Ausgabe 4 - 2017
Kulturveränderung – Veränderungskultur
Kultur gilt als weicher Faktor bei Veränderungen. Doch gerade Aspekte der Kultur sind oft sehr hartnäckig. Sie wandelt sich erst nach und nach durch erlebte Praxis. Ein fiktives Beispiel verdeutlicht erfolgreiche Kulturveränderung.
Die Ausgangslage: Shirts & Shoes – kurz S 'n' S – ist ein weltweit agierender Produzent von Bekleidung und Schuhen, der seine Waren über Großhändler und ein Franchisenetz verkauft. Im vergangenen Jahr wurde das Projekt Handelsbetreuung erfolgreich abgeschlossen, seitdem erfolgt die Abstimmung mit den Groß- und Einzelhändlern intensiver und professioneller. Nun rollt die nächste Veränderung. Denn der Erfolg des Projekts hat eine engere und umsichtigere Abstimmung der internen Abläufe zur Folge, insbesondere zwischen Vertrieb, IT und Logistik. Sie können den folgenden Text auf drei verschiedene Weisen lesen: (a) die linke Spalte als reine Fallstudie; (b) die rechte Spalte als einen allgemeinen Text zu Organisationskultur und Führung; (c) hin und her zwischen linker und rechter Spalte als kommentierte Fallstudie – oder illustrierte Übersicht.
(linke Spalte) Das Miteinander zwischen Vertrieb sowie IT und Logistik steht nicht zum Besten. Ohne Rücksprache sichert der Vertrieb den Kunden technische Features zu, die in der IT erst im Entwicklungsstadium sind. Oder er verspricht Lieferkonditionen, die für die Logistik unerfüllbar sind. Auf der anderen Seite überraschen IT und Logistik den Vertrieb mit neuen Releases oder Lieferdetails. Die Kunden bemerken die Auswirkungen kaum, doch der Aufwand dafür ist hoch. Mit der intensiveren Form der Handelsbetreuung ist das nicht mehr möglich.
Organisationskultur beschreibt „the way things get done around here“ (Bright/Parkin). Damit wissen alle, was sie und andere tun (und nicht tun) dürfen, was als normal und selbstverständlich gilt. Durch diese gemeinsamen Annahmen und Überzeugungen verläuft Zusammenarbeit bequem im Sinne von bekannt und ungehindert. Meistens sind die Gründe für dieses eingeübte Verhalten nicht bewusst, die Anlässe bereits überholt und der Zweck nicht mehr allen präsent. Doch gelten diese Normalitäten weiterhin und prägen die Praxis des Miteinanders.
Im Steuerkreis des Projekts Handelsbetreuung ist die Stimmung angesichts der Herausforderung nicht euphorisch. Die Aktivitäten von Vertrieb, IT und Logistik werden immer enger gekoppelt sein, das bisherige Silodenken muss überwunden werden. Angesichts der jahrelang gepflegten Feindschaft zwischen den Abteilungen ein für viele aussichtsloses Unterfangen. Die letzte Mitarbeiterbefragung hatte die Wagenburg-Mentalität klar festgehalten. Der Steuerungsgruppe fehlt die zündende Idee zu Stellhebeln, diese Kultur zu verändern.
Kultur erscheint vielen als etwas wenig direkt Zugängliches. Das Bild eines Eisbergs dominiert den Blick auf Organisationskultur: Das über der Wasserlinie liegende Achtel mit den sicht- und steuerbaren Zielen und Regeln wird von den unteren 7/8 getragen (und beeinflusst). Die umfassen die unsichtbaren Phänomene wie ungeschriebene Regeln, informelle Beziehungen oder Einstellungen – bis hin zu Vorurteilen und Tabus. Kultur erscheint suspekt, intransparent und nicht steuerbar. Doch Kultur besteht aus einem geplanten und einem ungeplanten Teil, der mit dem Auftauchen ebenfalls steuerbar ist.
Zunächst vereinbart die Steuerungsgruppe mit den Abteilungsleitungen ein Mehrphasen-Programm: In Schnittstellen-Workshops werden gegenseitige Erwartungen geklärt, Fokusgruppen erarbeiten gemeinsam Regeln und Gebote der Zusammenarbeit, Leitlinien für ein neues Miteinander werden veröffentlicht und Unternehmenswerte herausgearbeitet. Alle Standorte sind darin einbezogen. Zum Schluss fordert die Geschäftsführung alle Beteiligten auf, durch Einhalten der neuen Regelungen zum Gelingen einer partnerschaftlichen Kultur und damit besserem Kundennutzen beizutragen.
Die Kultur einer Organisation vermittelt einen gemeinsamen Sinnhorizont. Zusammen mit der Strategie (Orientierungsfunktion) und der Struktur (Koordinierungsfunktion) bildet Kultur die Ordnungsmomente einer Organisation. Einerseits eine geplante Ordnung: Leitbilder und Regeln, Geschäftsmodelle und Ziele, Organigramme und Prozessbeschreibungen. Sie sind programmatische Beschreibungen über den Sollzustand der Organisation. Anderseits eine sich ergebende (ungeplante) Ordnung: Das „Ist“ der Praxis, das sich erst aus der täglichen Umsetzung heraus ergibt.
Nach anfänglichem Beachten der neuen Umgangsformen schleicht sich bei S 'n' S nach und nach der alte Trott ein. Ein Vertriebler erklärt, er habe die Zusage beim Kunden umgehend abgeben müssen – ansonsten sei man beim Kunden weg vom Fenster. Die kurzfristig angesetzte Änderung von Touren erklärt der Logistikchef mit Schwierigkeiten in einem der Zentrallager – für eine Vorankündigung oder gar Absprache sei keine Zeit gewesen. Die Stimmung schlägt um, „die anderen“ werden für das Missachten verantwortlich gemacht, deren Gründe als Ausreden abgetan. Der Ruf nach einer hart durchgreifenden Hand wird lauter.
Abweichungen vom Plan sind bisweilen notwendig (stellen sich unvorhergesehene Schwierigkeiten bei der Strategieumsetzung ein) und opportun (ergeben sich erst im Tun Chancen der Zusammenarbeit mit anderen). Gerade für den situativen Umgang mit entstehenden Abweichungen ist die Kultur maßgeblich, sie gibt Antworten auf folgende Fragen: Wie und wo entstehen Abweichungen, wer darf sie begehen, wer billigt oder bestraft sie, wie werden sie kommuniziert, wann gelten sie, wie gehen sie als informelle Regel in eine Routine über? Kultur ist reziprok – sie wird durch die Praxis produziert und prägt diese.
Dieser Ruf erreicht die Geschäftsführung, in der sich zwei Fraktionen bilden. Die eine führt an, dass die neuen Regeln klar kommuniziert seien und die Einhaltung lediglich sanktioniert werden müsse. Die andere Seite schlägt vor, genauer hinzuschauen, warum Ausnahmen wieder zur Regel werden – und Abweichungen zur alten Kultur. Sie plädiert dafür, die beabsichtigte Kultur an den typischen Ereignissen und Schwierigkeiten in den jeweiligen Abteilungen auszurichten. Mit dem Hinweis auf die in der Praxis unterlaufene Kultur, die im Mehrphasen-Programm postuliert und probiert wurde, setzt sich diese Gruppe durch.
Kultur fällt nicht vom Himmel, sie entsteht. In jeder der folgenden vier Phasen kann Führung bewusst gestalten und Kultur steuern. Kulturelle Eigenheiten tauchen auf – aus Situationen und Interessen heraus, bewusst oder unbewusst (Entstehung). Um zu einer prägenden Kultur zu werden, müssen diese Eigenheiten von anderen als Muster wahrgenommen werden (Realisierung). Diese Muster dienen als Maßstab für Handlungen und Interpretationen (Nutzung). Geschieht das häufiger, entstehen Rituale, Gewohnheiten und ein geteilter Begründungs- und Wertebezug – eine neue Kultur (Stabilisierung).
Vor allem die mittlere und untere Führungsebene wird angehalten, der neuen Zusammenarbeitskultur entsprechendes Verhalten stärker aufzuspüren, es zu unterstützen (Lob!) und in Alltagsroutinen zu integrieren. Eine Herausforderung besteht nun darin, den eigenen psychologischen Bestätigungsfehler auszutricksen: Wir nehmen eher das wahr, was unserer Erwartung entspricht. Dem wird etwa mit einer Tandemleitung bei Abteilungssitzungen begegnet. Dabei kommt die zweite Leitung aus einer „falschen“ Abteilung und weist auf aus ihrer Sicht anstrebenswerte Schwerpunkte und Verfahren hin. So entstehen neue Muster aus der Praxis heraus.
Die Praxis der Organisationskultur wird von drei Arten an Erwartungen geprägt: der offiziell verbreiteten Erwartung (so soll das hier sein), der vermuteten Erwartung (so könnte das hier auch sein) und der realitätskonfrontierten Erwartung (ach, so ist das hier). Differenzen zwischen diesen Erwartungen offen anzusprechen führt lediglich dazu, dass Erwartungen über Erwartungen geäußert werden. Organisationskultur zeigt sich daher nicht im Rahmen einer Kultur-Klausursitzung, sondern in den täglichen Routinen. Die zu gestalten, ist aufwendige Führungsaufgabe.
Der Zeitaufwand für eine intensivere Führung erhöht sich. Hinzu kommen etwa Reflexion und Dokumentation erwünschter Mikroroutinen oder das Testen alternativer Möglichkeiten der Zusammenarbeit („rapid prototyping“). Hier regt sich der größte Widerstand bei den Führungskräften – man könne doch von erwachsenen Mitarbeitern verlangen, sich an vorgegebene Regeln zu halten. Kann man nicht, entgegnet die Geschäftsführung – und entbindet die Führungskräfte von einigen Sachaufgaben, damit sie Zeit für die Steuerung der Kulturveränderung bei S 'n' S bekommen.
Aufgrund des Wechselbezugs von Kultur und Praxis sind langfristig ausgelegte Kulturveränderungsprogramme wenig wirksam. Dennoch sollten Unternehmenswerte, Führungsleitlinien oder Zusammenarbeitsregeln erarbeitet und verbreitet werden. Diese Appelle haben primär eine Stabilisierungsfunktion. Die Steuerung besteht darüberhinaus im aufmerksamen Mitgestalten des täglichen Umgangs, einem bewussten Hervorheben und repetitiven Anwenden gewünschten Verhaltens sowie einer entsprechenden Ressourcenzuteilung.
Das Entstehen der neuen Kultur der Zusammenarbeit vollzieht sich in der Praxis des Alltags. Die Beteiligten aller Abteilungen sprechen ihre jeweiligen Aktivitäten anhand konkreter Fälle ab – oder werten sie gemeinsam aus. Von Zeit zu Zeit schreiben sie einigen der Absprachen die Bedeutung von Mustern zu, die vorrangig angewendet werden. So rücken neue Routinen in den Vordergrund, die für alle tragbar sind.
Die Lücken zwischen den täglichen Routinen und dem Sollverhalten geben wertvolle Hinweise auf die Dilemmas, in der sich Mitarbeiter bei der praktischen Umsetzung der Strategien, Organigramme und Leitbilder befinden. Wer als Führungskraft solche Anpassungen nur als Fehler betrachtet, Kultur als diffusen und zu tilgenden Wildwuchs auffasst und dementsprechend die geplante Ordnung als einziges Maß der Organisation setzt – der vergibt die Möglichkeit, Kulturveränderungen als Indikator für eine sich verändernde Umgebungswirklichkeit zu nutzen. Kultur wohnt eine „Intelligenz der Praxis“ inne.
Im Laufe der Zeit entstehen Zusammenarbeitsformen, Erwartungsprioritäten und Leitlinien aus einer reflektierten Praxis heraus. Diese Artefakte gelten meist nur im Mikrokosmos der direkten Kooperation. Dazu gehören Rücksprachegrundsätze, Ausnahmeregeln, Abweichungskompetenzen, Mandatsgrenzen und Informationsprinzipien. Akzeptanz und tatsächliche Nutzung der in der Praxis entstandenen gemeinsamen Abläufe werden über Befragungen/Auswertungen erhoben. Sie sind für die Geschäftsführung ein wichtiges Kriterium bei der Ressourcenzuteilung für Strukturveränderungen, Projekte und Personalplanung.
Die Rolle von Führung bei der Veränderung einer Organisationskultur besteht im gleichzeitigen Steuern von Orientierung und Spielraum, im Setzen von Leitplanken wie auch im Vervielfachen von Optionen. Erst durch das gemeinsame Ausfüllen von Handlungsspielräumen in sich ergebenden oder bewusst herbeigeführten Situationen der Ungewissheit entsteht Führung durch Interaktion. Gegenüber Strategie und Struktur ist Kultur der Resonanzraum einer Organisation: Wer hineinhört und mitmischt, erfährt vieles über die Praxis der Organisation.
Das Repertoire der Führung bei S 'n' S erweitert sich nach und nach – hin zu einer neuen Führungskultur unter anderem mit den folgenden Praktiken:
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auch das Einhalten alltäglicher Routinen wird ausdrücklich gelobt;
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ein Audit zu praktizierten Verfahren wird durch Teams anderer Abteilungen durchgeführt;
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für alle offene Informationsplattformen verteilen die Bring- und Holschuld;
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Freiräume für abweichendes Handeln werden bewusst geschaffen – bei S 'n' S „Culture Lab“ genannt –, der Nutzen abweichenden Verhaltens wird thematisiert und bewertet.
Eine robuste Kultur entsteht auf drei Erlebnisebenen: einer konkret erfahrenen Praxis mit Kollegen und Führungskräften (Wie machen wir das?), einer unterstützenden Organisation (Wer hilft verlässlich wobei, wer sanktioniert was?) und einem Ausprobieren neuer Kultur, das erst im Alltag zu einem veränderten gemeinsamen Verständnis führt (Wie weit kann ich gehen?). Führungskräften kommt eine besondere Bedeutung zu: Ihre Geduld, ihr Vorbildverhalten, ihr konstruktiver Umgang mit Fehlschlägen und ihr Zutrauen in die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter gehören maßgeblich zur Kulturarbeit in Organisationen.
Autor
Frank Wippermann, geschäftsführender Gesellschafter, Flow Consulting GmbH, Celle,
wippermann@flow.de
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