Ausgabe 5 - 2012
Mit den falschen Netzen fischen
HR Online Tools, die beim Recruiting-Prozess eingesetzt werden, können effizient die Spreu vom Weizen trennen, so das Marketing. Doch wenn vom Weizen nur noch Spreu übrig bleibt? Ein Plädoyer dafür, sich bei der Online-Bewerbung nicht nur auf die IT zu verlassen.
Etwa 87 Prozent aller freien Stellen deutscher Großunternehmen werden auf eigenen Unternehmens-Websites veröffentlicht und rund 61 Prozent in Online-Stellenbörsen. Bereits heute bevorzugen etwa 46 Prozent der Unternehmen die Formularbewerbung. Für die Top-300 Finanzdienstleister gilt, dass rund 86 Prozent aller Vakanzen auf der eigenen Unternehmens-Website veröffentlicht werden (vgl. Recruiting-Trends 2011). Das Internet als Medium des Recruitings und Personalmarketings hat sich also vor allem bei Großunternehmen durchgesetzt. Aber auch viele Personalvermittler nehmen Bewerberdaten ausschließlich in digitaler Form auf. Die Nutzung von HR Online Tools gehört für die Mehrzahl der Akteure auf dem Arbeitsmarkt zum Alltag.
Inzwischen findet auch die Personalauswahl mit dem Ziel effizienten Screenings häufig online statt. Es gibt eine Fülle von Anbietern, von denen die guten nachweislich wissenschaftlich fundierte und praxistaugliche Verfahren bereitstellen. Online erhoben werden hier beispielsweise Teilbereiche der Intelligenz und/oder berufsrelevante Eigenschaften, Motivation und Kompetenzen der Bewerber. Schließlich kann die Personalentwicklung durch digitale Prozesse (etwa 360-Grad-Feedbacks) sinnvoll unterstützt werden.
Standard mit Tücken
Was bedeutet das alles für das Recruiting? Die Vorteile liegen auf der Hand: HR-Prozesse können verschlankt und effizienter gestaltet werden. Sie bleiben zudem für die Unternehmen transparent, nachvollziehbar und sind somit controllingfähig. Die Prozesse werden auch unabhängiger von den handelnden Personen. Unternehmen nutzen das Internet, um Online Recruiting-Kampagnen zu starten, Young Professionals werden zielgruppengerecht und mit modernen Medien erreicht. Bewerber laden ihre Daten in die digitale Welt und erwarten eine höhere Reichweite und effektivere Kontakte ihrer Bewerbungsbemühungen.
Wer allerdings mit den falschen Netzen fischt oder mit den richtigen Netzen falsch fischt, wird statt höherer Effizienz eher eine ineffizientere Personalbeschaffung erreichen. Denn: In Zeiten der zunehmenden Verknappung von Humankapital können zwei HR-bezogene Fehler extrem teuer werden: Entweder man entscheidet sich für Bewerber, die eigentlich ungeeignet sind oder man lehnt solche Kandidaten ab, die eigentlich gut geeignet wären. Online-Vorauswahlsysteme können aber unter Umständen sogar dazu führen, dass beide Arten von Fehlern vermehrt auftreten. Warum?
Verständnis für die Gefahr von Fehlentscheidungen, also Ineffizienzen, gewinnt man durch die Einsicht, dass im digitalen Zeitalter in Bewerbungsprozessen standardisierte Systeme kommunizieren. Wohlgemerkt: Diesem Trend lässt sich nicht ausweichen. Heute sind nicht nur elektronische Bewerbungen per E-Mail Standard. In den meisten Fällen müssen Bewerber sich zudem online registrieren und Suchfilter oder Profilinformationen hinterlegen. Hierfür kann man beispielsweise per Häkchen Suchfilter einstellen. Im Regelfall wird zwischen Funktionen, also den Einsatzgebieten in Unternehmen wie Finanzen, Verkauf et cetera sowie Branchen unterschieden. Häufig finden sich zusätzlich weitere Unterkategorien. Beliebte Filtermöglichkeiten sind Regionen, Hierarchie oder Führungsverantwortung sowie Berufserfahrung.
Sprachverwirrung programmiert
Schon hier zeigt sich, dass die Klassifizierung von offenen Stellen unterschiedlich verstanden werden kann. Bereits die Branchenzuteilung ist an den Grenzen häufig unscharf: Ein Beispiel dafür sind Unterteilungen der Bereiche „Finanzdienstleistungen“ oder „Automotive“. Verschiedene Anbieter verwenden ganz unterschiedliche Einteilungen. Noch willkürlicher wird es allerdings bei den Funktionen, denen die Positionen zugeordnet werden. Schon eine rudimentäre Kenntnis der Literatur sowie der organisatorischen Abbildungen in Unternehmen zu den Themengebieten „Controlling“, „Finanzen“, „Produktion“, „Management“ et cetera lässt die Fülle von Interpretationsmöglichkeiten erahnen. In Disziplinen wie „Verkauf“, „Marketing“, „Strategie“ und – Achtung: Sprachenmix! – „Business Development“, „Allianzen Management“ oder „Unternehmensentwicklung“ potenziert sich das Interpretationsvolumen beträchtlich. Ein weiterer Quell der Verwirrung ist die Belegung der Führungsverantwortung. Was unterscheidet „Manager“ von „Führungskräften“ und diese von „Senior Managern“ oder gar „Direktoren“? Vorstände und Geschäftsführer sind noch durch Gesetze bestimmt. Wie verhält es sich jedoch mit „Bereichs-, Abteilungs-, Unit-, Einheits-, Center-, Gruppen-“ und „Topic-Leitern“? Schon innerhalb von Branchen werden diese Einteilungen zwischen Unternehmen nicht einheitlich angewandt. Diese Aufzählung von unterschiedlichen Interpretationen ließe sich fortführen. Wichtig ist aber zu betonen, dass im Markt verschiedene Standards vorhanden sind, die von annoncierenden Institutionen und suchenden Personen unterschiedlich interpretiert werden können.
Noch spannender wird es, wenn Unternehmens-Portale ins Spiel kommen. Neben den Einstellungen, die den Suchfiltern von Jobbörsen ähneln, müssen Kandidaten ihre Erfahrungen, Qualifikationen, Kompetenzen und Zielrichtungen per Häkchen angeben. Nun wird das Chaos noch größer, und dies aus zwei Gründen: Wieder muss ein Bewerber seine Wünsche und Profileigenschaften in diesen Standard integrieren. Dies muss er natürlich auch bei Jobbörsen tun (notabene: bei jeder neu und nach anderem Standard). Bei Unternehmen kommt dazu, dass diese Geschäftsfelder, Märkte und Organisationen zuzüglich bestehender Laufbahnmodelle entlang des eigenen Unternehmensstandards vorgeben. Im schlimmsten Fall entstehen wilde Begriffsmischungen. Hier ein reales Beispiel aus der Finanzdienstleistungsbranche: Kategorien wie „Management“ werden von „Asset Management“, „International“, „Sales“, „Positionen mit Berufserfahrung“ (oder „ohne“) abgrenzt, man darf eine Auswahl der geografischen Aufstellung des potenziellen Arbeitgebers treffen und zusätzlich angeben, ob man Führungsverantwortung (von was?) anstrebt.
Potenzial wird aussortiert
In diese Welt(en) müssen sich Kandidaten einordnen, sofern sie Profildaten eingeben oder hineinfinden, falls sie zu besetzende Positionen aufspüren wollen. Sie müssen also in jedem Fall ihre Sprache und ihr Verständnis mit den Standards von Jobbörsen oder Unternehmensportalen in Einklang bringen. Hier sind falsche Zuordnungen unvermeidlich. Erschwerend kommt hinzu, dass die eingestellten Informationen im Zuge der Bewerbungsverfahren vorqualifiziert werden, also das sogenannte „sifting“ durchlaufen. Damit sollen diejenigen Bewerber identifiziert werden, deren Qualifikation den Anforderungen bestmöglich entspricht. Dieser Prozess läuft in der Regel elektronisch ab, wird also von Software und IT-Systemen unterstützt. Digital gespeicherte Daten werden automatisiert auf ihre Übereinstimmung und Kompatibilität geprüft. Möglicherweise wird ein Profil unternehmensseitig geprüft oder von dem Suchagenten der Jobbörse angewendet.
Abbildung
Herausforderungen onlinebasierter Vorauswahlsysteme und Lösungsvorschläge

Quelle: in Anlehnung an Bildat (2009)
Bei dem ersten Kontakt mit einer Bewerbung hat in der Regel noch kein angemessen geschulter Mitarbeiter die Bewerbung jemals zu Gesicht, geschweige denn zur Hand bekommen. Wozu führt das schlimmstenfalls? Ein Großteil des Potenzials zur nachhaltig erfolgreichen Besetzung von Positionen wird in dieser Phase bereits aussortiert. Denn kein System kann die Unmengen von leicht unterschiedlichen Formulierungen berücksichtigen oder gar korrekte, jedoch zwischen Kulturkreisen unterschiedliche Schreibweisen, wie beispielsweise „advise“ (UK) und „advice“ (USA), durchgängig auseinanderhalten. Damit verschließen womöglich die Standards von Unternehmensportalen und Jobbörsen beiden Marktseiten Chancen.
Däumling statt High Potenzial
Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, elektronische HR-Systeme nähmen HR-Verantwortlichen alle Entscheidungen ab. Denn: Es kann aus den Vorauswahlsystemen nichts herauskommen, was nicht zuvor hineingesteckt wurde. Moderne, onlinebasierte HR-Systeme sind nicht per se intelligent. Die Güte der automatisierten Entscheidungen ist direkt abhängig von der Güte und Trennschärfe der zuvor festgelegten Kategorien und Variablen. Falls Vorauswahl-Kategorien, wie etwa Qualifikationen und/oder Kompetenzen genutzt werden, sollten diese auf sicherem Boden stehen. Das bedeutet beispielsweise, dass sie durch eine systematische Jobanalyse definiert werden sollten. Wer das Pi mal Daumen macht, bekommt unter Umständen Däumlinge statt High Potentials.
Steiner, H. (Hrsg.): Online-Assessment. Grundlagen und Praxis von Online-Tests in Personalmarketing, Personalauswahl und Personalentwicklung, Springer 2009.
Weitzel, T./König, W./Eckhardt, A./Laumer, S./Kaestner, T.A./von Westarp, F.: Recruiting Trends 2011. Eine empirische Untersuchung mit den Top-1000-Unternehmen aus Deutschland sowie den Top-300-Unternehmen aus den Branchen Finanzdienstleistung, IT und Öffentlicher Dienst. Centre of Human Resources Information Systems (CHRIS) und Monster Worldwide Deutschland GmbH.
Autoren
Prof. Dr. Lothar Bildat, Professor für Organisations- und Personalmanagement am Baltic College, University of Applied Sciences in Schwerin, sowie Gesellschafter der Unternehmensberatung Bildat & Voigt,
bildat@trainingundconsulting.de
Dr. Dirk Lau, Unternehmensberater, KWF Business Consultants GmbH, Frankfurt, Hamburg, Luxemburg,
dirk.lau@kwf-consultants.de
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