Ausgabe 6 - 2016
Angst vor Autonomieverlust

Bereits beim Recruiting von Nachwuchskräften wirkt sich das Angebot von Mentoring uneingeschränkt positiv aus, da es von den Bewerbern als Commitment eines Unternehmens zur kontinuierlichen Mitarbeiterentwicklung wahrgenommen wird. So glaubte man bisher. Das Ergebnis einer Umfrage unter Studenten und Absolventen stellt diese Annahme in Frage.
Mentoring als vielleicht älteste Form der informellen Personalentwicklung ist heutzutage als effektives HR-Instrument anerkannt. Da eine gut gefüllte und funktionierende Talent Pipeline ein wichtiger Faktor für den Unternehmenserfolg ist, setzen Organisationen Mentoring verstärkt zur Förderung von Nachwuchskräften ein, besonders für Führungspositionen.
Welche Wirkung hat nun das Angebot eines Mentoringprogramms speziell auf die Generation Y, für die vielversprechende Karriereoptionen sowie Weiterentwicklung besonders wichtig sind? Bislang wurde kaum empirisch untersucht, mit welchen subjektiven Theorien speziell potenzielle Nachwuchskräfte der Generation Y Mentorenprogrammen gegenüberstehen. Und wie wirken sich deren Erwartungen auf das Bild des Unternehmens aus, welches Mentoring anbietet?
Mit Autonomie und Feedback punkten
Ausgehend von dem anerkannten „Job-Characteristics-Modell“ von Hackman und Oldham (1975) wurde diese Fragestellung empirisch untersucht. Das Job-Characteristics-Modell untersucht Arbeitsgestaltung und -strukturierung zur Förderung der Arbeitszufriedenheit. Hackman und Oldham entwickelten die Theorie, dass die Tätigkeit selbst grundlegende Eigenschaften aufweisen muss, welche Voraussetzung für Arbeitsmotivation, Arbeitszufriedenheit und Leistungsbereitschaft sind. Sie identifizierten drei Erlebniszustände (Sinnhaftigkeit, Verantwortlichkeit und Ergebniskenntnis) als deren Grundlage. Treten diese drei Erlebniszustände ein, erhöhen sie die Arbeitszufriedenheit, -motivation und Leistung.
Als Auslöser und Grundlage identifizierten Hackman und Oldham fünf Dimensionen einer Tätigkeit: Anforderungsvielfalt, Identifikation mit der Aufgabe, Wichtigkeit der Aufgabe, Autonomie und Feedback. Eine motivierende Tätigkeit muss hohe Werte bei wenigstens einer der ersten drei Tätigkeitsdimensionen haben und hohe Werte bei sowohl Autonomie und Feedback, um die Voraussetzungen für die drei angestrebten Erlebniszustände zu schaffen.
Dabei sind Autonomie und Feedback höher gewichtet als die ersten drei Faktoren und ihr Fehlen kann nicht durch die anderen kompensiert werden. Ebenso spielt das individuell unterschiedlich ausgeprägte Wachstumsbedürfnis, also das Bedürfnis nach Lernen und Weiterentwicklung einer Person, eine Rolle. Personen mit einem starken Wachstumsbedürfnis reagieren positiver auf Aufgaben, die hohe Werte bei den angeführten Tätigkeitsdimensionen erzielen.
In einer Studie mit 113 Studierenden und Absolventen einer Hochschule wurde untersucht, wie das Angebot eines Mentorenprogramms in einer Stellenzeige wahrgenommen wird und sich unter anderem auf die erwarteten Job-Charakteristika auswirken.
Untersuchungsdesign
Der Online-Fragebogen umfasste neben der Wahrnehmung der Stelle und des Unternehmens auch die Vorstellungen und Erwartungen an die Aufgaben und Herausforderungen dieser Position. Die positiven und negativen Erwartungen hinsichtlich des Mentorenprogramms wurden einerseits durch vorgegebene Antwortalternativen hinsichtlich möglicher Vor- und Nachteile erhoben. Zusätzlich konnten in jeweils einer offenen Frage weitere Stärken und Schwächen angegeben werden, um ein vollständigeres Bild aller Vor- und Nachteile zu gewinnen. Den Studienteilnehmenden wurde zu Beginn der Umfrage ein Szenario präsentiert, das sie zwischen zwei Stellenanzeigen wählen lässt. Bei der einen wird ein Mentorenprogramm angeboten, bei der anderen Bonuszahlungen (siehe Kasten auf Seite 52).
Bei der Umfrage zeigt sich, unabhängig von der Präferenz für Unternehmen x oder y, dass das Angebot eines Mentorenprogramms generell zu positiven Erwartungen hinsichtlich der Tätigkeit im Sinne erwarteter Jobcharakteristika führt. Im Einzelnen sind dies folgende:
-
Im Unternehmen werden vielfältige und abwechslungsreiche Aufgaben geboten (Anforderungsvielfalt).
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Die Tätigkeit bietet Aufgaben, die auch für andere Mitarbeiter im Unternehmen wichtig und bedeutsam sind (Wichtigkeit der Aufgabe).
-
Die Tätigkeit bietet die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie bei der Ausübung der Tätigkeit vorgegangen wird (Autonomie).
-
Es wird bei der Tätigkeit transparent gemacht, wie gut Aufgaben erfüllt werden (Feedback).
Kontrolle und Leistungsdruck befürchtet
Unabhängig von der Präferenz für den einen oder anderen Arbeitgeber nehmen alle Studienteilnehmer das Mentorenprogramm als Möglichkeit der Karriereförderung und persönlichen Weiterentwicklung wahr. Trotzdem zeigt sich, dass die unterstützende und fördernde Funktion eines Mentors oder einer Mentorin in der Wahrnehmung der potenziellen Nachwuchskräfte mit einem stärkeren Maß an sozialem Einfluss und geringer Autonomie einhergeht. Zudem werden mentorseitige Erwartungen befürchtet, welche die eigene Leistung überschreiten und zu Überforderung führen können. Neben den „Erwartungs-Erwartungen“ der sozialen Interaktion wird auch die soziale Abhängigkeit („Funktionieren der Beziehung ist stark abhängig vom Mentor“, „Unterschiedliche Meinungen schränken meine Karrieremöglichkeit ein“) als Risikofaktor für das eigene Wachstum erachtet.
Die Antworten zeigen, dass neben organisatorischen Nachteilen (Koordinationsaufwand) und der Gefahr von Überforderung, vor allem negative Aspekte der interpersonellen Abhängigkeiten (Risiko persönlicher Differenzen, befürchtete negative Emotionen von Kollegen, soziale Kontrolle) mögliche Schattenseiten von einem Mentoringprogramm darstellen (siehe Abbildung auf Seite 53).
Die Resultate zeigen auf, dass sich die beschriebenen Befürchtungen hinsichtlich des Mentorings auch negativ auf die Einschätzung der eigentlichen Tätigkeit auswirken. Durch die soziale Kontrolle und Interdependenz könnte nach Ansicht der Studienteilnehmenden die selbstbestimmte Umsetzung der Aufgaben gefährdet werden. Dieser negative Effekt ist von besonderer Wichtigkeit, da Autonomie im Allgemeinen (Hackman und Oldham), und insbesondere für die Generation Y, einen zentralen Faktor für Arbeitsmotivation und -zufriedenheit darstellt.
Ambivalente Wahrnehmung
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass das Angebot eines Mentoringprogramms von Absolventen der Generation Y nicht nur positiv gewertet wird, sondern durchaus ambivalent. Einerseits wirkt sich das Mentoringprogramm positiv auf die Wahrnehmung eines Unternehmens aus, da sich die Absolventen abwechslungsreichere und wichtigere Tätigkeiten erhoffen. Andererseits vermuten sie auch Überforderung, weil sie befürchten, den Erwartungen des Mentors nicht entsprechen zu können. Weiterhin wird vermutet, dass Mentoren die Entscheidungsfreiheit einschränken könnten und dadurch die Ausübung der Tätigkeit weniger selbstbestimmt wäre.
Nun könnte man argumentieren, dass die negativen Auswirkungen nicht gravierend sind, da sie durch die positiven Effekte in Bezug auf die Tätigkeitsdimensionen kompensiert werden. Dies ist jedoch fraglich, da in der Formel von Hackman und Oldham für das Motivationspotenzial einer Tätigkeit die Dimensionen „Autonomie“ und „Feedback“ höher gewichtete Faktoren sind, als die Tätigkeitsdimensionen „Abwechslungsreichtum“ und „Wichtigkeit der Aufgabe“. Somit ist es nicht möglich, Defizite bei der Tätigkeitsdimension „Autonomie“ durch die Verstärkung der anderen Tätigkeitsdimensionen zu kompensieren.
Effektivität von Mentoring?
Die Studie wirft Fragen zur Effektivität von Mentoringprogrammen auf. Denn bislang wurden dem Mentoring besonders im War for Talent hauptsächlich positive Effekte zugeschrieben. Negative Effekte wurden eher auf Seiten der Unternehmen gesehen, für die Mentoring einen hohen Kosten- und/oder Koordinationsaufwand darstellt.
Welche Auswirkungen haben nun die Ergebnisse dieser Studie für den Einsatz von Mentoring in der unternehmerischen Praxis? Besonders vor dem Hintergrund der oben erwähnten Kosten- und Koordinationsaufwendungen für Unternehmen ist es sinnvoll, Mentoring differenzierter zu betrachten. Entsprechend dem Fokus der Studie könnten die Ergebnisse Anlasse sein, Mentoring besonders in Bezug auf das Recruiting von Nachwuchskräften neu zu bewerten und der Ambivalenz dieser Zielgruppe Rechnung zu tragen durch entsprechende autonomisierende Maßnahmen. Zudem können Training, Coaching und Supervision von Mentoren die kooperierende Ausgestaltung der interpersonellen Beziehung mit den Mentees unterstützen.
Generell wirkt sich das Angebot von Mentoring positiv auf die Rekrutierung aus, da es als das Commitment eines Unternehmens zur kontinuierlichen Mitarbeiterentwicklung wahrgenommen wird. Die bislang nicht reflektierten Schattenseiten des Mentorings sollten entschärft werden, um negative Effekten entgegenwirken zu können. Besonders bei Mitarbeitern mit einem hohen Wunsch nach Lernen und Weiterentwicklung – Eigenschaften, die man sich von Mitarbeitern generell und speziell von Nachwuchskräften wünscht - ist dies besonders wichtig. Für sie dürfte die wahrgenommene Einschränkung der Autonomie besonders gravierend sein. Denn gerade bei dieser Generation spielt die Autonomie bei den ausgeübten Tätigkeiten eine wichtige Rolle in Bezug auf Arbeitszufriedenheit und -motivation.
Abbildung
Vor- und Nachteile von Mentoring

Erstaunlich ist, dass den zugeordneten Vorteilen von Mentoring durchaus viele Nachteile gegenüberstehen.
Art und Weise des Mentoring abwägen
Welche Möglichkeiten haben Unternehmen, den wahrgenommenen negativen Auswirkungen von Mentoring in Bezug auf Autonomie entgegenzuwirken oder diese abzuschwächen? Ausgehend von der gängigen Definition von Mentoring als einer Top-down-Perspektive könnte untersucht werden, ob Mentoring auf der gleichen Ebene – durch sogenannte Peers – ähnliche Erwartungen in Bezug auf Einschränkung der Autonomie mit sich zieht (Peer-Mentoring). Fraglich ist jedoch, ob die Vorteile, die ein erfahrener Mentor, beispielsweise durch sein Wissen über die Unternehmenskultur, bietet, bei einem Peer-Mentor ebenfalls gegeben sind.
Der gleiche Effekt könnte durch Mentoren eintreten, die innerhalb des gleichen Unternehmens organisatorisch weit von dem Arbeitsumfeld des Mentees entfernt eingesetzt sind oder sogar in einem anderen Unternehmen arbeiten. Auch hier könnte die größere organisatorische Distanz zwar einen Mehrwert in Bezug auf wahrgenommene Autonomie mit sich bringen, aber auch einen Verlust an Erfahrungen mit der spezifischen Arbeitssituation oder -kultur beinhalten. In Bezug auf Cross-Mentoring, also Mentoring durch andere Unternehmen, könnte es bei den teilnehmenden Firmen auch Bedenken geben, Nachwuchskräften, die in Bezug auf Performanz noch eher unbekannt sind, solch ein Mentoringprogramm anzubieten.
Eine Option könnten ausführliche Onboarding-Programme darstellen. Es wäre allerdings zu untersuchen, wie Onboarding ausgestaltet sein muss, um die positiven Effekte von Mentoring hinsichtlich einer abwechslungsreichen und bedeutsamen Tätigkeit zu erzielen.
Fakt ist: Trotz der wahrgenommenen Einschränkung der Autonomie und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit, hätten Unternehmen durch ein Mentorenprogramm und die damit verbundene positive Wahrnehmung des Unternehmens die richtigen Weichen gestellt. Die Ergebnisse der Studie könnten Unternehmen jedoch dazu anregen, die von ihnen verwendeten Anreizsysteme wie Mentoring differenzierter auf ihre individuelle Zielgruppe abzustimmen, um letztlich in Form einer zielgruppenorientierten Employer Value Proposition ihre Arbeitgeberattraktivität nachhaltig zu sichern.
Autorinnen
Professor Dr. Ulrike Weber, Professorin für Human Resources & Organisation, ISM, Hamburg und Coach,
ulrike.weber@ism.de
Professor Dr. Ute Rademacher, Professorin für Psychology & Management, ISM, Hamburg und Coach,
ute.rademacher@ism.de
Personalwirtschaft
Unter www.pwgo.de/downloads bei „Downloads zum Heft“ finden Sie Grafiken, die die Studienergebnisse anschaulich darstellen.
Umfrage-Szenario
„Stell Dir vor, Du bist derzeit auf Jobsuche, um Deinen Einstieg ins Berufsleben zu schaffen. Auf einer Internetplattform findest Du zwei Stellenanzeigen (Unternehmen X und Y).
Beide Unternehmen gehören einer Branche an, die Dich grundsätzlich interessiert. Die Rahmenbedingungen der Stellenangebote sind miteinander vergleichbar und das gebotene Gehalt liegt bei beiden Unternehmen in einem Bereich, der für Dich interessant ist.
Der einzige Unterschied:
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Unternehmen X bietet Dir an, am Mentorenprogramm des Unternehmens teilzunehmen. Hierbei steht Dir eine Führungskraft aus dem oberen Management als Mentor/in zur Verfügung, der oder die Dich im Unternehmen begleitet und unterstützt.
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Unternehmen Y bietet Dir quartalsweise leistungsabhängige Bonuszahlungen von bis zu 25 Prozent des Dir angebotenen Grundgehalts an. Die Auszahlungen sind zusätzlich zum Grundgehalt.“
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