Ausgabe 6 - 2016
„Auf dem Teppich bleiben“

Dr. Uwe Kanning, Professor für Wirtschaftspsychologie, Hochschule Osnabrück
Können Kultur und Werte im Recruiting den Ausschlag geben? Diagnostikexperte Uwe Kanning warnt vor überzogenen Erwartungen. Kulturelle Passung hin oder her – entscheidend sei die Performance: „Was nützt die Einstellung eines Kandidaten, der sich im Unternehmen wohlfühlt, aber keine Leistung bringt?“
Personalwirtschaft: Herr Professor Kanning, eine prinzipielle Frage vorweg: Kann man die Leistung eines Bewerbers vorhersagen?
Uwe Kanning: Ja, das kann man. Damit beschäftigt sich die Forschung seit vielen Jahren. Wir nennen das „prognostische Validität“. Dabei geht es um die Frage, wie ein Auswahlverfahren beschaffen sein muss, damit am Ende die Personen ausgewählt werden, die wahrscheinlich den größten beruflichen Erfolg erzielen. Dies geht zum Beispiel mit hoch strukturierten Interviews.
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang, wie gut Organisation und Menschen zueinander passen?
Im Kern geht es bei der Personalauswahl um genau dieses Ziel. Vorausgesetzt, es gibt ein klares Anforderungsprofil, können wir mit diagnostischen Methoden ermitteln, wie gut jemand im Hinblick auf seine fachlichen und sozialen Kompetenzen, seine Motivation und Persönlichkeit zur Organisation passt. Leider zeigen Umfragen, dass meist auf aussagekräftige Anforderungsanalysen verzichtet und stattdessen viel zu grob aus dem Bauch heraus beschrieben wird, wen man eigentlich sucht.
Im Recruiting interessieren sich derzeit viele Akteure für eine kulturelle Passung zwischen Unternehmen und Bewerber. Wie beurteilen Sie das?
Prinzipiell halte ich das für keine schlechte Idee. Zusätzlich zur Frage, was jemand können muss, will man wissen, ob Arbeitgeber und Kandidat auch in Einstellungen und Werten zueinander passen. Was will der Kandidat, und was können wir ihm bieten? In vielen Untersuchungen hat man Mitarbeiter gefragt, in welchem Umfang sie sich selbst als passend einschätzen und zwar zum Unternehmen, zur Arbeitsgruppe oder zu den konkreten Arbeitsaufgaben. Erleben sich Menschen als passend, geht dies mit höherer Arbeitszufriedenheit und Verbundenheit zum Arbeitgeber einher. Zur beruflichen Leistung besteht jedoch kein nennenswerter Zusammenhang.
Ist Kultur überhaupt fassbar, geschweige denn in Tools operationalisierbar, die von einem Algorithmus getaktet sind?
In vollem Umfang sicherlich nicht. Man sollte hier auf dem Teppich bleiben. Kultur ist ein so bunt schillernder Begriff, eigentlich kann es immer nur um Facetten gehen. Personaler sollten sich nicht einreden, sie könnten mit einem Fragebogen ermitteln, wie es um ihre Kultur bestellt ist.
Warum sind Sie skeptisch?
Eine Gefahr besteht darin, dass die Befragten nur runterbeten, was sich zuvor die Marketingabteilung ausgedacht hat. Vielfach wird Kultur, so wie sie für das Unternehmen definiert wurde, auch gar nicht gelebt. Zudem treffen wir in größeren Unternehmen auf eine Vielzahl von Kulturen. Sie unterscheiden sich von Standort zu Standort, von Abteilung zu Abteilung. In der Produktion dominieren andere Werte als im Vertrieb oder in der HR-Abteilung. Kurz: Ich glaube nicht, dass ein Konzern wie Daimler überhaupt eine homogene Kultur hat, mit der man sich von der Konkurrenz unterscheidet.
Haben kulturrelevante Parameter denn tatsächlich diagnostische Relevanz?
Ich habe mir einige Tools im Kontext des Cultural Fit angeschaut. Wie bei Persönlichkeitstests gibt es auch hier gute und schlechte Angebote. Personaler sollten vor allem auf die Qualität der Instrumente achten. Leider ist aber nicht zu erkennen, dass bei der Auswahl von Tests tatsächlich nach diagnostischen Qualitätskriterien entschieden wird. Viele orientieren sich bei der Auswahl eher an dem, was andere Unternehmen machen, oder sie entscheiden auf Basis der absoluten Kosten.
Wie sollte also die Entscheidungsgrundlage aussehen, um die Qualität von Cultural-Fit-Tools seriös zu beurteilen?
Zur Beurteilung der Qualität eines Verfahrens benötige ich mathematische Kennwerte. Erkundigen sich Personaler danach, teilen ihnen Anbieter oft mit, das sei ein Betriebsgeheimnis, verweisen nebulös auf gute Erfahrungen und zahlreiche zufriedene Kunden. Damit darf man sich nicht abspeisen lassen. Wenn ich mich bei einem Autohändler erkundige, wie viel PS ein Fahrzeug hat, erwarte ich auch konkrete Angaben. Ich warne davor, die Katze im Sack zu kaufen.
Wie beurteilen Sie den Einsatz eines Cultural-Fit-Tools zur Selektion von Kandidaten?
Das sehe ich durchaus kritisch. Diese Tools werden hier und dort eingesetzt, um auf Basis des erzielten Ergebnisses das Einstellungsgespräch zu gestalten. Man sollte sie aber niemals als zentrales Verfahren einsetzen, sondern vielmehr als Ergänzung. Sonst laufen Recruiter Gefahr, kulturelle Aspekte höher zu gewichten als Kompetenzen. Würde der Recruiter zudem persönlich auf jeden Kandidaten eingehen und ihm individuelle Fragen zu bestimmten Werten stellen, nähme er diagnostisch betrachtet wesentliche Qualitätseinbußen in Kauf. Wer jedem Bewerber andere Fragen stellt, kann sie untereinander nicht mehr vergleichen. Ein Mathematiklehrer gibt ja auch nicht jedem Schüler eine Klausur mit anderen Aufgaben.
Einige Tools lassen sich gezielt auf die jeweiligen Unternehmenswerte feinjustieren. Lohnt sich das?
Anwendungen gezielt auf Unternehmen hin zu entwickeln, ist möglich und geschieht auch in der Praxis. Doch es rechnet sich nur für Konzerne. Kleinere Firmen können die Passung ihrer Werte auch im Einstellungsgespräch prüfen. Hierzu konfrontieren sie Bewerber mit wertbezogenen Situationen aus dem Berufsalltag: Sie bitten um eine Einschätzung der Situation oder fragen danach, wie sich der Bewerber in einer solchen Situation verhalten würde. Wichtig ist, jeden Wert mit mehreren Fragen zu untersuchen – und jedem Kandidaten dieselben Fragen zu stellen.
Welche Bedeutung weisen Sie einer solchen Wertebeurteilung im Recruiting zu?
Das kann durchaus hilfreich sein. Aber grundsätzlich wird die Bedeutung von Werten oft überschätzt. Als Recruiter darf ich nicht die Hälfte meiner Zeit über Werte plaudern, weil ich damit viel Zeit verliere, um Kompetenzen zu prüfen. Denn Menschen orientieren sich im Alltag nur tendenziell an ihren Werten und Einstellungen. Ich selbst finde es beispielsweise durchaus gut, wenn man sich gesund ernährt – trotzdem esse ich zu viele Süßigkeiten. Auf den Cultural Fit übertragen: Weil es nur geringe Zusammenhänge zwischen Werten und tatsächlichem Verhalten gibt, vertrödeln Recruiter kostbare Zeit, wenn sie sich zu intensiv mit den Werten der Bewerber auseinandersetzen.
Trotzdem ist es positiv, dass sich viele Personaler eben nicht mehr bloß auf ihr Bauchgefühl verlassen wollen.
Eindeutig ja. Die Forschung empfiehlt Auswahlverfahren, die auf standardisiertem Wege Kompetenzen erfassen und regelgeleitet Entscheidungen herbeiführen. Das ist heute aber immer noch die große Ausnahme. Die meisten Unternehmen haben nicht einmal Kriterien zur Bewertung der Antworten im Interview. Gute Testverfahren können dabei helfen, die diagnostische Qualität zu steigern.
Auch im Hinblick auf das Thema Cultural Fit spielt Big Data eine wesentliche Rolle. Verstehen Sie Personaler, die möglichst viele Daten der Kandidaten erfassen und analysieren wollen?
Zunächst einmal stellt sich die Frage, welche Daten überhaupt Aufschluss über den Cultural Fit geben. Wenn es gelingt, auf diesem Weg den Cultural Fit zu diagnostizieren, bleibt noch die Frage der Gewichtung. Wir sollten nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Was nützt die Einstellung eines Kandidaten, der sich im Unternehmen wohlfühlt, aber keine Leistung bringt? Übrigens ist der Gedanke, dass jeder Mitarbeiter mit seinen Werten zum Unternehmen passen muss, womöglich trügerisch. Innovationsfähigkeit beispielsweise wird eher durch Heterogenität in der Belegschaft gefördert.
Andersherum: Wenn Interessenten vor einer Bewerbung prüfen können, ob sie sich mit ihren Anschauungen und Arbeitsweisen gut in eine Unternehmenskultur einfügen können, ist das doch für beide Seiten von Vorteil: „Finger weg von der Bewerbung. Du passt da nicht rein.“ Damit sparen beide Seiten Aufwand und Geld.
Dem möchte ich nicht widersprechen. Ein Ziel professioneller Diagnostik ist die Erhöhung der Grundquote. Damit ist der Anteil der geeigneten Personen unter den Bewerbern gemeint. Klinken sich schon vor der Bewerbung viele Ungeeignete von selbst aus, steigt damit die Wahrscheinlichkeit einer besseren Auswahlentscheidung. Ich würde zu einer Kombination aus Leistungs- und Cultural-Fit-Test raten. Damit dürfte die Grundquote etwas steigen.
Autor
Das Interview führte Winfried Gertz.
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