Ausgabe 7 - 2015
Mit Kickertisch und Kuschelecke

Bitte Platz nehmen: Für neue Mitarbeiter bei Drees & Sommer dürfte nicht immer klar sein, ob sie in der Kantine oder im Open Space-Büro gelandet sind. Schick ist es allemal.
Die Digitalisierung zwingt Unternehmen, Arbeit flexibler zu gestalten. Darauf reagieren sie zunehmend mit offenen Büroumgebungen. Doch werden die neuen Arbeitswelten den Bedürfnissen der Mitarbeiter gerecht? Und welche Rolle spielt HR bei der Transformation?
Hohe Erwartungen sind mit dem Neubau von Solarlux in Melle bei Osnabrück verknüpft. Im bebilderten Blog können die Beschäftigten miterleben, wie ihre künftigen Arbeitsplätze aus dem Baggerloch emporwachsen. Attraktiv sollen sie sein, verspricht Seniorchef Herbert Holtgreife, „gut klimatisiert, mit Ruhezonen.“ Weder Krach, Kälte noch Zugluft sollen die Mitarbeiter in den Büros und in der angegliederten Fertigung belasten. Dort entstehen Glas-Faltwände, Wintergärten und moderne Fassadenlösungen – Produkte, deren Transparenz, Lebendigkeit und Leichtigkeit der neue Firmensitz aufgreifen soll.
Das Beispiel des Familienunternehmens zeigt: Nicht nur Konzerne stellen ihre Arbeitsumgebungen auf den Prüfstand. Auch der Mittelstand wagt sich vereinzelt aus dem Büro-Allerlei heraus, um sich unter dem Stichwort „Open Space“ kooperativer und kommunikativer zu zeigen. Das gilt zusätzlich zur Digitalisierung gemeinhin als Trumpfkarte im Wettbewerb um die nachrückende Generation: Ihr sind Arbeitskulturen ein Gräuel, wo stur von neun bis fünf gearbeitet wird und einem ständig der Boss im Nacken sitzt. So heißt es zumindest. Laut Trendforscherin Birgit Gebhardt wird der Wissensarbeiter künftig vielfältige Tätigkeiten verrichten und nur ins Büro kommen, wenn er dort ideale Bedingungen vorfindet: „Räume, die ihn in die erwünschte Arbeitshaltung versetzen und ihn dazu auch emotional stimulieren.“
Neue Büros, neues Führungsverhalten
Wie ernst es Unternehmen mit der digitalen und räumlichen Transformation nehmen, zeigen weitere Beispiele. Unter dem Motto „Future Work“ krempelt die Deutsche Telekom ihre Bonner Zentrale um. Sie will offene Bürowelten einführen, das Teilen von Arbeitsplätzen (Desk Sharing) und mobile Arbeit fördern und als Klammer ein neues Führungsverständnis etablieren. Mehr als bisher soll sich Arbeit künftig durch Kooperation, Eigenverantwortung und Teilhabe auszeichnen.
Um Führungskräfte und Mitarbeiter ins Boot zu holen, hat das Unternehmen im internen Social Network ein Forum eröffnet. Dort können die Beschäftigten ihre Ideen einbringen und Kritik üben. „Angesichts des hohen Aufkommens an konstruktiven Postings und so angestoßenen Debatten zeigt sich, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, gibt sich Dietmar Welslau, Konzernbeauftragter HR-Transformation und Konzernprogrammleiter „Future Work“, zuversichtlich.
Die Wirtschaftsprüfer von EY (Ernst & Young), unser nächster Fall, haben sich als Leitlinie das neue Arbeitsplatzkonzept „Workplace of the Future“ (WOTF) ausgedacht. In den vergangenen Jahrzehnten hätten sich Arbeitsformen und Arbeitsmittel schneller verändert als Bürostrukturen, sagt Andreas Kederer, der als Director Operations die Einführung verantwortet. „Mit WOTF wollen wir innovative, moderne und zukunftsfähige Räume schaffen, in denen unsere Mitarbeiter in Teams zusammenkommen und unserem Kunden den bestmöglichen Service bieten können.“
Abbildung 1
EY (Ernst & Young)

Wie im Katalog: Bei EY soll das Arbeitsplatzkonzept „Workplace of the Future“ für räumliche Offenheit sorgen, die Kommunikation und Teamarbeit erleichtert.
Um die Anregungen von Mitarbeitern etwa hinsichtlich der Büroausstattung möglichst frühzeitig einzubinden, gründeten sich an jedem Standort sogenannte Social Innovation Groups (SIG). Ihre Ideen werden in verbindlichen Protokollen festgehalten. Laut Kederer ist der Input aus den SIG auch „wichtiger Treiber im kulturellen Wandel“. So konnten an Einzelbüros gewöhnte Führungskräfte dafür gewonnen werden, dass jüngere Kollegen ihre Büros während ihrer Abwesenheit nutzen können. Umgekehrt nutzen in der Advisory Group tätige Partner nunmehr Doppelbüros. „Das Büro ist vermehrt Begegnungs- und Arbeitsstätte“, greift EY-Manager Kederer einen zentralen Aspekt der Veränderungen heraus. Ein weiteres Beispiel solcher Transformation ist der Immobiliendienstleister Drees & Sommer, der seine beiden Bürokomplexe am Stuttgarter Stammsitz inzwischen auf Open Space getrimmt hat. Einzelbüros mit verglasten Wänden, offene Arbeitsplätze, Meetingräume und halbkreisförmige Sitzgruppen sollen die steigenden Anforderungen an die Immobilienbranche widerspiegeln, heißt es.
HR als Change Agent
Personalleiterin Friederike Schammann-Vogel erläutert, vor den Veränderungen in der Bürolandschaft habe ihre Abteilung ermittelt, wie lange Mitarbeiter sich an ihrem Arbeitsplatz aufhalten und wie lange sie nicht im Büro sind, um ihrer Arbeit unterwegs, zuhause oder beim Kunden nachzugehen. „Parallel haben wir Mitarbeiter gefragt, was es für sie bedeuten würde, in einer anderen Büroumgebung zu arbeiten.“ HR habe den gesamten Veränderungsprozess begleitet und damit auch eine wesentliche Funktion in der Transformation eingenommen. „Wie Büros gestaltet werden und wie die Beschäftigten miteinander arbeiten sollen, spielt in der zeitgemäßen Personalarbeit natürlich eine Rolle“, betont Schammann-Vogel. Es gehöre zur Beratung von Führungskräften in ihrer Aufgabe, Mitarbeiter zu motivieren und mit gutem Beispiel voranzugehen.
Dieser Leitlinie folgen auch EY und die Deutsche Telekom. Dort sei HR stets mit von der Partie, um in Leadership Workshops die Diskussion gezielt auf Herausforderungen rund um die Arbeit in neuen Büroumgebungen zu richten, unterstreicht Welslau von der Telekom. Bei EY ist HR laut Kederer ebenfalls ins Change Management involviert. Aus HR-Sicht gehe es hinsichtlich des neuen Arbeitsplatzkonzepts nicht allein darum, Mitarbeiter mit entsprechenden digitalen Arbeitsmitteln auszustatten, um ihnen eine höhere Flexibilität zu ermöglichen. Veranlasst von Personalern schaue man sich auch die Flexibilitätsstrategie an: Stimmen die Rahmenbedingungen noch, die als Betriebsvereinbarungen zum mobilen Arbeiten (Home Office Policy) oder zum flexiblen Ausgleich von Überstunden (Flextime) bestehen? Beim bereits erfolgten Umbau am Standort Eschborn wurden mit dem Betriebsrat Richtlinien zur Nutzung von Räumlichkeiten sowie zum Schallschutz als Betriebsvereinbarung geschlossen. Ebenfalls konkretisiert wurde Kederer zufolge ein kontinuierliches Feedback, um die nicht mit der neuen Arbeitsumgebung vertrauten Mitarbeiter behutsam an die Eigenarten eines „Flexible Office“ heranzuführen.
Mehr Stress durch Flexibilisierung
Darauf sollten die Akteure viel Wert legen. New Work, Flexible Work – die modern klingenden Label täuschen darüber hinweg, dass Beschäftigte sich verausgaben, länger als gesetzlich vorgeschrieben und unter Missachtung verbindlicher Ruhe- und Pausenzeiten tätig sind, kurz: ihr Privatleben zusehends der Arbeit unterordnen. Jeder Vierte ist inzwischen ständig erreichbar. „Arbeiten immer und überall hat sich als Normalzustand etabliert“, warnt die Soziologin Tanja Carstensen von der Technischen Universität Hamburg-Harburg.
Doch Anti-Stress-Verordnungen, der Anspruch auf Nicht-Erreichbarkeit oder die Ausweitung der Arbeitsstättenverordnung auf mobile und häusliche Arbeitsplätze allein reichten nicht aus, wenn Beschäftigte ihre Mails nach Feierabend bearbeiten müssten, weil sie die Menge anders nicht bewältigen könnten. „Dann ist es ebenso notwendig, in den Unternehmen über Arbeitszeiten, Organisation oder Kommunikationskultur zu diskutieren“, empfiehlt die Wissenschaftlerin. Technik sei nie allein Auslöser veränderter Arbeitsbedingungen und Belastungen.
Treiber sind die Algorithmen, nicht HR
Die IT- und Internetbranche sieht das erwartungsgemäß etwas anders. „Wir sind weit vorne in der Arbeitswelt 4.0“, sagt Lucia Falkenberg, HR-Managerin beim Verband der Internetwirtschaft Eco. „Es herrscht Aufbruchstimmung, viele Firmen orientieren sich an Google und Co.“ Man gewinnt den Eindruck, alles werde den technischen Möglichkeiten untergeordnet. Mitmachen oder verlieren, heißt es. Tatsächlich sind Arbeitsplätze in Gefahr. Schon heute, sagt Trendforscherin Gebhardt, könne jede Standardtätigkeit, ob in der Buchführung oder sonstiger Sachbearbeitung, von Algorithmen automatisiert werden. In der IT werde man sich mittelfristig für intelligente und lernfähige Software entscheiden und damit „gegen die Mitarbeiter, die in einer tayloristischen Organisationsstruktur auf Standardtätigkeit und Arbeitsteilung getrimmt wurden“.
Gebhardt nimmt Personaler in die Pflicht: „Wie kann es sein, dass die Systeme sich schneller und besser entwickelt haben als HR die Mitarbeiter? Wie kann es sein, dass es im Grunde die Algorithmen sind - und nicht die Personalentwickler – die uns treiben, unsere humane Arbeitskraft in Tätigkeit und Fertigkeit endlich neu zu definieren?“ Personaler scheinen demnach im Gerüst überkommener „Topdown-Strukturen“ gefangen zu sein. Hermetisches Abteilungsdenken und Standardprogramme hätten Gebhardt zufolge die „so nötige individuelle Befähigung und Gewährung von Experimentier- und Freiräumen verhindert“.
Abbildung 2
Deutsche Telekom

Sharen und chillen: Bei der Telekom darf der geneigte Wissensarbeiter die Beine ausstrecken und informelle Meetings zwischen Couch und Küche abhalten.
Statussymbole, ade!
Plötzlich finden sich also Mitarbeiter – und nicht nur Wissensarbeiter – ohne jegliche Vorbereitung in Großraumbüros wieder. Für Privatheit, gar Intimität ist unter den neuerlichen Bedingungen kein Raum. Kein Platz an der Wand für die Fotos der Liebsten. Mancher fragt sich, wo die Pflanzen stehen sollen. Der vertraute Arbeitsplatz wird gegen ein nonterritoriales Büro eingetauscht, wo der Mitarbeiter jeden Tag mit einem anderen Schreibtisch vorlieb nehmen soll. Nun kommt es auf die Führungskräfte an, die selbst ihre liebgewordenen Statussymbole aufgeben sollen.
„In der Eingewöhnungsphase trauerten Mitarbeiter vereinzelt ihren vertrauten Arbeitsbereichen nach“, berichtet die Personalleiterin von Drees & Sommer, Friederike Schammann-Vogel. „Mit gutem Willen und Humor“ habe man dann das flexible Arbeitsplatzkonzept nochmals individuell erläutert. Alte Gewohnheiten abzulegen ist bekanntlich schwierig. „Es fällt ihnen umso leichter, wenn sie sehen, dass Führungskräfte und Partner mit gutem Beispiel vorangehen.“ Die Telekom hat ihre Manager darauf vorbereitet. „In vorgeschalteten Pilotprojekten, etwa zum Desk Sharing, konnten Führungskräfte genau erfahren, welche Auswirkungen die organisatorische Veränderung für sie haben kann“, so Welslau, Leiter der HR-Transformation.
Smart Working ist nicht einfach zu realisieren, meint auch EY-Manager Kederer. Während die Generation Y hoch flexibel sei und alle technischen Möglichkeiten nutzen möchte, wolle die Generation X ihre Erfahrung aus der vordigitalen in die moderne Arbeitswelt übertragen. Unter Babyboomern hingegen sei das Büro als Statussymbol in weiten Teilen fest verankert. „Diese unterschiedlichen Bedürfnisse und Ansprüche zu vereinen, ist sicherlich eine der größten Herausforderungen in der neuen Arbeitsplatzgestaltung.“
Noch viel Arbeit für HR
Womöglich steht HR mit der durch Digitalisierung veranlassten Transformation von Arbeitskulturen noch viel Arbeit ins Haus. Darüber können auch die löblichen Ansätze der hier skizzierten Beispiele kaum hinwegtäuschen. Gemäß dem Prinzip: Weniger Reglement, mehr Befähigung sollten Personaler laut Gebhardt „Freiräume für agile Prozesse anlegen und Pioniere ermuntern, interdisziplinär zu experimentieren“.
Freilich hat die Euphorie rund um Open Space, New Work und die vermeintlichen Vorlieben der Wissensarbeiter einen Haken. Beileibe nicht jede händeringend umworbene Nachwuchskraft verortet sich in hochflexiblen und mit allem digitalen Schnickschnack hochgerüsteten Arbeitswelten, „wo man 40 Prozent des Tages mit Facebook, Labern und aufs Klo gehen verbringt“, wie ein Informatik-Student unlängst auf einem Microsoft-Forum in München sagte. Stabile Strukturen wie eine geregelte Arbeitszeit oder die klare Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben haben durchaus noch einen guten Ruf unter Talenten und Hoffnungsträgern. Womöglich tickt die Generation Y gänzlich anders, als sie derzeit in Studien und Sonntagsreden charakterisiert wird.
Solarlux-Boss Holtgreife bleibt Realist – trotz großer Motivation, seinen Mitarbeitern völlig neue und moderne Arbeitsbedingungen zu verschaffen. „Wir richten keine Kuschelecken ein, schließlich soll ja auch gearbeitet werden.“ Die Gefahr, dass die Neuerungen nicht wie gewünscht ankommen, blendet der Unternehmer keineswegs aus. „Wenn wir das übertreiben, kriege ich ein Riesenproblem“, räumt er ein. Nichts sei in Stein gemeißelt. „Wenn es nicht hinhaut, dann ändern wir es eben.“
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
- Nicht nur Kuschelecken
- Weitere Streiks drohen
- Mit Kickertisch und Kuschelecke
- „Wichtiger als Gestaltungskonzepte ist die Vertrauenskultur“
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