Viel Aufwand für mehr Lebensqualität

Mehr Freiraum, um berufliche Verpflichtungen mit privaten Aufgaben und Vorlieben in Einklang zu bringen, wünschen sich viele Beschäftigte. Zeitwertkonten könnten dafür die Lösung sein – auch im Mittelstand.
Erst mit 67 in Rente zu gehen, ist für viele Arbeitnehmer eine unrealistische Vorstellung. Die Sorgen der Beschäftigten, nach dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben womöglich auf Notgroschen angewiesen zu sein, wurden nicht geringer, als die Politik im Jahr 2009 mit dem „Flexi-II-Gesetz“ die bis dato geltenden Regelungen zum Vorruhestand und zur Altersteilzeit kippte.
Besonders in der Bauindustrie erreicht kaum jemand die gesetzliche Altersgrenze. Als die in Burbach ansässige Hering Bau GmbH & Co. KG vor elf Jahren eine Mitarbeiterbefragung durchführte, kamen die Befürchtungen der Beschäftigten deutlich zum Vorschein. Viele verrichten körperlich schwere Arbeit im Gleisbau oder in der Produkttechnik. Grund genug, Experten um Rat zu fragen. In Abstimmung mit Firmenleitung und Arbeitnehmervertretern entwickelten sie ein Modell, das den Beschäftigten durch den vorübergehenden Verzicht auf Gehaltsbestandteile ein steueroptimiertes und sozialversicherungsfreies Ansparen erlaubt.
Das Angebot über den betrieblich organisierten Vorruhestand gibt es seit sieben Jahren. Auf „Lebensarbeitszeitkonten“, wie Hering Bau die Zeitwertkonten bezeichnet, können Mitarbeiter seither freiwillig Stunden ansparen oder Sonderleistungen wie Boni und Teile des Monatsgehaltes als Bruttoentgeltzahlung anlegen. Berechnungen zufolge können mit dem Lebensarbeitszeitkonto bis zu drei Jahre Vorruhestand finanziert beziehungsweise angespart werden.
Viel Information und Kommunikation
Wie Personalleiterin Nicole Trettner erläutert, hätte dem Unternehmen bei der Einführung von Zeitwertkonten viel daran gelegen, den Beschäftigten ausführlich zu erläutern, welche Gestaltungsspielräume damit verknüpft sind. Wichtig war aber auch zu vermitteln, „was aus Guthaben bei einem Arbeitgeberwechsel oder bei Scheidung, Krankheit oder Tod wird“, sagt Trettner. Mehrfach sei der Versicherungspartner ins Haus gekommen, um das Modell an konkreten Beispielen zu erläutern.
Ebenso Anteil daran hat eine eigens geschlossene Betriebsvereinbarung. Kaum war die Tinte trocken, eröffneten gleich 60 Mitarbeiter ein Zeitwertkonto. Inzwischen ist die Beteiligung um ein Drittel gestiegen, gibt Trettner zu Protokoll.
Repräsentativ ist das Beispiel freilich nicht. Zwar wurde nach Einführung von Flexi II allenthalben erwartet, dass Betriebe in großer Zahl von Zeitwertkonten Gebrauch machen würden. Doch es kam ganz anders. Wie Deloitte und Baumgartner und Partner in einer gemeinsamen Studie herausfanden, sind Zeitwertkonten lediglich in DAX-Konzernen mit einem Anteil von knapp 75 Prozent etabliert. In M-DAX-Unternehmen liegt die Quote nur noch bei einem Drittel. Und im Mittelstand trifft das Modell bisher auf verschwindend geringe Akzeptanz.
Geringer Ertrag, schwierige Bedingungen
Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Viele Unternehmen erkennen schlicht keinen Bedarf bei ihren Mitarbeitern. Auch der beträchtliche administrative Aufwand, unsichere gesetzliche Rahmenbedingungen und zu hohe Kosten werden als Hürden bezeichnet. Kompliziert ist laut Deloitte und Baumgartner nicht nur die Portabilität von Wertguthaben. Den Durchbruch des Modells verhindern offenbar auch angebotene Kapitalanlagemodelle mit spärlichen Renditen. „Hätte das Zinsniveau zum Zeitpunkt des Modellstarts auf ähnlich niedrigem Niveau wie heute gelegen“, gibt Trettner zu bedenken, „wären wir wahrscheinlich nicht bereit gewesen, Zeitwertkonten einzuführen.“ Vielleicht hätte es alternative Anlageformen gegeben. „Jedoch riskante, aktienbasierende Anlagen wären niemals in Frage gekommen.“
Gesetzlich sind Arbeitgeber seit 2009 verpflichtet, den Werterhalt in der Freistellungsphase zu garantieren. „Unternehmen legen das angesparte Kapital überwiegend in Versicherungen an, die wie ein Sparbuch den Werterhalt zu vergleichbar geringen Zinsen sichern“, erläutert Katrin Kümmerle, Rechtsanwältin und Mitglied der Geschäftsleitung von Febs Consulting in Grasbrunn bei München. Legt ein Mitarbeiter monatlich 100 Euro an und kriegt nach zehn Jahren auch nicht mehr ausgezahlt, müssen Unternehmen das gut erklären können.
Laut Kümmerle sind viele Verantwortliche damit überfordert. Solche Fragestellungen gelte es im Vorfeld zu besprechen und zu regeln, „denn Zeitwertkonten sind weitaus mehr als die Anlage von Geld“. Das bestätigt HR-Expertin Trettner. „Bei einem Zeitwertkonto handelt es sich nicht um ein Sparbuch, auf das ich immer zugreifen kann“, etwa um einen finanziellen Engpass auszugleichen. Es sei stets an einen Zweck gebunden. Genau dafür leistet der Arbeitgeber einen Zuschuss.
Zuschüsse an Zwecke knüpfen
Von Arbeitgeberförderung nach dem „Gießkannenprinzip“ rät auch Kümmerle ab. Zu empfehlen sei, Arbeitgeberzuschüsse zu Zeitwertkonten nur an bestimmte Zwecke und dann auch erst in der Freistellungs- und nicht bereits in der Ansparphase zu knüpfen. „Zum Beispiel: Vorgezogener Ruhestand, ja. Weltreise, nein.“
Bei der Sparda-Bank München eG gibt man sich indessen großzügig. Laut Paul Vorsatz, Leiter Personalbetreuung, können Mitarbeiter ihr angespartes Guthaben nicht nur für den vorzeitigen Renteneintritt verwenden. Genauso wie zur Pflege von Angehörigen, der Finanzierung einer vorübergehenden Arbeitszeitreduzierung oder einer Elternzeit kann die angesparte Zeit auch zur beruflichen Qualifizierung und Persönlichkeitsentwicklung vorgesehen werden.
Mit der im Oktober 2010 per Betriebsvereinbarung geregelten „Sparda-Familienzeit“, wie die Bank ihre Zeitwertkonten bezeichnet, will sie ihre Mitarbeiter unterstützen, den Spagat zwischen den persönlichen Interessen in individuellen Lebenslagen und den beruflichen Herausforderungen zu meistern. „Das Angebot passt hervorragend zur Unternehmenskultur der Achtsamkeit, die Mitarbeitern Raum für Selbstentfaltung bietet“, so Vorsatz. Natürlich sei es auch ein interessantes Instrument zur Mitarbeiterbindung und zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität.
Was die Beschäftigten konkret favorisieren in der Freistellungsphase, zeigen erste Erfahrungswerte. Bisher wurden Freistellungen für Langzeiturlaube und Auslandsaufenthalte, für die Pflege von Angehörigen oder die Freistellung vor dem Renteneintritt realisiert. Kompliziert werde die Anwendung von Zeitwertkonten, sofern Führungskräfte Langzeiturlaub in Anspruch nähmen. „Hier gilt es, alle beteiligten Führungsebenen bis hin zum Vorstand rechtzeitig einzubinden“, betont Vorsatz. Spannender Nebeneffekt der Vertretungsregelung: Mitarbeiter der abwesenden Führungskraft könnten Verantwortung übernehmen und so die eigenen Stärken und Talente unter Beweis stellen.
Nicht alles ist übertragbar
Bei Hering Bau verweist Trettner auf tarifliche Hürden. Während einige Mitarbeiter weit mehr Bestandteile einbringen wollten als möglich, erlaube der gültige Tarifvertrag lediglich die Übertragung außertariflicher Entgeltbestandteile auf das Zeitwertkonto. Das reicht von Leistungszulagen, Prämien und Tantiemen bis zur Abgeltung von Resturlaub. Trettner: „Man sollte nicht annehmen, das Modell Zeitwertkonten sei ein Selbstläufer.“ Eine weiterer Knackpunkt von Zeitwertkonten sind sogenannte Störfälle. Trettner zufolge sind jene Mitarbeiter betroffen, die nach der Kündigung bei ihrem neuen Arbeitgeber keine Möglichkeit vorfinden, das Konto fortzuführen und den Gegenwert auch nicht in die Deutsche Rentenversicherung Bund übertragen wollen. „Dann wird das Guthaben nach gesetzlichen Vorgaben als klassischer Störfall abgerechnet.“
Febs-Beraterin Kümmerle verweist auf ein weiteres Problem, das es in sich hat. Um für Betriebsprüfungen vorzusorgen, sollten Unternehmen unbedingt ihre Vereinbarungen über Arbeitszeitmodelle in Augenschein nehmen. Oft fänden sich darin Passagen, die dem Arbeitnehmer eine Verwendung der angesparten Stunden für den vorzeitigen Ruhestand ermöglichen. „Dieser Passus sollte unbedingt geändert werden, sonst werden diese Arbeitszeitmodelle als Wertguthaben eingestuft.“ Unternehmen sind verpflichtet, den Geldwert der angesparten Stunden gegen Insolvenzsicherung zu schützen. „Das ist in aller Regel mit einem nicht gewünschten Liquiditätsabfluss verbunden“, warnt die Beraterin.
Grundsätzlich wollen weder Hering Bau noch die Sparda-Bank an ihrer Entscheidung pro Zeitwertkonto rütteln. Trettner räumt dem Instrument im Kontext aller geldwerten Nebenleistungen eine hohe Priorität ein. Mitarbeiter könnten den Erwerbsverlauf flexibel gestalten und neben dem Spareffekt auch „eine gewisse Sicherheit mit Blick auf ihre Gesundheitsvorsorge“ gewinnen. Letztlich könne man Zeitwertkonten weit mehr als die betriebliche Altersvorsorge auf betriebliche Erfordernisse ausrichten. Vorsatz von der Sparda-Bank drückt es so aus: „Es geht im Kern weniger um die Rentabilität der Anlageform.“ Wichtiger sei ein Plus an Lebensqualität und Zeitsouveränität, „wenn der Mitarbeiter sie benötigt“.
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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