Ausgabe 8 - 2014
Schüler früher abholen
Wie Unternehmen, Handwerk und Hochschulen im Kampf um den Nachwuchs ihre Kräfte bündeln können, diskutierten Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Bildung am 24. Juni in der Humboldt-Box in Berlin. Anlass für die Veranstaltung war die Vorstellung der neuen Online-Plattform „Blicksta“ der Medienfabrik Gütersloh, die Schülern Orientierung bei der Berufswahl geben soll.
Soll ich nach dem Abitur studieren oder eine Berufsausbildung machen? Will ich etwas mit Menschen machen oder einen technischen Beruf ergreifen? Schulabgänger in Deutschland haben häufig keine Ahnung, was sie nach ihrem Schulabschluss machen wollen. Mehr als 1,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren schließen überhaupt keine Berufsausbildung ab – ein ungenutztes Arbeitskräftepotenzial, das Deutschland in Anbetracht des künftigen Fachkräftemangels vor große Herausforderungen stellt. Um Jugendliche bei der Berufsorientierung ganzheitlich zu unterstützen, hat die Medienfabrik Gütersloh GmbH, eine Tochterfirma der zum Bertelsmann-Konzern gehörenden arvato AG, ein neues Online-Angebot entwickelt. „Blicksta ist eine mobile und zeitraumbezogene Online-Plattform, die Jugendlichen ganzheitlich hilft, die vielfältigen beruflichen Möglichkeiten zu überblicken, und ihnen einen einfachen Einstieg in die Gestaltung ihrer beruflichen Zukunft ermöglicht“, sagte Gero Hesse, Initiator der Plattform und Mitglied der Geschäftsleitung der Medienfabrik Gütersloh. Ein wesentlicher Bestandteil der Online-Plattform sind wissenschaftlich erarbeitete Tests: Mittels des „Leistungschecks“ und des „Persönlichkeitschecks“ kann der Schüler zum Beispiel seine Kompetenzen, Stärken und Interessen auf verschiedenen Ebenen prüfen. Informationen über passende Ausbildungs- und Studienplätze, Berufsporträts, Erfahrungsberichte und Stellenangebote öffnen die Tür zu potenziellen Arbeitgebern und Hochschulen. Das Angebot ist gut strukturiert und spricht die Sprache der Schüler.
Berufsorientierung im Lehrplan verankern
Die Berufsorientierung in Deutschland steht in der Kritik: „Viele Schulen organisieren einmal im Jahr für ihre Zehntklässler eine Busreise zum Berufsinformationszentrum. Dort füllen sie dann ein paar Fragebögen aus, woraufhin ihnen erklärt wird, dass sie zum Beispiel Förster werden sollten“, erläuterte Gero Hesse, wie es dazu kommt, dass sich viele Schulabgänger orientierungslos fühlen. Zum Auftakt der Podiumsdiskussion stellte der Plattform-Initiator die Frage, was innovative Lösungen für eine bessere Berufsorientierung wären. Thomas Sattelberger, Vorstandsvorsitzender der HR Alliance und ehemaliger Personalvorstand der Deutschen Telekom, sprach sich dafür aus, die Berufsorientierung als Schulfach für Schüler im Alter von 14 bis 15 Jahren im Lehrplan zu verankern: „Wir müssen die Berufsausbildung dringend reformieren. Die Duale Schule, vergleichbar mit der Dualen Ausbildung, könnte hierfür ein Erfolgsmodell sein.“ Martin Rabanus, Mitglied im Ausschuss für Bildung und Forschung (SPD-Fraktion), forderte Unternehmen auf, stärker über Ausbildungsgänge zu informieren und realistische Erwartungen zu fördern: „Wir wollen junge Menschen gut vorbereitet in die Ausbildung und an die Hochschulen schicken, damit die Passgenauigkeit und Zufriedenheit steigt.“
Wie wichtig es ist, dass Schüler schon früh ein Gespür für ihre Berufswahl entwickeln, unterstrich Tanja Hofer, die das Talent Management bei Coca-Cola leitet: „Wir wollen schon frühzeitig Beziehungen mit Talenten aufbauen und ihnen in ihrer Entscheidungsphase authentische Einblicke gewähren.“ Coca-Cola ist wie die Deutsche Telekom, Bertelsmann, Deutsche Bank und der Zentralverband des Deutschen Handwerks Partner der Initiative. Die Unterstützer versprechen sich, mittels der Online-Plattform auf sich als potenziellen Arbeitgeber aufmerksam zu machen und frühzeitig Kontakte zu jungen Menschen zu knüpfen, die zu ihrem Unternehmen passen.
Meister und Bachelorabsolventen sind gleichwertig
Der Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke, forderte, dass die Wertigkeit einer Berufsausbildung höher verankert werden muss: „Wir müssen die Gleichstellung des Meisters mit dem akademischen Bachelor sichern und den jungen Leuten vermitteln, dass beides gleichermaßen zu Karrieren führt.“ Berufsqualifizierte und Akademiker machen gleichermaßen die Stärke des Wirtschaftsstandorts Deutschland aus – darüber waren sich die Podiumsteilnehmer einig. Professor Dr. Hans-Ulrich Heiß, Vizepräsident für Lehre und Studium der Technischen Universität Berlin, propagierte ein einjähriges Orientierungsstudium: „Ein solches Studium gibt talentierten Schulabgängern im Dschungel der vielen Studienangebote Orientierung und trägt dazu bei, die Abbruchquoten an den Hochschulen nachhaltig zu senken.“ Wer nach dem Orientierungsjahr feststellt, dass er gar nicht studieren möchte, dem will die TU Berlin ein Ausbildungsangebot unterbreiten. Möglich sei dies durch die Kooperation mit der Handwerkskammer Berlin.
Solche Kooperationen müssten – auch darüber herrschte Einigkeit – in Zukunft weiter gestärkt werden. Alle Beteiligten versprachen sich von dem Online-Angebot „Blicksta“, dass es dazu beiträgt, die Lust und die Verantwortung der Jugend für die eigene Zukunft zu fördern und die junge Zielgruppe in ihrer Lebenswelt abzuholen. Ab September soll das Angebot, das heute bereits von rund 4000 Mitgliedern genutzt wird, auch als App verfügbar sein. Annette Neumann, freie Journalistin, Berlin
INTERVIEW
Thomas Sattelberger
„Innovative Lösungen sind überfällig“
Thomas Sattelberger, Vorstandsvorsitzender der HR Alliance, fordert mehr Engagement für die Berufsorientierung junger Menschen und eine Reform des Ausbildungssystems. Die Personalwirtschaft traf ihn anlässlich der Vorstellung der neuen Informationsplattform „Blicksta“ in Berlin.
Personalwirtschaft: Deutschland geht der Nachwuchs, insbesondere im Handwerk, aus. Woran krankt das System?
Sattelberger: Durch die Kombination von fehlender beziehungsweise mangelhafter Berufsberatung mit unzureichender Individualisierung von Lernprozessen verschleudern wir Unmengen an Talent und Motivation junger Menschen. Vor allem die Berufsausbildung müsste dringend reformiert werden. Sie kommt mir vor wie ein deutsches Auto, das über 20 Jahre kein Facelifting bekommen hat.
Welche Reformen schlagen Sie vor?
Wir bekommen mehr junge Leute in die Ausbildung, wenn wir sie attraktiver gestalten. Dafür müssen wir für bildungsärmere Schichten die Berufsausbildung portionieren, das heißt, erfolgreich erworbene Teilqualifizierungen auf eine Berufsausbildung anrechnen oder – nach gleicher Logik- die von leistungsstarken Auszubildenden in Spezialmodulen erworbenen Kompetenzen auf ein späteres Bachelorstudium oder eine Meisterausbildung anrechnen.
Trotzdem wollen immer mehr junge Leute studieren. Wie überzeugen wir Abiturienten, dass sich eine Berufsausbildung auszahlt?
Wir klagen über die Akademikerschwemme, aber bis heute ist die Gleichwertigkeit von Akademikern und Berufsqualifizierten nicht gegeben. Weder bei Karriereperspektiven noch bei der Vergütung. Daher müssen wir – wie früher bei Stammhausausbildungen großer Konzerne – Karrierewege entakademisieren. Es gibt keinen Grund, so viele Positionen und Berufstätigkeiten zu verwissenschaftlichen.
Warum fällt vielen jungen Leuten die Berufsorientierung so schwer?
Wir produzieren jedes Jahr eine halbe Million Menschen in Jugendarbeitslosigkeit und Warteschleifen. Viele Schulabgänger sind auch deshalb orientierungslos, weil es viel zu viele hochspezialisierte Berufsbilder gibt. Im Vergleich zu Dänemark und Österreich, die deutlich weniger Berufsbilder besitzen, ist dies eine Ursache für stärkere Jugendarbeitslosigkeit. Notwendig wäre, die Zahl der Berufsbilder deutlich zu reduzieren und die Berufsfeldorientierung am Beginn breit zu gestalten.
Wann denken die Schulabgänger über ihre Berufswahl nach?
Häufig zu spät. Berufsorientierung muss im Alter von 14 bis 15 Jahren beginnen, und es ist vor allem die Aufgabe der Schule, ihre Schüler zu begleiten. Das Thema sollte bereits zwei Jahre vor einem Abschluss fächerübergreifend in den Lehrplan der allgemeinbildenden Schulen verankert werden. Das Modell einer ‚Dualen Schule‘ vergleichbar mit dem ‚Dualen Studium‘ könnte hierfür ein Erfolgsmodell sein.
Berufsausbildung würde dann – so wie früher- mit 14 oder 15 Jahren beginnen und frühzeitig gegen Schulmüdigkeit oder gar Schulabbruch ein Zeichen setzen.
Das Interview führte Annette Neumann.
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