Ausgabe 8 - 2011
Wo man heute schon wie morgen arbeitet
Arbeit emanzipiert sich zunehmend von Ort und Zeit, Präsenzkulturen und Kontrollregime werden von individuellen Formen der Arbeitsorganisation abgelöst. Der Weltkonzern Siemens hat diese Entwicklung erkannt und auf sie mit seinem Arbeitskonzept „Siemens Office – New way of working“ reagiert.
Wie kann eine Bürolandschaft so gestaltet werden, dass sie flexibles, kreatives und kooperatives Arbeiten fördert? Wie kann gleichzeitig Arbeit so organisiert werden, dass Bedürfnisse unterschiedlicher Mitarbeitergenerationen berücksichtigt und die Arbeitgeberattraktivität gestärkt wird? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Auftrags, den der Siemens-Vorstand im Jahr 2008 erteilte: Die Entwicklung eines neuen Arbeitskonzepts, das später den Namen „Siemens Office“ bekommen sollte. Auslöser war ein Vorstands-Meeting am Standort Anderlecht, an dem bereits seit einigen Jahren konsequent entlang der Prinzipien Flexibilität und Mobilität gearbeitet wird. Die Arbeitskultur in der belgischen Filiale beeindruckte dieKonzernleitung derart, dass Sie sich dieses Konzept in einer weiterentwickelten Variante für den gesamten Konzern wünschte.
Um die Vorgaben in einem ganzheitlichen Konzept zusammenzuführen, arbeiteten die Konzernbereiche Human Resources, IT und Siemens Real Estate daraufhin gemeinsam am Arbeitsplatz der Zukunft. Auch wenn am Ende ein auf Siemens abgestimmtes Ergebnis stand, holten sich die Projektverantwortlichen in der Konzeptionsphase Anregungen von außerhalb.
„Wir haben uns im Sinne eines Benchmarkings Konzepte anderer Arbeitgeber angeschaut und uns mit wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Fraunhofer Institut ausgetauscht“, erläutert Maximilian d'Huc, der als Vice President Strategy innerhalb von Corporate HR unter anderem das Thema „Neue Arbeitswelten“ verantwortet.
Ein Arbeitskonzept, kein Arbeitsplatzkonzept
Bereits ein Jahr später lag ein detailliertes Konzept für das zukünftige „Siemens Office“ vor, das zunächst in nationalen und internationalen Pilotprojekten getestet wurde – unter anderem an Standorten in Kanada und Russland. In Deutschland gilt bislang die Anfang 2011 eingeweihte Niederlassung am Düsseldorfer Flughafen als Vorzeigeprojekt. Die Prinzipien des „Siemens Office“ fließen aber auch in den bald anlaufenden Neubau der Münchner Konzernzentrale ein. Nicht nur in Deutschland, auch global soll das Projekt in den kommenden sieben bis acht Jahren weiter ausgerollt werden; geplant ist, dass einmal rund 140 000 der weltweit 336 000 Siemens-Mitarbeiter in einem „Siemens-Office“ tätig sind. Zur Zielgruppe gehören zwar vor allem die Büromitarbeiter, allerdings, betont d'Huc, könnten Aspekte des „Siemens Office“ wie Führungskultur und Work-Life-Integration auch an reinen Produktionsstandorten umgesetzt werden.
Wobei bereits ein entscheidender Punkt des „Siemens Office“ angesprochen ist: Die Projektverantwortlichen heben hervor, dass es kein „Arbeitsplatzkonzept“, sondern ein „Arbeitskonzept“ ist. Es fließen nicht nur technologische und architektonische Fragestellungen ein, sondern auch solche der Führungskultur und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Konzeptionell steht das „Siemens Office“ auf fünf Säulen: Die erste ist die Vorstellung von einer Arbeitswelt, die auf dem Prinzip des „Mobile Working“ fußt. „Arbeit wird in Zukunft heterogener, unabhängiger von Ort und Zeit. Diesen allgemeinen Trend wollten wir aufgreifen“, beschreibt d'Huc eine zentrale arbeitskulturelle Entwicklung, auf die ein Unternehmen Antworten finden müsse. Deshalb beinhaltet das „Siemens Office“ für Mitarbeiter die Möglichkeit, an jedem Ort im Bürogebäude, dem Siemens-Campus, auf Geschäftsreisen oder eben auch von zu Hause aus zu arbeiten.
Laptop und Handy für bis zu 140 000 Mitarbeiter
Zweitens zielt Siemens auf eine „Work Life Integration“ ab. „Hier geht es darum, den Mitarbeitern am Standort Services zur Verfügung zu stellen, die eine Koordinierung von Arbeits- und Privatleben gewährleisten“, beschreibt Maximilian d'Huc das Ziel. Zu dessen Verwirklichung gehören bei Siemens unter anderem Tagesstätten und Ferienbetreuung für Kinder ebenso wie das Home Office, flexible Arbeitszeiten und Gesundheitsmanagement am Arbeitsplatz. Auch die Verfügbarkeit von Sportangeboten, Einkaufsmöglichkeiten oder Bankautomaten wird in die Standortwahl einbezogen. Drittens hat sich Siemens zum Ziel gesetzt, seinen Beschäftigten eine permanente Verfügbarkeit von IT-Ausstattung und Internet-Zugang zu gewährleisten: „Jeder der rund 140 000 Mitarbeiter aus der genannten Zielgruppe wird in der Regel von Siemens mit einem Laptop und einem Handy ausgestattet“, ergänzt der Vice President Strategy d'Huc. Mit diesen mobilen Endgeräten können sie dann innerhalb des Bürogebäudes von überall arbeiten. W-Lan soll flächendeckend verfügbar sein.
Auch sollen die Fußwege im „Siemens Office“ möglichst kurz sein: Ist ein Mitarbeiter mit seinem Laptop an einem anderen Ende das Bürogebäudes und will schnell eine Präsentation ausdrucken, ist er dank „Follow-me Printing“ nicht auf einen vorinstallierten Standard-Drucker beschränkt. Er identifiziert sich mit einer ID-Karte am nächstgelegenen Gerät und kann sofort vor Ort drucken (siehe Abbildung 1).

Doch nicht nur der Drucker folgt dem Siemens-Mitarbeiter, sondern auch seine Telefon-Nummer: Kommuniziert wird via Headset über eine Software, die auf dem Laptop installiert ist. Sobald das Headset angeschlossen wird, ist der Mitarbeiter automatisch – ob im Büro oder dem Home Office –über seine offizielle Nummer erreichbar; eine sonst übliche Rufumleitung, wird obsolet.
Für jede Aufgabe ein Arbeitsplatz
Ein weiterer zentraler Bestandteil des Arbeitskonzepts ist die Einrichtung einer „offenen Bürolandschaft“, in der Transparenz, Blick- und Bewegungsfreiheit eine große Rolle spielen. Als Raumteiler werden Pflanzen und Bambusstäbe genutzt, klassische Wände vielfach durch Glasscheiben ersetzt. Schließlich und endlich soll die Bürolandschaft auch das „Mobile Working“ unterstützen. „Bereits bei der Raumaufteilung steht der Gedanke im Vordergrund, dass die Mitarbeiter jederzeit den für die jeweils anstehende Tätigkeit geeigneten Arbeitsplatz aufsuchen können“, erläutert d'Huc den Grundgedanken. Für kreative oder vertiefte Arbeit in kleineren und größeren Gruppen stehen „Think Tank-Räume“ zur Verfügung, die mit Flat-Screens und Videokonferenz-Systemen ausgestattet sind (siehe Abbildung 2). Zu längeren Telefonaten laden Sessel ein, die seitlich mit Plexiglas-Muscheln verkleidet sind und somit eine gewisse Ungestörtheit garantieren. Und wollen Mitarbeiter sich untereinander informell austauschen, können sie dafür Sitzecken, die über das Bürogebäude verstreut stehen oder aber die Kaffeebar nutzen. Seiner normalen Tätigkeit schließlich geht der Siemens-Mitarbeiter weiterhin an klassischen Schreibtischen nach, die allerdings individuell ergonomisch einstellbar sind.

Das müssen sie auch sein, denn anders als in der Vergangenheit sind im „Siemens Office“ Arbeitsplätze nicht mehr fest zugeteilt: Die Mitarbeiter suchen sich ihren Arbeitsplatz je nach Projekt oder anstehender Aufgabe jeden Tag neu aus. Dass eines Tages ein Team ungewollt über das gesamte Gebäude verstreut sitzt, ist unwahrscheinlich. „Es werden für jede Abteilung Kernzonen eingerichtet, in denen sich ihre Mitarbeiter bewegen können.“, erläutert Maximilian d'Huc. Um abteilungsübergreifendes Zusammenarbeiten zu erleichtern, wurden diese Kernzonen so im Gebäude verteilt, dass Einheiten, die eng zusammenarbeiten, auch räumlich nebeneinander liegen. Ein Vorteil dieses „Arbeitsplatz-Sharings“ für Siemens ist die effizientere Nutzung verfügbarer Büroflächen, eine Folge für die Mitarbeiter eine strikte „Clean-Desktop-Policy“: „Der Schreibtisch muss am Ende des Arbeitstages so hinterlassen werden, wie man ihn vorgefunden hat: Leer.“, erläutert d'Huc. „Weg vom Papier, hin zur elektronischen Speicherung von Daten“ lautet auch deshalb die Devise im „Siemens Office“. Für weiterhin unverzichtbare Ordner, Arbeitsmaterialien sowie das technische Equipment steht jedem Mitarbeiter ein Spind zur Verfügung.
Neuer Raum, neue Kultur
Neben den vielen Erleichterungen bringt dies kurzfristig eine Menge Umstellungen für die Siemens-Mitarbeiter mit sich. Nicht jedem fällt es anfangs leicht, sich beispielsweise von seinem Schreibtisch oder von jahrelang gelebten Arbeitsgewohnheiten zu verabschieden. „Wichtig war uns von Anfang an, dass sich die Mitarbeiter mit dem Siemens Office identifizieren“, erklärt der Personaler d'Huc. Die Einführung des Konzepts begleitet deshalb an jedem Standort ein Change Manager, dem es obliegt, Kollegen bei der Konzeptionierung mit einzubeziehen, Befürchtungen in der Belegschaft aufzugreifen und sinnvolle Modifikationen am Gesamtkonzept anzuregen. „Zudem standen wir permanent im engen Austausch mit dem Betriebsrat, der in eine eigene Gesamtbetriebsvereinbarung mündete.“
Mit dem Konzept einhergehen nicht nur praktische Veränderungen für die Belegschaft, sondern auch ganz neue Anforderungen an die Führungskultur im Unternehmen. „Wir bewegen uns weg von einer Präsenzkultur hin zu einer Kultur des Führens per Zielvereinbarung, in der Führungskräfte unter anderem in der Lage sein müssen, Mitarbeitern einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.“, erläutert d'Huc. Diese Fähigkeit lernen sie in spezifischen Trainings, in denen auch weitere mit dem Umzug ins „Siemens Office“ einhergehende Herausforderungen aufgegriffen werden. „Dazu gehören für uns das Bewusstsein für Erwartungen verschiedener Mitarbeitergruppen, die Fähigkeit, Ziele formulieren zu können, aber auch die Frage: Wie gehe ich mit Mitarbeitern um, die sich mit dem neuen Arbeitskonzept noch schwer tun?“, listet d'Huc einige von ihnen auf. Denn erst wenn Führungskräfte und Mitarbeiter sich gleichermaßen im neuen „Siemens Office“ wohl fühlen, ist für ihn der „Umzug“ wirklich beendet.
Autor
Alexander Kolberg
- Schöne neue Welt
- Hier geht's rund
- Zeit und Raum im Wandel
- Wo man heute schon wie morgen arbeitet
- Vom Zellenbüro zum Kreativraum
- Neue Tools und Plattformen
- „Innovationskultur selbst leben“
- Überholen ohne einzuholen
- Bedingt berichtsfähig
- Licht und Schatten
- Sinnstiftung kommt an
- Zum Wohle der Mitarbeiter
- Weiterbildung als Innovationstreiber
- Welche Rolle spielt der Betriebsrat im Recruiting-Prozess?