Ausgabe 8 - 2011
Vom Zellenbüro zum Kreativraum
Tisch und Stühle grau in grau, vor dem Fenster dörrt eine Grünlilie ihrem nahen Ende entgegen. Büroalltag für viele Menschen im Jahr 2011. Das wird sich ändern, erwarten Forscher. Personaler können Zeichen setzen.
Zürich, Brandschenkestraße 110. Willkommen im „eParadise“. Rund 500 junge Leute aus 40 Ländern, die meisten weit unter 30, wuseln zwischen Palmen und Aquarien umher oder versuchen, einen orangefarbenen Ball per Dunking im Korb zu versenken. Hier hocken sie in Jurten, dort in isolierten Denkerzellen. Statt eines Fahrstuhls gibt es eine Stange wie bei der Feuerwehr, und über eine Röhrenrutsche gleitet der Entwickler vom Büro direkt in die Kantine. Die Google-Niederlassung in der Schweiz ist ein einziger Spielplatz. Auch der ideale Arbeitsplatz der Zukunft?
Das erklärte Ziel des US-Suchmaschinenbetreibers heißt, seinen Mitarbeitern ein „zweites Zuhause“ zu bieten. Anders ausgedrückt, fließen bei Google Arbeit und Freizeit zusammen. Kein Wunder, bei Arbeitszeiten von zwölf Stunden und mehr pro Tag, weil Softwareexperten und Marketingleute ungeachtet der Zeitverschiebung auch mit Kollegen in den Staaten und Asien kommunizieren müssen. Wer bei Google einen Job ergattert, zählt zur Elite der Wissens- und Kreativarbeiter. 325 Kilometer östlich, genauer gesagt im niederbayerischen Dingolfing, hat BMW gerade sein neues Gebäude zur Achsenfertigung in Betrieb genommen. Vom ersten bis zum letzten Handgriff ist die Montage am Band „alternsgerecht“ gestaltet. Höhenverstellbar haben die Fachkräfte Zugriff aufs Material; wer will, kann Sehhilfen zum besseren Lesen kleiner Seriennummern verwenden. Bodenbeläge sind mit dem Schuhwerk abgestimmt, Rotationsläufe belastungsoptimiert ausgelegt. Sieht so der industrielle Arbeitsplatz von morgen aus?
Raum für Entspannung schaffen
Nach Angaben von Jörg Hinsberger, verantwortlich für das Programm „Heute für morgen“ in der Personalstrategie am BMW-Hauptsitz in München, orientiert sich der gewerbliche Arbeitsplatz im Jahr 2020 am Prinzip des wertschöpfungsorientierten Produktionssystems (WPS): „Er ist ganzheitlich, nachhaltig und ergonomisch.“ Deshalb gibt es bei BMW auch Ruhe- und Aktivräume, wo Mitarbeiter Hinsberger zufolge „unter fachlicher medizinischer Anleitung Stress abbauen und über geschulte Ausgleichsübungen ihre Fitness steigern können“.
Im Unterschied zu Google oder anderen Größen der IT- oder Dienstleistungsbranche, dem Mekka junger hochqualifizierter und mit dem Internet aufgewachsener Fachkräfte, hängt industriellen Riesen der Automobilindustrie die fortschreitende Alterung ihrer Belegschaften wie ein Klotz am Bein. Weil diese Beschäftigtengruppe perspektivisch zunimmt, müssen die Firmen alles dafür tun, dass die Älteren möglichst lange fit bleiben. Auf dieses Ziel ist die Gestaltung der Arbeitsplätze ausgelegt.
Das Problem alternder und damit auch krankheitsanfälliger Beschäftigter trifft die gesamte Automobilindustrie. Die Belegschaften vieler Hersteller und Zulieferbetriebe, so eine EU-Studie, rekrutieren sich im Jahr 2020 bereits zur Hälfte aus über 50-Jährigen. „Wer nicht in moderne, ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze investiert, zahlt am Ende sogar oben drauf“, sagt Rolf Ellgast, Leiter für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).
Auch andere Produktionsbetriebe müssen Initiative ergreifen. Bei der Bosch Siemens Hausgeräte GmbH (BSH) in München beträgt das durchschnittliche Alter der Belegschaft schon heute etwa 43 Jahre. In der Produktion, wo mehr als die Hälfte tätig ist, liegt es sogar zwei Jahre höher. Projekte zur Arbeitsplatzgestaltung, so Personalreferent Klaus Peter Fröhlich, beschränkten sich nicht auf Arbeitserleichterungen für ältere Beschäftigte. Wichtiger sei, „Jung und Alt so gut wie möglich von Belastungen fernzuhalten“. HR habe die Initiative angestoßen, gemeinsam mit Experten aus der Fertigung und Arbeitssicherheit sowie dem Betriebsrat.
Alternsgerechtes Abeiten in der Produktion
So auch bei BMW, wo HR nicht allein die Älteren im Blick hat. Diversity lautet das Motto: „Wir wollen alle Belegschaftsgruppen ganzheitlich integrieren, damit wir unsere Wettbewerbsvorteile im Hinblick auf den Arbeitsplatz 2020 nicht verschenken“, erläutert Hinsberg. Während BMW erste Projekte abgeschlossen hat und die alternsgerechte Arbeitsplatzgestaltung nun in allen Fertigungsbereichen umsetzen wird, befindet sich BSH noch in der Erprobungsphase. Um zu prüfen, in welchem Maße Arbeitsplätze überhaupt umgerüstet werden sollten, kommt der „Ergo-Check“ zum Einsatz. „Wie beim TÜV stellen wir alle Arbeitsplätze in der Produktion im In- und Ausland auf den Prüfstand“, beschreibt Fröhlich die firmeninterne Zertifizierungsmethode, die Arbeitsplätze nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen beurteilt.
Nach zwei Jahren wird erneut geprüft, ob Körperhaltung und Arbeitshöhe, Bewegungsraum und Zugänglichkeit die Belastungsgrenze des jeweiligen Mitarbeiters nicht überschreiten. Bei der Produktion von Kochfeldern wurden die Bedingungen am Arbeitsplatz bereits verbessert. Dank eines optimierten Drehmomentkompensators wurde das Hand-Arm-System beim Schrauben entlastet. Zudem wurden Sitz- und Steh-Arbeitsplätze durch Ankippen der Kochfelder ergonomisch korrigiert.
Halten wir fest: Die Ausrichtung gewerblicher Arbeitsplätze auf die Zukunft dreht sich vornehmlich um die Erhaltung von Leistungsfähigkeit der Beschäftigten. Unternehmen müssen die von der Globalisierung vorgegebene Rationalisierung und Erhöhung des Produktionstempos mit demografischen Realitäten in Einklang bringen. HR ist dabei vor allem ins betriebliche Gesundheitsmanagement involviert. Anders verhält es sich in nachindustriellen Bereichen, wo Fachkräfte mit akademischer Qualifikation und ganz besonders die junge, mit dem Internet groß gewordene Generation das Bild prägen.
Trend bei Selbstständigen: Coworking
Wer Arbeitsplätze für diese Klientel plant, wird laut einer gemeinsamen Studie der DIS AG und des Zukunftsinstituts berücksichtigen müssen, dass die „Generation Y“ Freiheit, Autonomie und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten materiellen Statussymbolen wie Einzelbüros und Firmenwagen vorzieht. Ihre Vertreter denken nicht in Hierarchien, interessieren sich nicht für starre Konzernpolitik und vorgefertigte Aufstiegspläne. Wichtig ist ihnen, dass sie in interessante Netzwerke eingebunden sind und mit Kollegen Arbeitsbedingungen vorfinden, die ihrem Wunsch nach Selbstverwirklichung im Beruf entsprechen.
Hinzu kommt, dass viele der bereits heute knappen jungen Fachkräfte lieber selbstständig sein wollen als sich als Angestellte einengen zu lassen. Auch Nadine Heinrich arbeitet lieber an eigenen Projekten. Nach dem Studium hat die Architektin ein Büro für Kommunikation und urbane Kultur gegründet und pendelt zwischen Berlin und München. „Ich wohne zuhause und gehe acht Stunden zur Arbeit, dieses Modell ist von gestern“, sagt sie selbstbewusst.
Heute hat sie sich für acht Stunden einen flexiblen Arbeitsplatz im Münchener „Combinat 56“ gemietet. „Hier treffen sich Selbstständige, die nicht allein im Home Office arbeiten wollen; Startup-Unternehmer sowie Angestellte, die viel unterwegs sind und Büroarbeit verrichten wollen“, erläutert Inhaberin Dr. Sina Brübach-Schlickum. Neben freiberuflichen Grafikern, Medienleuten oder Architekten wie Heinich trifft man hier auch Softwareverkäufer, Biowarenhändler und angestellte Business Manager, die Windkraftanlagen vertreiben. „Sie alle sind ständig unterwegs und nutzen das Office ein- oder zweimal pro Woche“, so Brübach-Schlickum.
Büroraum als Marktplatz für Ideen
Coworking im Combinat: Das helle Großraumbüro ist schick gestaltet und durch Besprechungs- und Rückzugsräume aufgelockert. Von der Akustikdecke wird die Geräuschkulisse zum großen Teil verschluckt. Wenn jemand länger telefonieren will, findet er er stets einen Platz, wo sich niemand gestört fühlt. „Wer neu ist, lernt schnell Rücksicht zu nehmen“, sagt Brübach-Schlickum.
So eine Arbeitsumgebung, in der sie sich mit anderen Menschen, die ebenfalls freiberuflich tätig sind, austauschen und zugleich ihren eigenen Bereich definieren könne, sagt Architektin Heinich, „kommt meinen Bedürfnissen momentan am meisten entgegen.“ Coworking Offices werden derzeit überall eröffnet, in Berlin quasi an jeder Ecke. Die Globalisierung treibt das Konzept voran: Immer mehr Menschen arbeiten nicht mehr an einem festen Ort mit anderen zusammen, sondern vernetzt im Internet.
Für die meisten der rund 17 Millionen Deutschen, die im Standardgroßraumbüro arbeiten, wo alles grau in grau ist, bleibt das bloß Utopie. Sie können sich bereits freuen, wenn die Sonne einmal hereinscheint. Dabei weisen Wissenschaftler dem Büro längst ein neue Rolle zu: Es sollte ein „Marktplatz mit Wohlfühlqualitäten“ sein, heißt es etwa in einer Studie des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation. Für die Wirtschaft lohne es sich, über das ideale Büro nachzudenken, weil es sich auf die Arbeitszufriedenheit auswirke, so Prof. Dr. Ruth Stock-Homburg, Arbeitspsychologin und Betriebswirtin an der TU Darmstadt. „Es handelt sich um einen Business Case.“
Ganzheitliche Arbeitswelten sind noch selten
Bereits seit den Fünfziger Jahren sei bekannt, dass Ambiente sich positiv auswirkt. „Wird die Arbeitsumgebung auf ihre Bedürfnisse hin gestaltet“, sagt Stock-Homburg, „empfinden Mitarbeiter das als Anerkennung und Wertschätzung. Sie identifizieren sich deshalb mit ihren Unternehmen.“ Das werde in den Chefetagen aber nicht hinreichend berücksichtigt, kritisiert Prof. Dr. Jutta Rump, Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability an der Fachhochschule Ludwigshafen.
Rump zufolge denken Manager statt über die Bürogestaltung lieber über Technik und Arbeitsabläufe nach, was gewiss nicht unwichtig sei. „In Zukunft müssen Beschäftigte aber höhere Anforderungen erfüllen und auf den Punkt leisten. Dazu gehört auch eine Atmosphäre, in der sie sich wohlfühlen.“ Akustik, Pflanze, Tee-küche? Nein, dazu gehöre viel mehr. Nicht nur der „mobile Caddy“ für Mitarbeiter, die nur noch selten ins Büro kommen, sondern viel unterwegs sind und immer öfter zuhause arbeiten.
Einen derart ganzheitlichen Ansatz zeichnet aus, dass Raumstrukturen transparent sind und Arbeitsumgebungen zu höherer Produktivität beitragen. Großraumbüros, die es bereits seit 50 Jahren gibt und in denen die allermeisten Beschäftigten in nichtindustriellen Bereichen heute selbstverständlich tätig sind, werden durch sozialen Austausch und Wellness aufgewertet. Rump warnt vor idealisierten Lösungen: Wer mit Einzelbüros sozialisiert sei und dies als Statussymbol empfinde, laufe in die Konfrontation mit jungen Kollegen, die intensiv mit anderen kooperieren und auch Spaß haben wollten. „Aufgabe des Management ist, diese Motivationen auszubalancieren.“
Gewiss liegen die Wissenschaftler richtig mit ihren Zukunftsentwürfen. Leider ist das Bild, dass Google und Co. zeichnen, bloß eine Ausnahme. Knackpunkt ist die Planung solcher Büros. Und damit sind wir mitten im Dilemma. Bauherren machen sich vorher kaum Gedanken, wie das Büro später aussehen soll. Das sei schließlich Aufgabe des Architekten. Eine solche Vorphase ist aber gar nicht in den Honorarrichtlinien für Architekten zu finden. Würde der Bauherr dem Architekten sagen: „Nimm Dir genügend Zeit, um die Aufgabe mit all ihren Facetten zu betrachten, alle Beteiligten zu integrieren und an einen Tisch zu bringen, um dann die besten Ideen zu verwirklichen“, lautete die Antwort: „Du hast wohl einen Knall. Wer soll das denn bezahlen?“
HR als Kurator für Arbeit
Robert Mokosch, bei der Steelcase Werndl AG in Rosenheim verantwortlich für Architektur- und Design-Kommunikation, nennt das Kind beim Namen. „Ich bin überzeugt, dass die Planung und die Realisierung von Arbeitswelten in Bürogebäuden eine zu geringe Wertschätzung erfährt. Die dafür veranschlagten Kosten betragen rund ein Prozent der Gesamtkosten des Baus. Das ist im Verhältnis dazu, wie sich Mitarbeiter wohlfühlen und ihre Leistung erbringen sollen, deutlich zu wenig.“
Darum würden viel weniger zukunftsfähige Gebäude und Büros errichtet als durchaus möglich wäre. Um zu vermeiden, dass Büros entstehen, die genauso langweilig sind wie vor 20 Jahren, müsse HR laut Mokosch endlich Initiative ergreifen. Personaler sollten „Kuratoren für Arbeit“ sein. Wie der Kurator im Museum, der mit dem Künstler verhandelt, wie er seine Werke präsentieren möchte, sollten Personaler mit den Beschäftigten intensiv über ihre Bedürfnisse sprechen und es als ganz normalen Prozess erkennen, dass Arbeitsplätze laufend angepasst werden müssen. „Man muss Menschen verstehen und Prozesse hinterfragen, statt lediglich Möbel in einen Raum zu stellen.“
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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