Ausgabe 8 - 2011
Zum Wohle der Mitarbeiter
Psychische Belastungen geraten zunehmend in den Fokus der Unternehmen, da sie für einen großen Anteil des Krankenstandes verantwortlich sind. Ein wichtiges Instrument zur Gesundheitsförderung in Unternehmen ist das gesetzlich vorgeschriebene Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) –vorausgesetzt, es wird professionell betrieben.
In den vergangenen Jahren lässt sich eine Zunahme der Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen feststellen. So zeigte der Barmer Gesundheitsreport 2004 einen Anteil am Gesamtkrankenstand von 11,1 Prozent, während diese Zahl 2010 bereits 17,6 Prozent betrug. Dies ging mit einer Steigerung der AU-Tage auf durchschnittlich 40,5 Tage pro Jahr einher. Das wissenschaftliche Institut der AOK berichtete im April 2011 ebenfalls von einem rapiden Anstieg psychischer Störungen in diesem Zeitraum. Allein die Folgen des „Burnout-Syndroms“ verursachten nach Schätzungen 1,8 Millionen Fehltage von 100.000 Menschen. Hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit sind psychische Störungen und Verhaltensstörungen über alle Krankenkassen hinweg betrachtet derzeit die zweithäufigste Erkrankungsart.
Aktuelle Studien zeigen dagegen auf, dass sich eine generelle Zunahme der psychischen Erkrankungen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts aus wissenschaftlicher Sicht nicht bestätigen lässt. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass sich vorrangig die Wahrnehmung psychischer Störungen durch die Gesellschaft gewandelt hat. Dies schlägt sich einerseits auf das Diagnoseverhalten der Ärzte nieder, findet andererseits aber auch in einer wachsenden Offenheit der Menschen gegenüber psychischen Belastungen seinen Ausdruck.
Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle für das Entstehen psychischer Belastungen im Berufsleben (s. Abb.). Hinzu kommt eine wachsende Sensibilität der (Haus-)Ärzte, psychische Symptome anzusprechen und zu diagnostizieren. Es scheint, als ob sich die Gesellschaft in einem Prozess der Entstigmatisierung psychisch Beeinträchtigter befindet.
Ursachen für psychische Belastungen von Mitarbeitern
Aufgabenbezogene Ursachen
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Intensivierung und Verdichtung der Arbeitsaufgaben
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Erhöhte Komplexität durch technischen Fortschritt
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Interaktive Anforderungen, z.B. im Dienstleistungssektor
Faktoren zur Gefährdung der sozialen Einbettung
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Verschwimmen der Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem
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Wechselnde Arbeitgeber
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Zeitlich befristete Verträge
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Unregelmäßige Arbeitszeiten
Arbeitsplatzbezogene Ursachen
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Gratifikationskrisen
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Psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz
Betriebliche Wiedereingliederung (BEM)
Voraussetzungen
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Es besteht noch der Krankengeldanspruch (Blockfrist)
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Der Versicherte ist mit der Maßnahme einverstanden
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Der Arzt stellt einen Wiedereingliederungsplan auf
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Der Arbeitgeber erklärt sich mit der Maßnahme einverstanden
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Der Versicherte wird am bisherigen Arbeitsplatz eingesetzt
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Der Arbeitnehmer ist während der Maßnahme weiterhin arbeitsunfähig
Dauer
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Abhängig von den individuellen gesundheitlichen Belastungen des Arbeitnehmers.
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Zwischen 6 Wochen und 6 Monaten möglich
Rahmenbedingungen
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Jeder Beteiligte kann die Stufenweise Wiedereingliederung anregen
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Nach dem Auslaufen der Entgeltfortzahlung besteht Anspruch auf Krankengeld
Dennoch ist es für viele Führungskräfte ein schwieriges Unterfangen, Personalgespräche mit dem Fokus auf psychischen Auffälligkeiten zu führen. Hier zeigen sich die Scham, Unsicherheit und teilweise auch das mangelnde Wissen über Handlungsmöglichkeiten. Die Vermeidung derartiger Gespräche fördert aber nicht nur die Tabuisierung im Umfeld des Betroffenen, sondern verursacht auch massive betriebswirtschaftliche Konsequenzen. Neben den Kosten für den krankheitsbedingten Ausfall des Mitarbeiters entstehen zudem indirekte Kosten durch Präsentismus, also die uneffektive Anwesenheit von Mitarbeitern trotz ihrer psychischen Beeinträchtigung aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder innerbetrieblicher Degradierung. Hinzu kommen gegebenenfalls Kundenbeschwerden oder -verluste. Betrachtet man beispielsweise einige Kernsymptome der Depression (Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen, Erschöpfungszustände, leichte Reizbarkeit, Grübeln), dann wird die verminderte Leistungsfähigkeit des Betroffenen rasch klar.
Für die Führungskraft lohnt es sich also in mehrerlei Hinsicht zu intervenieren. Damit verbunden ist jedoch häufig die bange Frage: „Wie spreche ich es an?“ Und wenn sich der Mitarbeiter dann auf ein Gespräch einlässt: „Was kann ich tun?“ Außerdem berichten Führungskräfte immer wieder von der Befürchtung, der Kollege könne emotional reagieren (zum Beispiel weinen) oder seine privaten Probleme im Gespräch ausbreiten. Im Folgenden sollen daher Anregungen vermittelt werden, wie diese Personalgespräche durchgeführt werden können, ehe mögliche Lösungsstrategien aufgezeigt werden.
Gespräche mit Betroffenen
Es gibt mehrere mögliche Anlässe für ein Gespräch zwischen der Führungskraft und einem Mitarbeiter: Üblich sind zunehmende Krankheitszeiten oder die Rückkehr aus einer längeren Arbeitsunfähigkeit. Hierbei ist zu beachten, dass sich das gängige Krankenrückkehrgespräch, das einen disziplinarischen Charakter aufweisen kann, von dem hier vorgestellten Ansatz unterscheidet. Basis für eine effektive Prävention und Intervention sind nicht die häufig zu beobachtenden Pflichtgespräche nach langer Krankheit, sondern eine Gesprächsführung, in der das Interesse an der Situation des Betroffenen sowie die Suche nach ehrlichen Hilfsangeboten im Mittelpunkt stehen. Verfolgt die Führungskraft diesen präventiven Ansatz der Personalführung, kann ihr Gesprächsangebot sowohl eine Reaktion auf Hinweise der Kollegen als auch auf eigene Beobachtungen sein, dass mit dem Betroffenen „etwas nicht stimmt“. Machen Sie sich daher im Vorfeld klar, welche Auffälligkeiten zu beobachten sind und wie diese wertfrei und ohne Schuldzuweisungen kommuniziert werden können. Die Grundlage eines gelungenen Gesprächs besteht darin, Verständnis für den Betroffenen zu entwickeln.
Verständnis lässt sich jedoch nicht durch ein einfaches „Ich verstehe Sie“ vermitteln, sondern beispielsweise durch interessiertes Nachfragen. Da die Thematisierung psychischer Belastungen zumeist immer noch die Beschäftigung mit einem Tabu darstellt, benötigt der Mitarbeiter besondere Hilfe, um sich öffnen zu können. Dazu trägt auch die Gestaltung der Gesprächssituation wesentlich bei. Sie sollten eine angenehme, störungsfreie Atmosphäre schaffen und sich ausreichend Zeit nehmen. Bereiten Sie sich selbst auf das Gespräch vor, um einen roten Faden zu behalten:
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Welche (realistischen) Ziele kann und will ich mit diesem Gespräch erreichen?
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Welche Fakten und konkrete Abweichungen im Arbeitsverhalten kann ich ansprechen?
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Welche Hilfsangebote kann ich anbieten? Auf welche Netzwerkpartner kann ich verweisen?
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Welche Konsequenzen und Auflagen sind erforderlich? Welche Rahmenbedingungen muss ich dafür im Vorfeld klären?
Es ist somit hilfreich, sich im Vorfeld einen Überblick über das vorhandene Netzwerk zu verschaffen. Dies können betriebsinterne (Sozialdienst, Betriebsmedizinischer Dienst, Betriebsrat, Gesundheitsmanagement) sowie externe Angebote (Beratungsangebote von Personaldienstleistern, Beratungsstellen, Kliniken, Selbsthilfegruppen) sein. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist eines der Instrumente, das sowohl präventiv als auch im Anschluss an eine lange Erkrankungszeit genutzt werden kann.
Es empfiehlt sich, die Gesprächseröffnung im Vorfeld bereits zu planen. Signalisieren Sie Ihrem Gegenüber, dass Sie sich Sorgen machen und an einer konstruktiven Lösung arbeiten wollen. Führen Sie dafür konkrete Belege an, die Sie auf mögliche psychische Belastungen des Mitarbeiters aufmerksam gemacht haben. Geben Sie danach die Möglichkeit, Stellung zu nehmen oder fordern sie dies ein, wenn der Mitarbeiter still bleibt. Gerade depressive Menschen tendieren eher zu einem Rückzug, wenn sie mit ihren Sorgen und Nöten konfrontiert werden.
Im Gespräch können Sie eine unwissende Haltung einnehmen, um dem Impuls nach vorschnellen Schlussfolgerungen zu begegnen. Fragen Sie besser den Betroffenen nach seinen Vermutungen über Zusammenhänge. Dabei gerät man schnell in den Sog des Defizitären. Es hat sich jedoch zumeist als hilfreich erwiesen, den Blick auf die Verbesserungsmöglichkeiten zu richten:
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Was kann der Vorgesetzte verändern?
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Was kann der Betroffene verändern?
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Wo tauchen die Probleme auf und welche Ausnahmen gibt es?
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Was müsste geschehen, damit sich das Problem nicht verschlimmert?
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Woran würde man merken, dass es wieder besser wird?
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Wer oder was könnte unterstützend wirken?
Zum Abschluss des Gesprächs stellt sich dann die Frage nach der Umsetzung. Konkrete Zielvereinbarungen schaffen eine höher Zielbindung und Handlungsmotivation: Wer macht was bis wann mit wem?
Daran anschließend ist eine Überprüfung der Fortschritte nötig. Dies kann durch einen Folgetermin geschehen.
Option Eingliederungsmanagement
Ein wichtiges Instrument zur Gesundheitsförderung ist das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Grundlage hierfür ist der § 84 Abs. 2 SGB IX, der darauf abzielt durch geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis dauerhaft zu sichern. Der Arbeitgeber ist hierin verpflichtet, BEM nach einer sechswöchigen krankheitsbedingten Fehlzeit anzubieten. In den letzten Jahren hat eine große Zahl der Unternehmen den BEM-Prozess professionalisiert und die internen BEM-Berater qualifiziert. Zudem besteht die Möglichkeit, bei einem ausgewiesenen Dienstleistungs- oder Beratungsunternehmen ein externes Fallmanagement in Auftrag zu geben. Aus der Praxis der Fortbildungsakademie der Wirtschaft (FAW) gGmbH soll daher ein Fallbeispiel dargestellt werden, um den Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitern zu illustrieren. BEM kann im Rahmen des Personalgesprächs eine der Netzwerkoptionen sein, die von der Führungskraft mit einbezogen wird.
Burnout einer Angestellten
Der Chef Herr M. verantwortet einen Produktionsbereich mit 47 Mitarbeitern. Frau K., eine 44-jährige gelernte Industriekauffrau, ist seine „rechte Hand“. Laut Arbeitsvertrag beträgt die wöchentliche Arbeitszeit von Frau K. 39 Stunden. Dies kann sie seit einem Jahr auf Grund des anfallenden Arbeitspensums kaum mehr einhalten. Daraus resultiert häufig eine 50-Stunden-Woche. Zudem kontaktiert Herr M. sie auch zunehmend am Wochenende, um die kommende Woche zu besprechen. Frau K. ist eine engagierte Mitarbeiterin. Sie hat einen hohen Anspruch an sich selbst und möchte alle Aufgaben immer pünktlich erledigen. Sie fühlt sich für viele Dinge über ihren Verantwortungsbereich hinaus verantwortlich. Zunehmend fällt es Frau K. schwer, sich über längere Zeit auf die Arbeitsinhalte zu konzentrieren. Sie leidet unter Schlafstörungen und kann in ihrer Freizeit kaum noch abschalten. Die Firma ist ihr ständiger Begleiter. Ende des Jahres erleidet Frau K. im Büro einen Zusammenbruch und wird in eine Klinik eingeliefert. Dort kann keine körperliche Erkrankung als Ursache festgestellt werden, aber die Ärzte diagnostizieren ein Burnout-Syndrom. Frau K. kann stabilisiert werden und wird im Anschluss in eine medizinische Reha entlassen. Dort finden auch Therapiesitzungen statt, in denen die Ursachen des Burnouts erkundet werden.
Verlauf der Wiedereingliederung
Nach sechsmonatiger Krankheit möchte Frau K. wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Mit dem behandelnden Arzt wurde eine stufenweise Wiedereingliederung besprochen und sie nimmt Kontakt zu ihrem Vorgesetzten auf, um die weitere Planung zu besprechen. In diesem Gespräch offenbart sie ihm erstmals ihre psychischen Beschwerden. Er empfiehlt ihr, den Prozess durch einen BEM-Berater begleiten zu lassen.
In einem ersten Gespräch schildert Frau K. der BEM-Beraterin ihre Situation. Sie kann sich kaum vorstellen den Arbeitsalltag zu meistern, wolle aber auch nicht mehr zu Hause sitzen. Die stufenweise Wiedereingliederung soll durch die BEM-Beraterin engmaschig begleitet werden. Auf Grund der Schwere der Erkrankung erscheint es sinnvoll, dass Frau K. zunächst mit nur zwei Stunden täglicher Arbeitszeit startet. Die Stundenzahl soll über acht Wochen kontinuierlich erhöht werden.
Die Wiedereingliederung wird folgt begleitet:
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Reflexion der aktuellen Belastung mit der BEM-Beraterin
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Umgang mit den Mitarbeitern thematisieren. Hier besteht der Konflikt, zeitweise Schonung zu benötigen, aber auch nicht als Sonderfall behandelt werden zu wollen.
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Frau K. möchte ihren Kollegen vom Anlass der Fehlzeit erzählen, um sich deren Unterstützung zu sichern.
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Schwerpunkt der BEM-Gespräche ist das Ausbalancieren zwischen Abgrenzung und Arbeitsengagement.
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In Absprache finden auch Gespräche mit dem Vorgesetzten statt, um deutlich zu machen, was zu der Erkrankung geführt hat und welche präventiven Maßnahmen einen Rückfall verhindern helfen.
Die stufenweise Wiedereingliederung verläuft für alle Beteiligten zur Zufriedenheit. Frau K. fühlt sich nach den vereinbarten acht Wochen stabil genug, um ihre Vollzeittätigkeit wieder aufzunehmen. Die BEM-Beraterin empfiehlt ein weiterhin begleitendes Coaching über einen Zeitraum von einem halben Jahr, um den Rückfall in alte Muster zu verhindern, indem mögliche Probleme in einem geschützten Rahmen bearbeitet werden können.
Das Fallbeispiel zeigt auf, dass die Führungskraft in der Erhaltung und Wiederherstellung der Arbeitskraft seiner Mitarbeiter eine wichtige Funktion innehat. Dies betrifft sowohl die Initiierung als auch die Unterstützung von Hilfsprozessen.
Gleichzeitig stellt dies eine große Herausforderung für die fachlich kompetenten, aber hinsichtlich psychologischer Fragestellungen meist wenig geschulten Führungskräfte, dar. Es lohnt sich aber, sich dieser Herausforderung zu stellen und die Professionalisierung auch auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen im Unternehmen weiter voranzutreiben.
Autoren
Björn Riegel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft,
bjoern.riegel@uni-hamburg.de
Kirsten Schlichtmann, Projektleiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement, Fortbildungsakademie der Wirtschaft gGmbH,
kirsten.schlichtmann@faw.de
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