Eine neue Kultur des Alterns – Individualität und Solidarität

Eine historische Betrachtung des Alters, der Geschichte der Rentenversicherung und der heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen führt zu dem Schluss, dass ein Umdenken notwendig ist. Für ein eigenes „Altersgrenzen-Selbstbestimmungsrecht“ plädieren die Autoren Dr. Nobert Blüm und Rudolf Kast.
Alter war über Jahrhunderte ein kurzer Anhang an das Arbeitsleben. Heute dagegen ist Alter ein eigener Lebensabschnitt mit Eigenprofil und eigener Würde. Die Lebensumstände und -bedürfnisse sind in keiner Lebensepoche so unterschiedlich wie im Alter. Unter Gleichaltrigen befinden sich gesunde Tatkräftige und Pflegebedürftige. Die einen wollen helfen, den anderen muss geholfen werden. Dazwischen liegt ein weites Feld der Übergänge und Abstufungen. Bis jetzt bieten wir nur den Einheitsbegriff „Ruhestand“ für das Alter an. Das offenbart unsere Einfallslosigkeit. Kein Alter verträgt so wenig über den Kamm geschoren zu werden, wie das Alter der Alten. Die unzuträgliche Nivellierung beginnt schon mit der Einheitsaltersgrenze.
Selbstbestimmter Zeitpunkt
Das Industriezeitalter war auf normierte Lebensläufe angewiesen. Man musste wissen, wann die Arbeit anfängt und wann sie aufhört. Das galt für die Tageswie für die Lebensarbeitszeit. Die Sirene bestimmte die Fabrikarbeit. Die entlaufenen Bauernsöhne und wandernden Handwerkergesellen mussten so in die neue fast militärische Disziplin der Fabriken gezwängt werden. Das Fließbandzeitalter nähert sich seinem Ende. Es gibt mehr Möglichkeiten, Lebens-und Arbeitsrhythmus in Einklang zu bringen, als es die proletarischen Arbeitskolonnen je hatten, die im Gleichschritt losmarschierten. Die Erinnerung ist noch wach: Viele Väter arbeiteten bis zum letzten Tag vor dem 65. Geburtstag acht Stunden an Werktagen. Die Arbeitszeitverkürzungen, die sie erlebten, haben sie freudig begrüßt. Das Schema der außengelenkten Arbeitsrhythmen hatte sich dabei jedoch nicht verändert. Am ersten Tag ihres Ruhestandes waren sie noch fröhlich, fühlten sich wie im Urlaub. Aber dieser Urlaub ging nicht zu Ende. Die Generation unserer Väter fühlte sich alsbald wie eine verrostete Maschine, die ausgemustert worden war. Der Mensch ist jedoch keine Maschine, die man nach Belieben aus- und einschalten kann. Warum können wir nicht die alten Lebensmuster des schrittweisen Rückzuges aus der Erwerbsarbeit mit einem selbstbestimmten Zeitpunkt verbinden? Kein Bauer hätte sich von einer Reichsversicherungsordnung Karls des Großen vorschreiben lassen, wann er seinen Arbeitseinsatz minderte oder beendete. Oft allerdings war Not und Krankheit der Befehlshaber des Abschieds.
Partnerschaftliche Flexibilität
Den Zwang, den Altersarmut auslöst, wollte die Rentenversicherung durchbrechen. Sie ist auf ihrem über 100-jährigen Weg diesem Ziel näher gekommen. Sie kann diesen Wohlstandsgewinn jetzt verbinden mit dem Fortschritt der Freiheit, über das Ende selbst zu entscheiden und so Lebens-und Arbeitsrhythmus wieder zu synchronisieren, wie das in vorindustriellen Zeiten üblich war.
• Sicherheit und Freiheit
Die potenziellen Rentner sind lebenserfahren genug. Sie bedürfen nicht eines gesetzgeberischen Vormundes. Sie wollen selbst ihren Ausstieg bestimmen. Damit erscheint der Ruhestand nicht wie ein fremdbestimmtes Urteil, sondern wird Teil einer selbstbestimmten Lebensführung, zu der die freiwillige Festlegung der Altersgrenze gehört. So verbinden sie Sicherheit und Freiheit.
• Altersgrenzen-Selbstbestimmungsrecht
Wir können die gesetzliche Altersgrenze gänzlich fallen lassen und müssen dann nur noch den Zeitpunkt festlegen, von dem ab bei früherem Rentenzugang versicherungsmathematisch errechnete Abschläge abgezogen und bei späterem Abgang von der Erwerbsarbeit Zuschläge gezahlt werden. Auf diesem Weg erhält jeder sein eigenes „Altersgrenzen-Selbstbestimmungsrecht“.
• Das Ende von Befehl und Vorwand
Kein Arbeitnehmer muss dann mehr „gesetzliche Beendigungsbefehle“ hinnehmen. Aber auch kein Arbeitgeber könnte sich hinter dem Gesetzgeber verstecken und für Entlassung den Vorwand einer gesetzlichen Altersgrenze vorschieben. Beide, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, müssten sich allerdings rechtzeitig über einen einvernehmlichen Abgang einigen, planen und organisieren. Dies wäre eine elementare Veränderung der betrieblichen Personalposition. Zur Investitionsplanung träte eine vertiefte altersspezifische Personalplanung.
Vereinbarung statt Zwang
Eine Hire-and-fire-Personalpolitik verträgt sich nicht mit einer partnerschaftlichen Flexibilisierung. Diese setzt eine gewisse Langfristigkeit voraus, auf die Lebensplanung und -sicherheit angewiesen ist. Das Modell einer „partnerschaftlichen Flexibilität“ ist das Gegenmodell zu einem entfesselten Arbeitsmarkt nach dem K.-o.-System wie auch die Alternative zu einer gesetzlichen Befehlswirtschaft. Vereinbarung tritt an die Stelle von Zwang.
Freilich sind für die freie Wahl nicht nur die Theorie, sondern auch die realen Bedingungen wichtig. Freie Wahl zwischen „später“ oder „früher“ ist nur möglich bei ausreichender Höhe des Rentenniveaus. Die durch die Riester-Rente bewirkte Absenkung des Rentenniveaus verhindert für viele Arbeitnehmer die reale Chance des früheren Ausscheidens, weil der Abschlag für früheres Ausscheiden von keinem Rentner getragen werden kann, der keine überdurchschnittliche Rente erzielt. Die „kleinen Rentner“ sind damit doppelt benachteiligt. Ihre Rente ist niedrig und sie müssen länger arbeiten. Sie können sich keinen Abschlag leisten, obwohl sie häufig am dringendsten auf früheren Rentenbeginn angewiesen sind.
Riester-Rente blockiert Flexibilisierung
Die Absenkung des Rentenniveaus mithilfe der Riester-Rente nimmt also vielen Arbeitnehmern die reale Chance des früheren Rentenzugangs und damit auch denen, die durch harte Arbeitsbelastung eine geringere Lebenserwartung haben und somit geringere Rentenbezugszeiten erleben werden. Es müssen daher pragmatische, finanzierbare Formen eines flexiblen Rentenübergangs gefunden werden.
Beitragsjahre allein kein gerechtes Kriterium
45 Beitragsjahre zur Voraussetzung des früheren Rentenzugangs zu bestimmen, ist rentensystematisch unbefriedigend. Was machen wir mit denen, die nur 44,5 Beitragsjahre summieren können? Das Fallbeil der Zeit ist kein Instrument der Flexibilisierung. Im Übrigen werden durch das niedrige Rentenniveau jene, denen durch Krankheit, Arbeitslosigkeit etc. lebenslange Erwerbstätigkeit verwehrt blieb, von der Flexibilisierung ausgeschlossen bleiben.
Ist die Flexibilisierung der Altersgrenze nur etwas für privilegierte Arbeitnehmer? Die Zahl der Beitragsjahre entscheidet zwar mit über die Rentenhöhe. Aber auch die zeitliche Lage dieser Beitragsjahre im Rentenverlauf ist von Bedeutung für Rentengerechtigkeit. 20 Jahre Rentenbeitrag sind nicht gleich 20 Jahre Rentenbeitrag, wenn diese 20 Jahre in unterschiedlichen Lebensabschnitten gezahlt werden. Der Wert der reinen Beitragszeit verändert sich nämlich mit dem Zeitabschnitt, in dem sie gezahlt werden. Beiträge, die beispielsweise zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr gezahlt wurden, führen zu einem höheren Gesamtrentenvolumen als eine Beitragszeit, die zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr liegt. Wenn beide Beitragszahler das 80. Lebensjahr erreichen würden, erhielten beide zwar die gleiche Rente, der eine aber 40 Jahre lang und der andere nur 20 Jahre lang.
Deshalb bedarf es eines Eckpunktes des Renteneintritts, von dem aus dann Zu-und Abschläge berechnet werden. Dieser Zeitpunkt muss bestimmt werden, um die neue Flexibilität zu ermöglichen. Die allgemeine Vertraglichkeit des Zeitpunkts hängt also vom Rentenniveau ab. Deshalb muss zuerst über das Rentenniveau Verständigung erzielt werden, bevor Flexibilität praktiziert werden kann.
Lebensnahe Sozialpolitik
Sozialpolitik hat nichts mit ideologischer Wolkenschieberei zu tun. Sozialpolitik wird auf der dünnen Haut von Menschen geschrieben. Deshalb muss sie theoretisch und praktisch stimmen. Eine flexible Altersgrenze ist theoretisch und praktisch richtig, wenn sie die Rentenniveaudebatte mit der Flexibilitätsdebatte verbindet. So ermöglicht sie Freiheit sowie soziale Sicherheit und kommt den unterschiedlichen Bedürfnissen unterschiedlicher Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen entgegen. Der neue Name des Fortschritts heißt Differenzierung. Sie verbindet Individualität mit Solidarität.
Autoren
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung a.D.
Rudolf Kast, Geschäftsführer, Die Personalmanufaktur, Vorstandsvorsitzender ddn,
kast@diepersonalmanufaktur.de
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