Ausgabe 4 - 2018
Engagement mit Vorbildcharakter

Das Engagement von Wolff & Müller trägt Früchte: Zwanzig Flüchtlinge beschäftigt das Stuttgarter Bauunternehmen aktuell.
Fachkräfte sind rar, vor allem in der Bauwirtschaft. Gleichzeitig suchen viele zugewanderte Menschen nach Arbeit. Das Stuttgarter Bauunternehmen Wolff & Müller hat zwei spezielle Programme entwickelt, um Flüchtlinge zu Bauhelfern und Auszubildenden zu qualifizieren.
Die Bauwirtschaft boomt, doch es mangelt schon seit Jahren an Fach- und Nachwuchskräften. Gleichzeitig kommen viele Menschen, insbesondere junge Männer, nach Deutschland, die Arbeit suchen. Das Stuttgarter Bauunternehmen Wolff & Müller setzt schon seit Jahrzehnten auf die Integration eingewanderter Fachkräfte und hat damit bislang gute Erfahrungen gemacht. Als 2015 die Flüchtlingskrise begann, initiierte Wolff & Müller gemeinsam mit dem Jobcenter des Landkreises Ludwigsburg erstmals einen speziellen Bewerbertag für Flüchtlinge aus Ludwigsburg und Umgebung. Einerseits sah sich das Familienunternehmen in der gesellschaftlichen Verantwortung, den Zugewanderten eine berufliche Perspektive zu bieten. Andererseits wollte der Mittelständler die Chance nutzen, die eine so hohe Zahl an neuen Arbeitskräften bietet. Dr. Albert Dürr, geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensgruppe Wolff & Müller, entwickelte die Idee und Initiative für das Engagement.
Mit dem Bewerbertag für Flüchtlinge wollte das Bauunternehmen geeigneten Bewerbern eine erste Chance geben und sich mit Unterstützung des Jobcenters systematisch an die gesamte Thematik herantasten – schließlich war den Initiatoren bewusst, dass die Einstellung von Flüchtlingen mit zahlreichen asylrechtlichen Fragen und Hindernissen verbunden ist. 450 Personen wurden im Vorfeld angeschrieben und eingeladen. 36 Kandidaten überzeugten in den ersten Gesprächen, einer bekam direkt einen Praktikumsplatz, einer eine Ausbildungsstelle. Doch das war erst der Anfang: Um die anderen Bewerber in ein reguläres Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis zu übernehmen, mussten sie zunächst sprachlich und fachlich intensiv vorbereitet werden. Wolff & Müller legte deshalb 2016 gemeinsam mit externen Partnern aus Bildung und Verwaltung zwei Qualifizierungsprogramme auf.
Großes Engagement, positive Resonanz
Das viermonatige Qualifizierungsprogramm „Bau und Sprache“ bereitet die Flüchtlinge auf eine Anstellung als Bauhelfer vor. Das
Einstiegsqualifizierungspraktikum (EQ) ist ein sogenanntes nulltes Ausbildungsjahr. Es macht Jugendliche innerhalb von zwölf Monaten sprachlich und fachlich fit für eine Ausbildung bei Wolff & Müller. Die Programme sollen den Flüchtlingen, deren Sprach- und Fachkenntnisse, Soft Skills und Aufenthaltsstatus oft unklar sind, den Weg in Beruf beziehungsweise Ausbildung ebnen und gleichzeitig für Chancengleichheit beim Einstellungsprozess gegenüber klassischen Bewerbern sorgen.

Die Programmteilnehmer bekommen außer einer fachpraktischen Einführung auch Deutschunterricht.
Die Resonanz auf die Qualifizierungsprogramme von Wolff & Müller ist positiv, das Angebot wird angenommen. Derzeit beschäftigt das Bauunternehmen 20 Geflüchtete, darunter sechs festangestellte Bauhelfer und einen Jungbauleiter sowie 13 Auszubildende. Acht von ihnen haben zuvor erfolgreich ein EQ absolviert. Auch Praktikantenstellen sind gefragt: Allein in der Wolff-&-Müller-Niederlassung in Waldenburg, Baden-Württemberg, nutzen zurzeit fünf Flüchtlinge die Chance, das Baugewerbe kennenzulernen. Mit diesen Zahlen ist der Mittelständler vielen größeren Unternehmen voraus. Laut dem gemeinnützigen Recherchenetzwerk correctiv.org hatten die 30 Konzerne im Deutschen Aktienindex (Dax) noch vor nicht ganz zwei Jahren zusammen nur 125 Flüchtlinge eingestellt. Auf ein börsennotiertes Unternehmen kommen damit im Schnitt 4,2 beschäftigte Flüchtlinge. Nicht nur gemessen an der Mitarbeiterzahl von knapp 2000 zeigt der Stuttgarter Mittelständler ein überdurchschnittlich großes Engagement. Auch in Baden-Württemberg sticht Wolff & Müller hervor: Medienberichten zufolge beschäftigen 19 der größten Unternehmen in Baden-Württemberg im Schnitt 21,7 Flüchtlinge als Angestellte, Studenten, Azubis oder Teilnehmer von Einstiegsqualifizierungsprogrammen – das sind in etwa so viele wie bei Wolff & Müller, obwohl diese Unternehmen mehr als fünfmal so viele Mitarbeiter haben.

Im März haben die nächsten Qualifizierungsprogramme in Stuttgart und Künzelsau begonnen.
Bürokratische Hürden
Die bisherigen Erfahrungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wolff & Müller setzt sich mit viel Herzblut dafür ein, Flüchtlingen eine Perspektive zu bieten, und die Teilnehmer der Qualifizierungsprogramme sind in der Regel sehr engagiert. Allerdings ist der organisatorische, verwaltungsmäßige und kommunikative Aufwand enorm. Beispielsweise muss das Bauunternehmen wegen der Wohnsitzauflage jedes Mal landkreis- und länderübergreifend bei der Ausländerbehörde anfragen, wenn die Flüchtlinge zu einer Baustelle an einem anderen Ort wechseln. Eine weitere Hürde ist außerdem, dass die Stadt Stuttgart seit 1. September vergangenen Jahres den Kostenersatz für die Unterkunft von Flüchtlingen erhöht hat. Ein Flüchtling, der arbeitet, muss nun sechs Monate lang je 228 Euro und danach monatlich 389 Euro zahlen. Ein Flüchtling, der eine Ausbildung macht, bekommt in seinem ersten Ausbildungsjahr 142 Euro als Wohngebühr vom Einkommen abgezogen – ein sehr hoher Betrag gemessen an dem Bruttogehalt von 785 Euro, das er in dieser Zeit erhält. Wer hingegen nicht arbeitet, muss auch nichts bezahlen. Das ist kontraproduktiv und leistungshemmend. Wer sich bemüht, integriert und arbeitet, steht am Ende kaum besser da.
Qualifizierungsprogramm „Bau und Sprache“
Modul 1: 10 Wochen | Grundkenntnisse Deutsch bis Sprachniveau A2+ sowie bauspezifisches Vokabular, theoretische Einblicke in die Herstellung von Mauerwerken und Betonteilen u.a. |
Modul 2: 4 Wochen | Fachpraktische Einführung im Berufsausbildungszentrum Bau in Geradstetten |
Modul 3: 2 Wochen | Praktikum bei Wolff & Müller |
Modul 4: 2 Tage | Reflexion: Bewerber und Betreuer besprechen ihre jeweiligen Eindrücke, Entscheidung für oder gegen einen Arbeitsvertrag |
Ziel: | Anstellung als Bauhelfer bei Wolff & Müller |
Einstiegsqualifizierungspraktikum (EQ)
Modul 1: verkürzt von 2 Monaten auf 4-6 Wochen | Fachpraktische Einführung im Berufsausbildungszentrum Bau in Geradstetten, Grundkenntnisse Deutsch bis Sprachniveau A2+ sowie bauspezifisches Vokabular, theoretische Einblicke |
Modul 2: 8 Monate | Praktikum bei Wolff & Müller, Deutschunterricht in der Hauptverwaltung bis Sprachniveau B1 |
Ziel: | Ausbildungsplatz bei Wolff & Müller |
Start der nächsten Flüchtlingsprogramme
Trotz solcher Hindernisse hält Wolff & Müller an seinem Engagement fest. Im März 2018 haben die nächsten Qualifizierungsprogramme begonnen – mit kleinen Veränderungen im Vergleich zur ersten Runde: Weil die Vergangenheit gezeigt hat, dass das Einstiegsqualifizierungsprogramm die Flüchtlinge intensiver auf die Anforderungen des Unternehmens vorbereitet und als Schulungsmodell erfolgversprechender ist als das Programm „Bau und Sprache“, wurden dieses Mal zwei EQ initiiert – am Wolff-&-Müller-Hauptsitz Stuttgart und in der Niederlassung Waldenburg. Auch die Schulungsstruktur hat das Unternehmen leicht verändert und nun noch besser auf die Bedürfnisse der Teilnehmer abgestimmt. Statt zuvor in zwei Monaten bekommen die Azubi-Anwärter die fachpraktischen Kenntnisse nun in vier bis sechs Wochen im Ausbildungszentrum Geradstetten vermittelt. Fachliche Fähigkeiten erlernen und entwickeln die Kandidaten am schnellsten und besten direkt auf der Baustelle – so die bisherige Erfahrung. Aufgrund der strengen Residenzpflicht konnten sich für die neuen EQ allerdings nur Kandidaten bewerben, die ihren Wohnsitz in der Nähe eines der beiden Standorte haben.
Ebenfalls neu war, dass der Bewerbungsprozess über zwei Kooperationspartner lief: das Integrationsnetzwerk Hohenlohe-Main-Tauber und die Industrie- und Handelskammer der Region Stuttgart (IHK). Die Partner schrieben potenzielle Kandidaten im Vorfeld an, wählten interessierte und passende Teilnehmer aus und vermittelten diese an Wolff & Müller. Insgesamt neun Flüchtlinge nehmen derzeit am EQ am Standort Stuttgart teil, fünf absolvieren das Programm an der Niederlassung Waldenburg. Ob sich ein Bewerber aber tatsächlich für die Baubranche eignet und begeistert, zeigt sich erfahrungsgemäß erst im Laufe des Programms.
HR als Drahtzieher im Hintergrund
Das Projekt wird von Hans Schmid, dem Geschäftsführer der mit Wolff & Müller verbundenen Projektentwicklungsgesellschaft D-Quadrat, geleitet. Für die konkrete Umsetzung zeichnet die Personalabteilung von Wolff & Müller verantwortlich. Sie erstellt die Verträge mit den Flüchtlingen, koordiniert das Entgelt und hält die Kosten im Blick. Sie übernimmt die Kommunikation mit den Behörden, mit Sozialarbeitern und Rechtsanwälten und stimmt sich mit der gemeinnützigen Wolfgang-Dürr-Stiftung ab, die die Qualifizierungsprogramme zu einem Großteil finanziell trägt (Übernahme von Anwalts-, Übersetzer-, Fahrt- und Übernachtungskosten, Gebühren für den Sprachtest, Wohnungszuschüsse, Teilkosten für den Sprachlehrer). Die Personalabteilung sorgt für Ausrüstung und Verpflegung, dafür, dass Seminarräume für die theoretischen Kurse zur Verfügung stehen und Zeiten und Abläufe eingehalten werden. Als Organisator im Hintergrund ist sie zugleich der Ansprechpartner für sämtliche Programmbelange. Projektleiter Hans Schmid übernimmt die Kommunikation mit den Bauherren, an deren Projekten die Flüchtlinge eingesetzt werden, und hat die Gesamtaufsicht.
Rück- und Ausblick
Auch wenn das Projekt über weite Strecken schwierig und der bürokratische Aufwand hoch ist, zeigen kleine Erfolge, dass sich Engagement und Mühe aller Beteiligten lohnen: Im Mai 2015 überzeugte zum Beispiel der 35-jährige Algerier Habib Bendriss beim ersten Bewerbertag. Er wurde zunächst befristet als Bauhelfer im Hochbau eingestellt und begann im September 2016 eine Ausbildung zum Maurer. Sein erstes Lehrjahr absolvierte er so gut, dass die Berufsschule ihn belobigt hat, und auch von Wolff & Müller erhielt er eine kleine Prämie. Sein Beispiel zeigt, dass das Bauunternehmen dem Ziel, Flüchtlinge für den Bau zu begeistern, in die Gesellschaft zu integrieren und für die Firma zu gewinnen, näherkommt. Auch Wirtschaft und Medien würdigen das Engagement von Wolff & Müller. Am 29. November 2017 erhielt der Stuttgarter Mittelständler den Axia Award in der Kategorie „Sonderpreis Integration“. Der Preis zeichnet nachhaltiges Unternehmertum aus und wird von Deloitte und der Wirtschaftswoche ausgelobt. Kooperationspartner ist der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.
CASE STUDYWolff & Müller Wolff & Müller wurde 1936 gegründet und ist heute eines der führenden Bauunternehmen Deutschlands in privater Hand. Das mittelständische Familienunternehmen mit Hauptsitz in Stuttgart erwirtschaftete 2016 einen Umsatz von 800 Millionen Euro. Mit rund 2000 Mitarbeitern an 27 Standorten im Bundesgebiet ist die Wolff & Müller Gruppe im Hoch- und Industriebau, Ingenieurbau, Stahlbau, bei der Bauwerkssanierung, im Tief- und Straßenbau sowie Spezialtiefbau zu finden. Dazu kommen eigene Gesellschaften und Unternehmensbeteiligungen in der Rohstoffgewinnung und im baunahen Dienstleistungssektor. |
STOLPERSTEINEWo hat es im Projekt gehakt? Es ist nicht einfach, Flüchtlingen eine Perspektive zu bieten:
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UNTERM STRICHWas hat das Projekt gebracht? Trotz einiger Hürden tragen die zwei Qualifizierungsprogramme von Wolff & Müller Früchte:
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AUTOR
Bernhard Guffler, Personalwesen, Wolff & Müller Holding GmbH & Co. KG, Stuttgart,
bernhard.guffler@wolff-mueller.de
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