für schwer zu besetzende Positionen aufgefasst wird.
Zu identifizieren sind interne Mitarbeiter, die auf schwer extern zu besetzende Positionen bereits frühzeitig versetzt werden können, auch wenn sie nicht der ideale, hundertprozentig fertige Kandidat sind, sondern erst circa 80 Prozent der notwendigen Kompetenzen mitbringen. Eine zielgerichtete Qualifizierung kann dann einsetzen.
Dieses Vorgehen würde ebenfalls eine veränderte Ausrichtung des Personalmarketings nach sich ziehen. So erscheinen einerseits inhaltliche Anpassungen zweckmäßig: die Bereitschaft des Unternehmens, auch „unfertige“, aber dafür Potenzial tragende Personen einzustellen, die dann mit eigenem Engagement und Initiative sowie mit aktiver und zielgerichteter Unterstützung des Unternehmens schrittweise in ihre Rolle hineinwachsen, muss offensiv kommuniziert werden. Darüber hinaus erweitert sich die Ausrichtung der Personalmarketing-Aktivitäten dann auch auf den internen Arbeitsmarkt. Mitarbeiter in traditionell geprägten Umgebungen sollten zunächst erfahren, dass das Unternehmen neue Wege gehen will, um dadurch ermutigt zu werden, sich auf eine Position zu bewerben, für die sie sich selber (noch) nicht als „Idealkandidat“ einschätzen würden.
Abbildung
Voraussetzungen im Unternehmen

Die Strategie, vakante Stellen öfter mit „unfertigen“, internen Potenzialträgern zu besetzen, erfordert ein Umdenken auf verschiedenen Ebenen.
Vorteile der neuen Strategie
Die Vorteile dieser neu ausgerichteten Beschaffungsstrategie sind unter anderem, dass mehr Mitarbeiter als Teil der Potenzialpipeline zu betrachten sind und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Qualifizierung tendenziell höher ist. Gleichzeitig weist dieses Vorgehen damit eine bessere „Rendite“ als die externe Rekrutierung auf. Des Weiteren kann das gezielte Versprechen von Entwicklungsperspektiven in engen Arbeitsmarktsegmenten einen Wettbewerbsvorteil darstellen und vor allem die Entwicklung von „80-Prozent-Kandidaten“ als kostengünstigere Variante des Recruitings (kein Risiko, den „Falschen“ einzustellen) angesehen werden. Die Verringerung von Opportunitätskosten einer Nichtbesetzung, bessere Möglichkeiten für einen Kosten-Forecast sowie geringere Einarbeitungskosten interner Kandidaten sind weitere Vorzüge der veränderten Herangehensweise.
Eine ganzheitliche Begegnung des Fachkräftemangels durch gezielte Talent Management-Maßnahmen bedeutet heruntergebrochen:
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Recruiting: Nicht immer nur den hundertprozentig geeigneten Kandidaten einstellen! Auch interne Kandidaten identifizieren!
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Appraisal: Leistungsdefizite auch als Ausgangspunkt für eine Entwicklungsförderung sehen!
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Development: Mitarbeiter und Führungskräfte sind primär für die Entwicklung verantwortlich! HR setzt die Leitplanken! Strukturierte Aufgaben-/ und Rollenwechsel zur Entwicklung nutzen – dazu gezielt Entwicklungspositionen definieren!
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Retention: Talente als Unternehmensressource und nicht als Bereichsressource auffassen! Führungskräfte müssen loslassen können und dürfen!
Voraussetzungen im Unternehmen
Die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Implementierung einer derartigen HR-Beschaffungsstrategie ist es, Top Management, Führungskräfte, HR, aber auch das Controlling sowie die Mitarbeiter über das Konzept und den damit einhergehenden Paradigmenwechsel allumfänglich zu informieren und eine neue Denkweise zum Umgang mit Talenten in der Organisation zu etablieren. Gleichzeitig gilt es, die Verbuchung von Kosten für Qualifizierungsmaßnahmen und externem Recruiting in beiden Fällen gleich zu handhaben, um das Entscheidungsverhalten von Führungskräften zu verändern und „80 Prozent-Kandidaten“ damit nicht „teurer“ erscheinen zu lassen als den „idealen Externen“. Die stakeholderbezogenen Voraussetzungen sind zusammengefasst im Infokasten oben auf dieser Seite dargestellt. Die dargestellten Akzentverschiebungen im Talent Management weisen das Potenzial auf, für Unternehmen die Weichen in Bezug auf den Umgang mit dem Fachkräftemangel neu zu stellen.
DIHK (2011): Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Fachkräftesicherung: Der DIHK-Arbeitsmarktreport 2011.
Enaux, C./Henrich, F. (2011): Strategisches Talent-Management: Talente systematisch finden, entwickeln und binden, 2011.
Fuchs, W. (2012): Streitthema Fachkräfte; Interview im KarriereSPIEGEL vom 15.02.1012.
Trost, A. (2009): Employer Branding; in: Trost, A. (Hrsg.): Employer Branding: Arbeitgeber positionieren und präsentieren, 2009, S. 13-77.
Autoren
Prof. Dr. Timm Eichenberg, Professor für Personal- und Projektmanagement, Hochschule Weserbergland,
eichenberg@hsw-hameln.de
Roland Bursy, Dozent für HR Service Delivery, Hochschule Weserbergland
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