Ausgabe 4 - 2016
Die Reisebegleiter

Die Digitalisierung verändert die Wirtschaft rapide. Konzerne und Mittelständler trachten nach Transformation und strategischer Agilität. Wir haben mit den denjenigen gesprochen, die sich damit auskennen: Change-Management-Berater aus renommierten Häusern, von der Boutique bis zum Global Player. Sie sind Sparringspartner in komplexen Projekten und geben Führungskräften eine neue Kernkompetenz mit auf den Weg: das Segeln auf Sicht.
Hartmut Rosa, der große Soziologe des rasenden Lebens, hat viele hundert Seiten der klugen Erörterung zum Thema Beschleunigung vorgelegt. So viele, dass seine eigentliche Definition des Konzepts inmitten der vielen großen Worte so schlicht daherkommt wie ein frühkindlicher Dreiwortsatz: Beschleunigung, fasst Rosa irgendwann so einfach wie treffend zusammen, sei nichts anderes als „Mengenwachstum pro Zeiteinheit“.
Change-Management-Guru John Kotter (siehe Interview in Ausgabe 2/2016) kommt in seinem aktuellen Werk „Accelerate“ schneller auf den Punkt. Gleich auf den ersten Seiten finden sich dort einige instruktive Grafiken, die sich in etwa so zusammenfassen lassen, dass sich der Lauf der Dinge – Kotter wählt als Beispiele die Anzahl an Patentanmeldungen, die durchschnittliche Festplattenspeicherkapazität oder die Menge gehandelter Aktien – in den vergangenen 20 Jahren exponentiell beschleunigt hat und sich das Neue heute und in Zukunft immer rasanter in der Welt verteilt: Mengenwachstum pro Zeiteinheit eben.
Die reisende Organisation
Ob wir also durch die Brille des Gesellschafts- oder jene des Wirtschaftswissenschaftlers schauen, die Diagnose bleibt dieselbe: Spätestens seitdem das Thema Digitalisierung richtig Fahrt aufgenommen hat, ist das, was um uns herum passiert, weniger greif- und steuerbar. Diese Feststellung teilen die Experten unseres Round Tables zum Thema Change Management. „Digitalisierung und Globalisierung treiben die Unternehmen sehr stark vor sich her“, sagt Claudia Schmidt, Geschäftsführerin bei Mutaree. „Ganze Organisationen verändern sich, die Kooperationsprozesse werden komplexer und globaler. Zunehmend heben auch traditionelle Branchen die Hand und sagen: ‚Bei uns tut sich gerade etwas ganz Grundsätzliches, wir brauchen Unterstützung.‘“ Viele Unternehmen kämen, so Schmidt, mit einem vermeintlich klaren Ziel vor Augen – in der Auftragsklärung aber stelle sich dann heraus, dass das eigentliche Problem ein anderes und der Organisation gar nicht bewusst ist. Dr. Frank Kühn, Inhaber von Organisation Change Performance, findet die passende Metapher: „Mir gefällt das Bild von der ‚reisenden Organisation‘: Da weiß man nicht mehr, was hinter der nächsten Wegbiegung passiert. Was braucht eine solche Reisegruppe auf einer Expedition? Wie kann Führung Verlässlichkeit und Vertrauen schaffen, um die Situation hinter der Wegbiegung bestmöglich zu meistern – auch wenn sie noch unbekannt ist?“
![]() | „Ständige Veränderung ist das, was wir heute als normal begreifen müssen. Die alten linearen Modelle sind da nur noch bedingt hilfreich. Es kann ja nicht sein, dass wir sagen: „Die Welt ist dysfunktional geworden, die macht nicht mehr, was unser Schema vorgesehen hat.“ |
![]() | „Kultur, Organisation und Strategie gehören zusammen. Als Change Manager sind wir Generalisten und dürfen uns nicht in die weiche Ecke drängen lassen. Wir sind voll mitverantwortlich für den Erfolg des Veränderungsprozesses. |
In neuen Dimensionen denken
„Die Digitalisierung und die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Daten zwingen Organisationen dazu, in anderen Dimensionen und Zusammenhängen zu denken“, stellt auch Dr. Ursula Bohn, Leiterin Change Management bei Capgemini, fest. „Hinzu kommen ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel, eine veränderte Art der Zusammenarbeit, die Globalisierung. In ganz vielen Unternehmen ist das Bewusstsein da: ‚Das können wir mit einem reinen Projektmanagement nicht stemmen.‘“ Gefragt sei ein Umdenken – auch in der Change-Beratung: „Ständige Veränderung ist das, was wir heute als normal begreifen müssen.“ Daher gehe es heute darum, stabile Anker für Organisationen zu finden und zugleich Agilität und Schnelligkeit in das System zu bekommen. Bohn: „Das ist ein Denk- und Diskussionsprozess, der gerade erst beginnt.“ Nun ist Agilität sicher ein erstrebenswerter Zustand für Mensch und Organisation, aber eben auch eines der Modewörter der Beraterbranche, weshalb Dr. Michael Groß, Geschäftsführer von Groß & Cie., mahnt, genau hinzusehen: „Plötzlich werden Schlagwörter wie ‚Agilität‘ oder ‚Design Thinking‘ auf Themen aller Art gesetzt, teilweise ohne Sinn und Verstand. Man muss schon sehr genau prüfen, wo das sinnvoll ist. Denn bei agilen Methoden geht es häufig mehr noch um die Haltung als um die Methode als solche.“ Auch Dr. Daniel Tasch, Partner und Vorstand bei Promerit, warnt davor, sich von Buzzwörtern aus der Ruhe bringen zu lassen: „Disruption ist auch so ein Marketingbegriff. Man muss natürlich nicht per se disruptiv sein.“ Die Fähigkeit zur Transformation sei aber „eine Überlebensnotwendigkeit geworden: Agilität in Transformationsprozessen ist kein Etikettenschwindel, sondern eine schlichte Notwendigkeit“. Das verändere auch den Charakter der Projekte, so Tasch: „Die Aufträge werden entlang der HR-Wertschöpfungskette wesentlich komplexer. Wenn man als Unternehmen eine neue Strategie verfolgt, braucht man neue Kompetenzmodelle, man muss neue Anforderungen definieren, da braucht es mehr als nur punktuelle Begleitung. Viele Unternehmen suchen einen Berater, der diesen gesamten Weg mitgeht.“
Berater arbeiten agil
„Das Stichwort Agilität setzt sich auch in die Beratung fort“, betont Martin Gros, Geschäftsbereichsleiter Consulting bei ComTeam. Konkret heißt das: Auch die Berater selbst passen ihre Haltung und ihre Methoden den veränderten Umweltbedingungen an. „Unsere Arbeit muss heute in kleineren Happen, kürzeren Zyklen vonstattengehen“, erklärt Gros, „und diese müssen wir dann sequenziell evaluieren.“ Auf dieser Erkenntnis, eng angelehnt an das agile Projektmanagement, basiert auch die Idee eines „Change Managements auf Sicht“, die Frank Wippermann, Geschäftsführer bei flow consulting, mit in die Runde bringt: „Unsere Methode ist die kleinschrittige, iterative Zusammenarbeit mit dem Kunden: Das, was wir übersehen können, planen wir per klassischem Projektmanagement für sechs bis acht Wochen und hinterlegen es mit sogenannten Messkennzahlen. Dann evaluieren wir den Prozess, lernen für die nächste Runde und machen den nächsten Projektplan.“ Als Change-Berater, so Wippermann, sei man immer stärker in der Rolle des Sparringspartners: „Wir treten ja an, Personen und Organisationen in unruhigen Zeiten Orientierung zu geben.“ Gleichwohl sei es eine Kompetenz, „Ungewissheit auszuhalten, ohne den Rest der Organisation verrückt zu machen – auf Kunden- wie auch auf Beraterseite. Jedes Garantieversprechen, das einen gewissen Zeitraum überschreitet, ist für mich eine leere Hülle.“
![]() | „Zufriedene Mitarbeiter haben häufig die geringste Veränderungsbereitschaft. Zwischen Zufriedenheit und Selbstzufriedenheit liegt ein sehr schmaler Grat. Die Kunden erwarten von uns, ein bisschen pushy zu sein – ohne den Bogen zu überspannen. |
![]() | „Mir gefällt das Bild von der „reisenden Organisation“: Da weiß man nicht mehr, was hinter der nächsten Wegbiegung passiert. Was braucht eine solche Reisegruppe auf einer Expedition? Wie kann Führung Verlässlichkeit und Vertrauen schaffen? |
Lineare Modelle sind out
Doch nicht nur das Geschäft und die Methoden der Berater ändern sich. Auch der Markt im Ganzen hat in den vergangenen 15 Jahren deutlich an Profil und Professionalität gewonnen: Liefen vor Jahren noch zahlreiche Projekte über persönliche Kontakte an, sind nun öffentliche Ausschreibungen insbesondere bei Großprojekten der gängige Weg zum Neugeschäft – mit entsprechendem Aufwand. Besonders im öffentlichen Sektor sehen sich die Berater mit teilweise extrem detaillierten Anforderungskatalogen konfrontiert. Wenn es zum Pitch kommt, sitzt der Einkauf der Kundenseite entweder gleich mit am Tisch oder wird im Nachgang hinzugeschaltet. Nicht, dass es keine Tipps oder persönlichen Empfehlungen mehr gäbe – aber der Nasenfaktor in der Beraterauswahl ist einer wesentlich dezidierteren Form der Selektion gewichen. Klar ist: Change-Berater brauchen heute die richtigen Referenzen, Methoden und Prozesse, um zu überzeugen. Außerdem müssen die Haltung, die jeweilige Spezialisierung und natürlich die führenden Köpfe zum Kundenunternehmen passen.
Der Blick ins klassische Change-Handbuch ist jedenfalls nicht mehr ausreichend. „Die alten linearen Modelle sind nur noch bedingt hilfreich“, sagt Capgemini-Beraterin Ursula Bohn, „es kann ja nicht sein, dass wir sagen: ‚Die Welt ist dysfunktional geworden, die macht nicht mehr, was unser Schema vorgesehen hat.‘“ Außerdem brächten die Kunden mittlerweile selbst gut sortierte Methodenkoffer mit. Gefragt sei daher beim Berater mehr und mehr der ganzheitliche Blick. „Es geht darum, vorhandene Methoden sinnvoll zu kombinieren und strategisch mitzudenken.“
„Die Kunst ist, am Anfang so smarte Fragen zu stellen, dass sich der Kunde selbst dekonstruiert“, sagt Michael Groß, „es geht darum, etwas anzustoßen, um zu sehen, wo die Lücken sind. Und diese Lücken dann zu füllen.“ Schon die exakte Auftragsklärung stelle ein eigenes, sehr wichtiges Projekt dar. „Wir klären mögliche Konflikte und bestimmen die Handlungsfelder, machen eine Cultural Due Diligence, eine Kulturanalyse mit Blick auf strategische Ziele. Das kann je nach Thema ein oder zwei Monate dauern.“ Entscheidend sei letztlich die „Changeability“ im Unternehmen, die Bereitschaft und Fähigkeit zur Veränderung. „Zufriedene Mitarbeiter haben häufig die geringste Veränderungsbereitschaft“, meint Groß, „eben weil sie zufrieden sind. Zwischen Zufriedenheit und Selbstzufriedenheit liegt ein sehr schmaler Grat. Die Kunden erwarten von uns, ein bisschen pushy zu sein – ohne den Bogen zu überspannen.“
Dialog schafft Vertrauen
Frank Kühn hält dagegen: „Dem Begriff ‚pushy‘ sollten wir das Wort ‚pully‘ gegenüberstellen. Das mag sich komisch anhören, ist aber entscheidend: Es geht in vielen Veränderungsprozessen gar nicht ums Drücken, sondern ums Ziehen. Egal, mit welchem Titel ein Change-Projekt antritt – es geht im Kern immer um Verständigung und Zusammenarbeit.“ Um ein Projekt zum Erfolg zu führen, sei daher heute weniger der klassische Meilensteinplan entscheidend als vielmehr die richtige Form der Kommunikation: „Wen müssen wir in welchen Schritten mit ins Boot nehmen, damit uns das Projekt gemeinsam gelingt?“
„Zentraler Erfolgsfaktor ist aus meiner Sicht der Dialog von Angesicht zu Angesicht“, stimmt Daniel Tasch zu. „Es geht darum, das Projekt im Dialog zu entwickeln. Wenn Sie mich nach meinem persönlichen Glaubensbekenntnis im Change Management fragen, so ist das mein Katechismus.“ Um diesen Dialog zu ermöglichen, brauche es Raum, Struktur und Gelegenheit. „Das müssen wir einfordern“, betont Tasch. „Wenn als Ergebnis Vertrauen herauskommt, unterschreibe ich das sofort.“
Strategie, Organisation, Kultur
Interessant ist, wie unterschiedlich die Berater den Markt in Bezug auf das wichtige, aber aktuell ebenfalls ziemlich heiß und von zahlreichen Köchen unterschiedlicher Begabung gekochte Thema Unternehmenskultur wahrnehmen. Den Stein ins Rollen bringt ComTeam-Berater Martin Gros: „Eines hat sich in den letzten zwei Jahren stark verändert: Wir werden immer häufiger explizit zum Thema Kulturveränderung angefragt.“ Leitbildveränderungen, neue Führungsgrundsätze, neue Formen der Zusammenarbeit. „Meine These ist: An der Spitze haben die Unternehmen heute verstanden, dass Unternehmenskultur ein erfolgsrelevanter Beitrag ist. Das macht Freude und Hoffnung.“ Gleichwohl betont Gros die Tragweite des Themas: „Kultur muss als Beitrag zu Erfolg und Ertrag verstanden werden, ähnlich wie eine IT-Einführung oder strategische Neuausrichtung geschäftsrelevante Gründe hat. Kultur, Organisation und Strategie gehören zusammen.“ Das habe auch Auswirkungen auf die eigene Rolleninterpretation: „Als Change Manager sind wir Generalisten und dürfen uns nicht in die weiche Ecke drängen lassen. Wir sind voll mitverantwortlich für den Erfolg des Veränderungsprozesses.“
Frank Wippermann macht andere Beobachtungen in der Praxis, kommt aber zur gleichen Analyse: „Wir bekommen selten explizite Anfragen zur Kulturveränderung. Am häufigsten sind es Themen der Strategieentwicklung oder es geht darum, Prozesse effizienter zu gestalten. Aber auch wenn nicht direkt nach der Organisationskultur gefragt wird, spielt diese eine Rolle. Wo der Einstieg ins Projekt auch erfolgt, Strategie, Struktur und Kultur müssen in einem komplexen Change-Vorhaben immer gleichberechtigt bedacht und stets aufs Neue platziert werden.“
„Kulturveränderungsprojekte als Selbstzweck sind problematisch“, sagt auch Claudia Schmidt. „Wichtig ist, dass Organisation und Berater die eigentliche Notwendigkeit einer Veränderung genau herausarbeiten: Geht es um Effizienz? Um Produktivität? Sollen die Margen gesteigert werden? Idealerweise unterstützt die Unternehmenskultur die Arbeit an diesen geschäftsrelevanten Zielen. Wenn sie das nicht tut, muss man natürlich versuchen, sie zu verändern. Aber die Kulturveränderung muss unbedingt im Business verankert sein.“
Bei Capgemini sei im letzten halben Jahr die Zahl expliziter Kulturanfragen angestiegen, berichtet Ursula Bohn: „Für mich ist das Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit. Die Organisationen merken: ‚Mit unserem Geschäft passiert etwas, uns brechen Margen weg oder Märkte oder wir sind nicht schnell genug.‘ Und wenn sich das nicht auf zwei konkrete Kennzahlen eindampfen lässt, heißt es: ‚Dann liegt es wohl an unserer Kultur.‘“ Das sei zu schwammig, die Unternehmen wollten etwas Greifbares, Verbindliches, Sichtbares. „Dann ist es an uns als Berater zu definieren: Woran können wir diese diffuse Veränderung festmachen? Wie ist diese Unsicherheit eingebettet ins harte Geschäft? Deshalb versuchen wir, immer eine Form von Messbarkeit in die Projekte zu bringen.“
Nur reden reicht nicht
Und damit wären wir bei einem beliebten Spiel in Geschäftsführungs- und Controller-Kreisen: dem Kennzahlen-Bingo. Seit ein paar Jahren darf HR hier mitspielen, hat sich ziemlich schnell die Regeln draufgeschafft und schon den einen oder anderen Signature Move entwickelt, so etwa das fachgerechte Einsortieren und Auswerten zwischenmenschlicher Schwingungen in Excel-Tabellen. Aber so ist es nun einmal: Veränderung nur zu erleben, miteinander zu gestalten und womöglich noch darüber zu reden, reicht oft nicht, um im Business ernst genommen zu werden. Erst wenn auch die entsprechenden Zielindikatoren als „erfüllt“ gelten, gilt ein Projekt als gelungen.
Allein: Welche Kennzahlen sind die richtigen, um Veränderung zu messen? Michael Groß ist da unzweideutig: „Die businessrelevanten Zahlen sind für mich entscheidend. Es muss gelingen, das Verhalten der Mitarbeiter mit Blick auf die Geschäftsziele zu ändern. Denn hohe Commitment-Werte zu haben, nützt wenig, wenn sich das Verhalten nicht ändert.“ Also ran an die harten Zahlen: „Aus meiner Sicht muss Change Management es schaffen, für den Kunden relevante Kennzahlen wie etwa die Time-to-Market signifikant zu reduzieren. Und bei einer Fusion etwa will ich mich daran messen lassen, ob die guten Leute ein halbes Jahr später noch da sind. Auch das Führungsverhalten kann man an bestimmten Punkten messen“, findet Groß: „Über SharePoint oder ähnliche Tools lässt sich etwa herausfinden, ob die Führungskräfte Wissen im Unternehmen teilen, ob sie mit den Mitarbeitern kommunizieren und kollaborieren.“ Immerhin konsequent: Auch Teile des eigenen Honorars macht Groß von Kennzahlen abhängig.
Die Wassermelonen-Ampel
Trotzdem gemischtes Echo im Raum. So warnt etwa Claudia Schmidt: „Ich wäre vorsichtig, die Arbeit im Change Management direkt mit erfolgskritischen KPIs aus anderen Bereichen zu verknüpfen. Wie viel Einfluss haben wir im Change Management denn wirklich auf die KPIs etwa in der Produktion?“ Naheliegender sei es, in Change-Prozessen Effekte wie Alignment und Commitment zu messen. Auch Daniel Tasch ist skeptisch: „Die Anzahl der Regalmeter an Publikationen zum Thema Messbarkeit von Change-Prozessen verhält sich genau reziprok zum Praxisnutzen. Ich glaube nicht, dass es mit vertretbarem Aufwand möglich ist, das Verhalten von Führungskräften punktgenau zu messen. Vielmehr würde ich empfehlen, die Geschäftsführung zum Einstieg zu fragen: Welche zentralen Fragen lassen Sie nachts nicht schlafen? Auf diesem Weg lässt sich ein Gefühl entwickeln, was wir wirklich messen wollen.“ Taschs These: „Aus Messbarkeit wird Verbindlichkeit. Warum sollte man die Performance on Values nicht ebenso wie die Business Performance an den Bonus der Führungskräfte knüpfen? Dazu braucht es aber erwachsene Führungskräfte und Leitlinien, die wirklich handlungsleitend sind.“
Frank Kühns Motivation ist ähnlich gelagert: „Ich würde gerne die Begriffe ‚Ziel‘ und ‚Performance‘ ersetzen durch ‚Sinn‘ und ‚Erfolg‘. Wenn es gelingt zu vermitteln, was der Wandel für einen Sinn hat, dann sind die Mitarbeiter auf ganz andere Art dabei. ‚Ziel‘ und ‚Performance‘ sind konstruierte Begriffe, die von der Arbeit, auch von der Veränderungsarbeit, entfremden. Fragt man in der Geschäftsführung nach, was im Projekt eigentlich wichtig ist, dann kommen da meist keine messbaren Zielindikatoren heraus, sondern ganz andere, ehrlichere Aspekte.“
Klar wird: Die Orientierung an harten Kennzahlen ist eine Glaubensfrage. Geradezu moderierend klingt in dem Zuge Martin Gros’ Feststellung: „Es geht gar nicht darum, händeringend nach Change-KPIs zu suchen. Klar muss sein: Wir müssen alle – Fachexperten, Projektmanager, Führungskräfte, Change Manager, Personaler, Trainingseinheiten, Kommunikationsexperten und so weiter – dazu beitragen, dass das angestrebte Ziel erreicht wird. Und dass es auch ein halbes Jahr nach Projektende noch läuft.“
Apropos Projektende: Je mehr Kennzahlen im Spiel sind, desto eindeutiger sollte sich zumindest eine Zielerreichung benennen lassen. Oder? „Früher wurde in einem Projekt jeder Meilenstein gern als ‚erfüllt‘ gemeldet“, berichtet Frank Wippermann, „heute ist man zu Recht skeptisch, wenn alle Posten im KPI-Chart auf ‚Grün‘ stehen. Da wird jeder informierte Beobachter zumindest hinter vorgehaltener Hand nachfragen: ‚Wie soll das denn jetzt funktioniert haben?‘“ Ursula Bohn ergänzt: „Messbarkeit hat immer eine Schattenseite. Selbst wenn die Ampeln nach außen alle grün sind, heißt das nicht, dass alles perfekt ist. Manche Ampel hat etwas von einer Wassermelone: nach außen hin grün, aber von innen tiefrot.“
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![]() | „Disruption ist ein Marketingbegriff. Man muss natürlich nicht per se disruptiv sein. Transformation ist aber eine Überlebensnotwendigkeit geworden. Agilität in Transformationsprozessen ist kein Etikettenschwindel, sondern eine schlichte Notwendigkeit. |
Die Rolle von HR im Change
Besonders in großen Unternehmen ist das Thema Veränderungsmanagement Aufgabe eigener Projektteams oder Geschäftsführungsstäbe, interner Change-Management-Consultants oder ganzer Change-Abteilungen. Ob und wie HR Zugriff auf Veränderungsprozesse hat, ist also abhängig von der Verortung des Themas innerhalb der Organisation. Trotzdem habe HR enormes Potenzial, Wandel mitzugestalten, betont Promerit-Vorstand Daniel Tasch: „HR hat Zugriff auf die Identität des Unternehmens, auf Führungskräfte, Prozesse und Strukturen – und damit alle Hebel in der Hand, um beim Thema Transformation die entscheidende Rolle zu spielen. Die Frage ist, ob diese Hebel genutzt werden.“ Und was passiert, wenn das misslingt? Taschs Prognose fällt eindeutig aus: „HR hat die historische Chance, diese Gelegenheit jetzt zu nutzen – oder wird sie auf lange Sicht nicht mehr nutzen können.“
Capgemini-Expertin Ursula Bohn weist auf die Gatekeeper-Rolle von HR hin: „Die Auswahl der externen Change-Berater läuft häufig über HR. Damit kann HR Partner auswählen, die zum eigenen Profil passen.“ Doch laufe Personal- und Veränderungsmanagement oft nebeneinander her: „In großen Unternehmen mit eigenen Change-Abteilungen findet HR in Bezug auf Transformation nicht statt. Dort ist das Urteil der Change-Kollegen eindeutig: HR ist aufgrund starrer Regularien und schwerfälliger Prozesse nicht in der Lage, so agil zu reagieren, wie es für eine Unterstützung des Transformationsprozesses nötig wäre.“
Ist HR also zu behäbig, um den Wandel federführend zu begleiten? Michael Groß macht einen Teil des Problems bei den Protagonisten aus: „20 Prozent der Personaler, mit denen wir arbeiten, sind gut.
Rund 60 Prozent können oder dürfen ihren Job nicht so machen, wie es gut wäre – und die restlichen 20 Prozent wollen es leider auch gar nicht.“ Die drastischen Folgen beschreibt Groß ebenfalls: „Was passiert, wenn sich HR nicht strategisch und wertorientiert einbringt, haben wir neulich bei einem Fusionsprojekt erlebt: Die Geschäftsführung hat sich von einem Berater überzeugen lassen, dass man HR weitgehend auslagern und digitalisieren kann – von ursprünglich 25 Personalern sind am Ende gerade einmal drei übrig geblieben.“
Ein klassisches HR-Thema also: Man macht solide seine Arbeit, doch hat im Unternehmen keine richtige Lobby. Laut sind die anderen. Flow-Geschäftsführer Frank Wippermann sieht darin aber auch eine besondere Qualität: „Es gibt viele Personaler, die Change-Prozesse im Hintergrund unterstützen, den Boden vorbereiten und den Prozess geräuschlos begleiten. Die wertvoll sind, weil sie die Fachführungskräfte darauf hinweisen, wenn es in der Abteilung knirscht. Diejenigen, die im positiven Sinne das Gras wachsen hören.“
Es würde HR sicher nicht schaden, wenn diese Art des unaufdringlichen und unaufgeregten Wertbeitrags häufiger wertgeschätzt würde. Gleichzeitig ist HR aufgefordert, das eigene Kompetenzprofil weiter zu schärfen. „Rund ein Viertel unserer Teilnehmer in der Change-Management-Weiterbildung sind Personaler“, berichtet ComTeam-Berater Martin Gros. „Personaler, die sich ihrer Rolle klar sind, können extrem wirkungsvoll im Change-Prozess sein. Sie können den Prozess reflektieren und auch die Berater zum Dialog herausfordern. Es geht darum, Dynamiken sichtbar zu machen – genau das könnte HR initiieren. Keiner braucht angepasste Führungskräfte-Workshops, bei denen der Vorstand von allen Seiten geschützt, hofiert und gepampert wird.“ Claudia Schmidt von Mutaree stimmt zu: „HR braucht mehr Freude an Konflikten und mehr Robustheit. Doch sie müssen diese Rolle auch wollen und annehmen. Das ist ein Prozess, der schrittweise und sehr strategisch angegangen werden sollte – er ist aber lohnenswert, wie viele Beispiele deutlich machen.“ Change-Projekte, so Schmidt, erführen deutlich mehr Zuspruch bei der Geschäftsführung, wenn sie aus der Unternehmensentwicklung kämen und nicht aus HR. Das zeige, dass die Nähe zum Business der entscheidende Faktor sei, um wirksam zu werden. Für Frank Kühn spielt nicht zuletzt die Überzeugungskraft im persönlichen Auftritt eine tragende Rolle: „Gute Personaler sind inspirierende, erfrischende Persönlichkeiten, denken unternehmerisch und geben Energie, werden von den Führungskräften gerne einbezogen und bedrängen sie nicht mit ihren Methoden. Deshalb wird auch die digitale Transformation HR ein neues oder erweitertes Rollenverständnis abverlangen.“
![]() | „Jedes Garantieversprechen, das einen gewissen Zeitraum überschreitet, ist für mich eine leere Hülle. Denn es ist eine Kompetenz, Ungewissheit auszuhalten, ohne den Rest der Organisation verrückt zu machen – auf Kunden- wie auch auf Beraterseite. |
Schneller, besser, frischer
So viel also zum Thema Mengenwachstum pro Zeiteinheit: Kaum hat man zwei Stunden über das Thema Change diskutiert, ist die ohnehin schon gut gefüllte HR-Todo-Liste um einige Positionen angewachsen. Und die haben es richtig in sich: schneller werden, lauter werden, besser werden, kantiger werden, frischer werden. Um all das hinzubekommen, bräuchte man die entsprechende Muße im Tagesgeschäft. Allein: „Muße braucht Zeit“ – noch so ein treffender Dreiwortsatz von Hartmut Rosa –, und Zeit ist ungünstigerweise das Gut, von dem wir alle in dieser sich ständig aufs Neue umkrempelnden Welt am wenigsten haben. (cl)
Die Moderatoren:
Erwin Stickling, Chefredakteur,
und Cliff Lehnen, stellv. Chefredakteur der Personalwirtschaft.
Bücher zum Thema
In den vergangenen Jahren sind einige empfehlenswerte Bücher zum Thema Change Management erschienen. Eine Auswahl.
Martin Claßen: Change Management aktiv gestalten. Personalmanager und Führungskräfte als Architekten des Wandels,
2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Luchterhand Verlag, Köln 2013.
Michael Groß: Handbuch Change-Manager, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2014.
Alexandra Schichtel: Change Management für Dummies, 2., ergänzte Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 2016.
Frank Wippermann: Change Management in komplexen Situationen. Werkzeuge – Organisation – Führung, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2016.
- Smarties für autonome HR-Fahrer
- Mehr als die Summe ihrer Teile
- Messe und Manager im neuen Look
- Im Goldregen
- HR als Kundenversteher
- Wie das Internet der Dinge die Personalarbeit verändert
- „Es bedarf noch erheblicher Anstrengungen“
- Heiß gekocht, warm gegessen
- Die Reisebegleiter
- Teupen hat wieder Fuß gefasst
- Unternehmenskultur bremst Veränderungen aus
- Eine Frage der Akzeptanz
- Ausbildungs-Websites – ein Anziehungspunkt?
- Lob der Dickköpfe
- Individuelles Lernen rund um die Uhr
- Do it yourself als Alternative?
- Mit Empathie und Weitblick
- Von den Besten lernen
- Das Klassentreffen
- Endlich Land in Sicht?