Ausgabe 5 - 2016
Stärken erkennen und fördern

Organisatorische Veränderungen verunsichern. Erst recht, wenn man sie sich nicht selbst ausgesucht hat. Das Beispiel eines Dax-30-Unternehmens zeigt, wie ein sogenanntes Newplacement Mitarbeitern bei der Neuorientierung helfen kann.
Ein Newplacement beginnt in der Regel mit einer eingehenden Standortanalyse, damit sich der gekündigte Mitarbeiter seiner Stärken bewusst werden und auch erfahren kann, welche persönlichen Ressourcen er hat, um mit der bevorstehenden Neuorientierung konstruktiv umzugehen.
Wir berichten in diesem Beitrag über einen Ansatz, mit dem diese Standortanalyse mithilfe einer systematischen und praktikablen Personaldiagnostik durchgeführt wurde. Erprobt wurde diese Diagnostik im Rahmen eines Newplacement-Projekts, das die stg GmbH für Mitarbeiter eines Dax-30-Konzerns durchführte. Das Projekt war auf eine Gesamtlaufzeit von sechs Monaten ausgelegt.
Die insgesamt 46 Teilnehmer waren in vier völlig unterschiedlichen Unternehmensbereichen tätig, die durch Verkauf, Joint Venture oder Ausgründung aus dem Konzern ausgelagert wurden. Der berufliche und persönliche Hintergrund der betroffenen Mitarbeiter variierte stark. Was diese ganz unterschiedlichen Menschen jedoch gemeinsam hatten, war die Entscheidung, im Mutterkonzern zu verbleiben und nicht im Rahmen des Betriebsübergangs zu den jeweiligen neuen Arbeitgebern zu wechseln.
Vier Newplacement-Berater übernahmen die Betreuung der Mitarbeiter in jeweils wöchentlichen Beratungsterminen. Die Personaldiagnostik sollte zu Beginn der Beratung eine schnelle und valide Bestimmung von berufsbezogenen Stärken und Schwächen der Mitarbeiter leisten.
Als Diagnostiker waren wir für Konzeption, Durchführung und Rückmeldung dieser Persönlichkeits-Assessments zuständig. Unsere direkten Kunden waren damit sowohl die Mitarbeiter, die die aus den Assessments gewonnenen Informationen eigenverantwortlich in den weiteren Beratungsprozess einbringen konnten, als auch die Berater, die diesen Prozess weiter begleiteten.
Problemstellung Assessment
Bei der Konzeption des Assessments sahen wir uns vordringlich mit drei Problemen konfrontiert: Erstens zeichnete sich die Teilnehmergruppe durch eine sehr hohe Heterogenität hinsichtlich mehrerer Faktoren (zum Beispiel Alter, Berufsausbildung, Berufserfahrung, Position im Unternehmen, Schwerbehinderung) aus. Mit 35 von 46 Teilnehmern waren die meisten Mitarbeiter männlich, etwa zehn Prozent der Teilnehmer hatten Migrationshintergrund.
Zweitens musste die Akzeptanz der Maßnahme sichergestellt werden, da zum einen die Teilnahme am Assessment freiwillig war und zum anderen nur durch die Akzeptanz des Prozesses und der Ergebnisse des Assessments der weitere Beratungsverlauf unterstützt wird.
Drittens kamen Fragen nach der Zuverlässigkeit und der Validität der Messergebnisse auf. Wie kann man sicherstellen, dass die erfassten Informationen tatsächlich aussagekräftig für zukünftiges Handeln einer Person sind? Wie können wir also – unter den oben angesprochenen Rahmenbedingungen – relativ stabile und zuverlässige Aussagen über Stärken und Schwächen einer Person treffen?
Heterogenität der Zielgruppe berücksichtigen
Der Heterogenität der Zielgruppe kann durch zwei unterschiedliche Ansätze Rechnung getragen werden: Entweder müssen Instrumente zum Einsatz kommen, die an die unterschiedliche Ausgangslage der Kandidaten angepasst werden, oder es braucht Verfahren, die unabhängig vom Hintergrund der Kandidaten zuverlässig funktionieren.
Wir haben eine Kombination beider Herangehensweisen gewählt, nämlich einen standardisierten und normierten Test, der für eine breite Zielgruppe entwickelt und erprobt wurde, sowie eine Auswahl vonÜbungen, die zwar ähnliche Anforderungen stellen, aber den Erfahrungshintergrund der Kandidaten nutzen.
Ein Assessment wird von den Kandidaten als Prüfungssituation mit einer gewissen Anspannung wahrgenommen. Als maßgebliche Erfolgsfaktoren für die grundlegende Akzeptanz sehen wir die Offenheit und Transparenz über Ziele, Prozess und Nutzen des Verfahrens. Die frühzeitige und umfassende Kommunikation über Ablauf und Beobachtungskriterien und der Verbleib der Daten ausschließlich beim Mitarbeiter sicherten die Akzeptanz.
Als Basis unserer Diagnostik haben wir normierte und standardisierte Persönlichkeitsfragebogen herangezogen, die auf der Grundlage der Fünf-Faktoren-Persönlichkeitstheorie entwickelt wurden. Wir haben uns für eine Kombination aus Hogan Personality Inventory (HPI) und Hogan Development Survey (HDS) entschieden, die beide sowohl in deutscher Sprache als auch mit einer deutschen Vergleichsnorm aus Fach- und Führungskräften erhältlich sind. Durch HPI werden Potenziale beziehungsweise Stärken einer Person im beruflichen Umfeld beschrieben. HDS thematisiert dagegen Verhalten in Belastungssituationen, wenn also die üblichen Stärken und Routinen nicht mehr ausgespielt werden können.
Ergänzt haben wir die Ergebnisse der Testverfahren durch zwei Übungssituationen, die gängige Aufgabenstellungen aus dem beruflichen Alltag, insbesondere in Bewerbungssituationen, abbilden: Zuerst starteten die Teilnehmer mit einer Selbstpräsentation, dann folgte ein Konfliktgespräch im Rollenspiel. Beide Situationen wurden mit Erlaubnis der Kandidaten auf Video aufgezeichnet, um einerseits eine Auswertung des Verhaltens sorgfältiger vornehmen zu können und andererseits die Aufzeichnung den Kandidaten zur eigenen Verwendung zur Verfügung zu stellen. Das Verhalten wurde schließlich anhand vorher definierter und offen gelegter Kriterien eingeordnet und bewertet (Abbildung 1).
Abbildung 1
Beobachtungskriterien

Das Verhalten in zwei Rollenspielen wurde anhand vorher definierter und offengelegter Kriterien eingeordnet und bewertet.
Prozessbeschreibung
Der Einstieg in das Assessment erfolgte typischerweise nach etwa zwei bis drei Beratungssitzungen. Erste Informationen zum Prozess (Abbildung 2), insbesondere auch zu den Vorteilen einer Teilnahme, wurden schon vorab weitergegeben.
Abbildung 2
Prozessbeschreibung

In einem telefonischen Vorabgespräch erläuterte der Diagnostiker jedem einzelnen Mitarbeiter den Prozess und die Ziele des Assessments und erklärte kurz die eingesetzten Instrumente.
In einem telefonischen Vorabgespräch erläuterte der Diagnostiker jedem einzelnen Mitarbeiter den Prozess und die Ziele des Assessments und erklärte kurz die eingesetzten Instrumente. Die Mitarbeiter erhielten den Auftrag, für das Assessment eine Präsentation über sich selbst vorzubereiten, wobei sie übliche Präsentationsmedien verwenden konnten. Vor dem Assessment-Termin bearbeiteten sie außerdem online die Hogan-Tests.
Nach dieser Einleitung begann die Beobachtungsphase, wobei nur die beiden Übungen (Selbstpräsentation und Konfliktgespräch) beobachtet und bewertet wurden. Das Thema des Konfliktgesprächs wählten Mitarbeiter und Diagnostiker gemeinsam aus einem vorhandenen Aufgabenpool, wobei Rahmenbedingungen wie beispielsweise Führungs- oder Projekterfahrung in die Entscheidung einflossen. Mögliche Themen des Rollenspiels waren beispielsweise eine kritische Rückmeldung für einen Mitarbeiter (Kandidat als Vorgesetzter), ein Ressourcenkonflikt zweier Teilprojektleiter oder eine Gehaltsforderung (Kandidat als Mitarbeiter).
In der dritten Phase standen die Ergebnisse der Hogan-Tests im Mittelpunkt. Zum Abschluss wurde der Termin für die Gesamtrückmeldung und die Übergabe des Berichts vereinbart. Dieser Bericht enthielt die Beobachtungen aus den beiden Übungen und setzte diese mit den Schwerpunkten der Ergebnisse aus den Hogan-Tests in Beziehung. Eventuell erkannte Widersprüche wurden genauso herausgearbeitet wie Übereinstimmungen der beiden Informationsquellen.
Das abschließende Feedback fand als Sechsaugengespräch statt. Der Diagnostiker stellte den Bericht vor, Mitarbeiter und Berater ergänzten dies durch eigene Eindrücke, stellten Rückfragen und leiteten Ziele für die weitere Beratung ab.
Ressourcen werden bewusst
Ziel unseres Ansatzes war, frühzeitig im Beratungsprozess hilfreiche Informationen zu Stärken und Schwächen zur Verfügung zu stellen, damit die Mitarbeiter zusammen mit den Beratern die weitere Entwicklung darauf aufbauen können. Inwieweit uns dies gelungen ist, haben wir sowohl bei den Mitarbeitern (durch spontane Rückmeldungen) als auch bei den Beratern (durch eine systematische Befragung) überprüft. Die Rückmeldungen zeigen, dass wir zentrale Anliegen unserer Ziele gut getroffen haben. Insbesondere richteten die Teilnehmer den Fokus auf ihre Stärken, reflektierten ihre Außenwirkung und zeigten sich auch zur Veränderung kritisch rückgemeldeter Verhaltensweisen bereit.
Obwohl organisatorische Überlegungen und betriebliche Notwendigkeiten dazu geführt hatten, dass Mitarbeiter sich neu orientieren müssen, war durch den Verlust des Arbeitsplatzes ihr Vertrauen in die eigenen Stärken oft erschüttert. „Das Assessment war hier sehr hilfreich, um den Blick der Mitarbeiter wieder auf die eigenen Stärken und Ressourcen zu lenken und ihren Selbstwert dadurch zu unterstützen“, beschrieb es eine Beraterin. Für einen Mitarbeiter war die Rückmeldung aus dem Assessment der Anstoß zur Existenzgründung.
Konstruktiv und bereichernd
Die Berater empfanden es durchweg als hilfreich, dass durch das Assessment vergleichsweise früh im Newplacement-Prozess berufsbezogene Stärken und Entwicklungsfelder offen thematisiert wurden und die Mitarbeiter ein direktes Feedback von einer neutralen Person erhielten, die nicht Teil des eigentlichen Beratungsablaufs war. Auch Mitarbeiter, die dem Assessment zunächst eher unsicher bis kritisch gegenüberstanden, äußerten sich danach ausgesprochen positiv.
Den Beratern fiel auf, dass das Assessment gerade auch skeptische Mitarbeiter empfänglicher werden ließ für die berufliche Neuorientierung und das begleitende Coaching. Für einige war es ein regelrechter „Aha“-Effekt, dass sich die Rückmeldung über die Wirkung ihres Verhaltens und Auftretens aus dem Assessment mit dem deckte, was die Berater oft bereits in den ersten Coaching-Terminen als Feedback formuliert hatten.
Zusammenfassung und Ausblick
Lohnt es sich, eine ausführliche Personaldiagnostik an den Anfang eines Newplacement-Prozesses zu stellen? Nach unserer Erfahrung kommt es auf den konkreten Fall an. Einen klaren Nutzen sehen wir für bestimmte Personengruppen, die zwar einerseits über eine gute Vorbildung und entsprechende fachliche Qualifikationen verfügen, die jedoch andererseits für einen erfolgreichen Weg zum neuen Job mehr benötigen als eine Bewerbungsberatung. Hier ermöglichen die ausgedehnte Reflektion von berufsbezogenen Stärken und Schwächen im Rahmen des Assessments und die anschließende Vertiefung im Coaching neue berufliche Optionen.
Gleichermaßen sinnvoll ist der Einsatz im Rahmen von Einzelout-Placements, auch, aber nicht nur, für Führungskräfte. Die besondere Angebotspalette dieser Maßnahme trägt dazu bei, den Mitarbeitern größere Wertschätzung zu signalisieren.
Sowohl für die Mitarbeiter als auch für das Unternehmen stellt diese Maßnahme einen doppelten Nutzen dar. Dient das Newplacement schwerpunktmäßig der internen Neuorientierung von Mitarbeitern, deren Jobs aufgrund von Umorganisationen entfallen, so profitieren Mitarbeiter wie Unternehmen unmittelbar von der Maßnahme als Instrument zur Personalentwicklung. Die im Zuge von Assessment und anschließendem Coaching erworbenen oder vertieften Kompetenzen kommen am neuen Arbeitsplatz direkt der Arbeit im Unternehmen zugute. Für die Mitarbeiter stellt die Kompetenzerweiterung auch unabhängig vom Verbleib im Unternehmen einen Gewinn dar.
Die Kombination einer Assessment- mit einer Newplacement-Maßnahme ist aber zeit- und personalintensiv. Für Situationen, in denen, beispielsweise aufgrund einer Betriebsschließung, eine möglichst rasche Vermittlung sehr vieler Beschäftigter im Vordergrund steht, ist sie daher weniger geeignet. Für unseren konkreten Fall bestätigten sowohl die hohe Akzeptanz als auch die positiven Rückmeldungen der Teilnehmer und Berater, dass sich der Aufwand einer zusätzlichen Personaldiagnostik lohnte.
Autoren
Dr. Michael Jäger, Diplom-Psychologe und Personalberater, Buckenhof,
michael.jaeger@psytransfer.de
Jenny Hoch, Diplom-Psychologin und Newplacement-Beraterin, Veitsbronn,
jh@jennyhoch.de
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