Ausgabe 6 - 2015
Nur die Eignung entscheidet

Was lässt sich tun gegen den zunehmenden Azubimangel? Eine Möglichkeit ist, den Bewerberkreis auf vernachlässigte Zielgruppen auszudehnen. Gerade bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund können Betriebe dabei auf kompetente Vermittlungspartner zurückgreifen.
In deutschen Unternehmen stoßen Bewerber mit einer anderen kulturellen Herkunft bei der Lehrstellensuche häufig auf Vorbehalte. Zu diesem Ergebnis kommt eine Unternehmensbefragung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. 59 Prozent der Ausbildungsbetriebe gaben an, noch nie einem Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Lehrstelle gegeben zu haben. Als Grund nannten drei Viertel, dass sie keine Bewerbungen von diesen Jugendlichen erhalten hätten. Diese Aussage finden die Studienautoren jedoch wenig plausibel, da sich gerade junge Menschen mit Migrationshintergrund anderen Erhebungen zufolge bei vielen Betrieben bewerben. Dennoch findet ein Drittel der Abgänger mit mittlerem Schulabschluss und ausländischen Wurzeln keine Lehrstelle.
Doch es gibt auch positive Beispiele: Unternehmen, für die nur die Eignung und nicht die kulturelle Herkunft zählt. Lehrlinge mit ausländischen Wurzeln sind für diese Betriebe – auch das ist ein Ergebnis der Studie – längst Normalität. Die Berliner Wasserbetriebe sind ein solches Unternehmen. Das Recht auf Bildung unabhängig von der sozialen und kulturellen Herkunft ist einer der Unternehmensgrundsätze. „Wir entscheiden bei der Auswahl eines Auszubildenden danach, ob er geeignet ist“, sagt Ausbildungsleiter Christian Kahmann, der selbst vor 35 Jahren eine Lehre bei seinem heutigen Arbeitgeber absolviert hat. Von den rund 200 Auszubildenden der Berliner Wasserbetriebe haben mindestens 25 einen Migrationshintergrund. Vermutlich sind es noch mehr, denn die Angabe der Herkunft ist im Bewerbungsformular freiwillig.
Gesucht: Azubis als künftige Facharbeiter
Das Unternehmen spürt den Fachkräftemangel bereits deutlich: „Die Anzahl der Bewerbungen für unsere Ausbildungsberufe ist stark zurückgegangen. In den nächsten zehn bis zwölf Jahren wird sich das Problem weiter verschärfen“, sagt der Ausbildungsleiter. Die Ausbildungsquote ist mit 7,5 Prozent bei insgesamt 3800 Mitarbeitern relativ hoch. Der Betrieb braucht vor allem Mitarbeiter, die künftig als Facharbeiter zur Verfügung stehen: „Wir wollen daher auch Azubis eine Chance geben, die weniger leistungsstark sind und uns langfristig erhalten bleiben. Denn für die Leistungsstarken ist der Anreiz, im Anschluss an eine Berufsausbildung ein duales Studium zu beginnen, natürlich hoch.“
Anlagenmechaniker und Fachkräfte für den Umweltbereich zählen zu den insgesamt 16 angebotenen Ausbildungsberufen, für die es schwer ist, geeigneten Nachwuchs zu finden. Hier greift das Unternehmen auf das Berliner Netzwerk für Ausbildung zurück, mit dem es seit vielen Jahren kooperiert. Als Schnittstelle zwischen Schule und Betrieb unterstützt das Netzwerk unter anderem Schüler aus sozial schwachen Elternhäusern bei der Aufnahme einer dualen betrieblichen Ausbildung. Von den vermittelten Kontakten werden jährlich ein oder zwei Netzwerkschüler eingestellt.
Mehrsprachige Einstellungstests
Das Berliner Netzwerk begleitet jährlich bis zu 800 Berliner Schüler, die vor ihrem Abschluss stehen, auf ihrem Weg in die Ausbildung. Neben organisierten Informationsveranstaltungen bei Firmen unterstützen ausgebildete Coaches die Schüler dabei, Bewerbungsunterlagen zu entwerfen und Vorstellungsgespräche zu üben. Auch auf Einstellungstests bereiten sie die Schüler vor. Bei den Berliner Wasserbetrieben machen Bewerber zunächst einen Probeeinstellungstest, um sich an die Bewerbungssituation zu gewöhnen. Außer dem theoretischen Test, der sich auf das Allgemeinwissen, die Persönlichkeit und das technische Verständnis konzentriert, trainieren die Schüler auch das Bewerbungsgespräch.
Der Netzwerk-Schüler Erkan Özsöz hat bei dem Berliner Unternehmen vor eineinhalb Jahren seine Ausbildung zum Mechatroniker begonnen. Für den jungen Mann, der sich selbst als Deutschen mit türkischer Abstammung bezeichnet, war der Test in sprachlicher Hinsicht gut zu bewältigen, da er in Deutschland aufgewachsen ist. Das Unternehmen tut allerdings gut daran, sein künftiges Vorhaben, den Test auch mehrsprachig anzubieten, zu verwirklichen. „In Zukunft wird es für uns noch notwendiger, kontinuierlich auszubilden und auch Azubis mit sprachlichen Defiziten zu berücksichtigen“, so Ausbildungsleiter Kahmann.
Azubi-Casting zum gegenseitigen Kennenlernen
Im Ausbildungszentrum der Deutschen Telekom in Berlin werden jährlich rund einhundert Auszubildende für kaufmännische und technische Berufe eingestellt. „Für Azubis im Einzelhandel suchen wir jedes Jahr besonders nach geeigneten jungen Menschen mit Interesse am Vertrieb“, sagt Helga Homann, Referentin für Geschäftssteuerung und verantwortlich für die Einstellung der Azubis.
Das vom Berliner Netzwerk angebotene Azubi-Casting ist für die Telekom eine gute Möglichkeit, mit Schülern in Kontakt zu kommen, eine Vorauswahl zu treffen und auch weniger bekannte Ausbildungsberufe, wie den Kaufmann für Dialogmarketing, vorzustellen. Die Jugendlichen bekommen die Chance, die Vorstellungssituation zu üben. Homann: „Im persönlichen Gespräch können die Schüler Fragen stellen, wobei Hemmungen reduziert werden und das Selbstbewusstsein gestärkt wird. Es ist unsere Verantwortung als ausbildendes Unternehmen, auch den jungen Menschen eine Chance zu geben, deren Wege bisher nicht geradlinig verlaufen sind.“ Das Azubi-Casting hat sich bewährt: Von den teilnehmenden Schülern haben etwa 20 eine Ausbildung zum IT-Systemelektroniker oder Kaufmann im Einzelhandel begonnen.
Nationalität ist keine Schranke
Daniela Jobst, Ausbildungsleiterin bei der Unternehmensgruppe Dr. Eckert GmbH, macht keinen Hehl daraus, dass der Fachkräftemangel den Bahnhofsbuchhändler mit bundesweit 200 Filialen dazu zwingt, die Einstiegshürden für Auszubildende herunterzusetzen: „Wir machen keine Auswahltests. Testergebnisse oder auch Schulnoten würden ohnehin keinen Aufschluss darüber geben, ob jemand ein guter Verkäufer ist. Bei uns durchlaufen alle Bewerber zwei Probearbeitstage in einer Filiale. Wer sich hier bewährt und zudem offen und kommunikativ ist, bekommt einen Vertrag. Wir achten im Bewerbungsprozess auch darauf, ob jemand zu uns passt und die richtige Haltung mitbringt. Ob der Bewerber Deutscher, Türke oder Serbe ist, spielt für uns überhaupt keine Rolle.“
Das Unternehmen, das Verkäufer in zwei Jahren und Kaufleute für den Einzelhandel in drei Jahren ausbildet, interessiert sich auch für Bewerber, die nicht den geraden Weg gegangen sind. Dazu gehören zum Beispiel Schulabbrecher oder junge Menschen, die eine andere Ausbildung nicht beendet haben: „Viele sind schulmüde. Wenn sie aber im Betrieb in ein Team aufgenommen werden und Verantwortung bekommen, tauen viele richtig auf und bringen gute Leistungen, auch in der Berufsschule“, sagt Daniela Jobst.
Gezielte Vorauswahl
Die Unternehmensgruppe Dr. Eckert beschäftigt deutschlandweit insgesamt 90 Auszubildende. Für Ausbildungsleiterin Jobst hat Ausbildung viel mit sozialer Verantwortung zu tun: „Junge Menschen mit schwierigen Ausgangsbedingungen haben bei uns eine gute Chance.“ Die Coaches des Berliner Netzwerks treffen aus ihrer Sicht bereits eine gute Vorauswahl, da sie die Anforderungen und Auswahlkriterien des Unternehmens kennen. Noch dazu ist der Service für die Betriebe kostenlos, und durch die Vorauswahl lässt sich mitunter Geld für ein aufwendiges Recruiting-Verfahren mit Schulbesuchen und Elternabenden sparen.
Und inwiefern profitieren die Schüler? „In den Gesprächen mit unserem Unternehmen lernen sie, sich selbst zu präsentieren und für ihre berufliche Zukunft Verantwortung zu tragen.“ Die Ausbildungsleiterin wünscht sich, dass Schüler noch besser auf ihrem Weg in die Ausbildung begleitet werden: „Im Alltag erleben wir immer wieder, dass Anschreiben schlecht formuliert oder Bewerbungsunterlagen fehlerhaft sind, auch weil Schule und Elternhaus oftmals zu wenig Unterstützung leisten können.“
Auch die IHK und die Handwerkskammern sind Mittler zwischen potenziellen Auszubildenden und Unternehmen. Ihr bundesweit angebotenes Projekt „Passgenaue Besetzung“ soll kleine und mittelständische Unternehmen dabei unterstützen, geeignete Auszubildende aus dem In- und Ausland zu finden. Insbesondere für KMU ist der Ausbildungsmarkt enger geworden. Daher werben die Projektkoordinatoren als Willkommensbotschafter dafür, auch ausländischen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anzubieten. Viele junge Menschen kommen aus EU-Ländern oder leben in Deutschland beziehungsweise haben einen Migrationshintergrund.
Matching für Mangelberufe
Kerstin Scheel, Projektkoordinatorin der IHK Dortmund, kennt die Probleme der Unternehmen, geeignete Auszubildende für Mangelberufe zu finden, zum Beispiel Fachkräfte für Lagerlogistik, Berufskraftfahrer oder Fachkräfte in der Gastronomie. Diese Felder sind auch wegen der Arbeitsbedingungen im Schichtbetrieb nicht so attraktiv für Bewerber. Gemeinsam mit den Unternehmen spricht Scheel das jeweilige Anforderungsprofil ab und berät sie dabei, welche Voraussetzungen erfüllt sein sollten und welche Qualifikationen wünschenswert wären. In der Beratung mit den Jugendlichen schaut sie darauf, wer für welchen Beruf geeignet sein könnte, ob dieser mit den eigenen Wunschvorstellungen übereinstimmt und ob der Berufswunsch realistisch ist. Die Kontakte zu den jungen Menschen knüpfen die Kammern unter anderem über die Arbeitsagentur, verschiedene Ausbildungsmessen oder Schulkooperationen. Diplom-Pädagogin Scheel hält es für wichtig, die Jugendlichen im Bewerbungsprozess zu unterstützen. Jeder bekommt ein Feedback zu seinen Bewerbungsunterlagen. Ob in Dortmund, Berlin oder anderswo: Von der Hinwendung zu bisher vernachlässigten Bewerbern profitieren beide Seiten. Die Kandidaten erhalten eine echte Chance, am Berufsleben teilzuhaben. Und diese Wertschätzung zahlt sich für die Unternehmen oft in Form von besonders motivierten Mitarbeitern aus, die als angehende Fachkräfte eine wichtige Rolle für die Zukunft des Betriebs spielen.
Matching-Projekte
Berliner Netzwerk für Ausbildung
Das Netzwerk (www.bna-berlin.de) kooperiert mit Berliner Unternehmen und Schulen mit dem Ziel, Jugendliche erfolgreich auf ihrem Weg in eine betriebliche Ausbildung zu begleiten und ihnen einen Ausbildungsplatz in einem der rund 400 Berliner Partnerunternehmen zu vermitteln.
Zu den Beratungsangeboten für Schüler zählen unter anderem:
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die Berufsorientierung und die Unterstützung bei der Suche nach Stellenangeboten und
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die Veranstaltung bewerbungsspezifischer Trainings.
Das Projekt wird gefördert durch den Berliner Senat und die Agentur für Arbeit. Träger des Netzwerkes ist die BBW Akademie für betriebswirtschaftliche Weiterbildung.
Projekt der IHK und Handwerkskammern: Passgenaue Besetzung
Die Vermittlungsfachkräfte erarbeiten im engen Kontakt mit klein- und mittelständischen Betrieben ein Anforderungsprofil künftiger Auszubildender, suchen geeignete Jugendliche und vermitteln sie an die Betriebe. Im Falle eines Vertragsabschlusses begleitet ein Mitarbeiter der Kammern Betrieb und Lehrling im ersten Ausbildungsjahr.
Der für Betriebe und Jugendliche kostenlose Service wird von dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie angeboten und durch den Europäischen Sozialfonds mitfinanziert. Seit Projektstart konnten allein von der IHK Dortmund mehrere hundert betriebliche Ausbildungsplätze passgenau besetzt werden. Weitere Informationen zum Projekt: www.dortmund.ihk24.de
Institut Unternehmen & Schule
Das Bonner Institut hat sich darauf spezialisiert, Wirtschaft und Schule in Kontakt zu bringen, und berät Unternehmen, wie sie für junge Menschen als Arbeitgeber attraktiv werden. Unter www.unternehmen-schule.de stellt das Unternehmen sein Beratungsangebot für Unternehmen und Lehrkräfte vor, gibt Auskunft über aktuelle Projekte und Partner und stellt Broschüren, Artikel und Bücher zum Ausbildungsmarketing bereit.
Annette Neumann, freie Journalistin, Berlin
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