Ausgabe 8 - 2016
Agiler durch Transformation

Agilen Unternehmen gelingt es, Dynamik und Stabilität in ihrer Organisation zu vereinen. Das erfordert nicht zuletzt ein verändertes Führungsverständnis. Ein Praxisbeispiel aus dem Finanzwesen.
Globalisierung, Digitalisierung, geopolitische Risiken – unsere Welt scheint immer schwerer zu fassen. Neue Märkte werden dynamischer und schneller erschlossen, Unternehmen entstehen und scheitern mit ungeahnter Geschwindigkeit. Während sich die Lebensdauer von Großunternehmen drastisch verkürzt, schafft Facebook in einem Jahr, was beim Telefon noch 75 Jahre gedauert hat – 50 Millionen Nutzer zu gewinnen. Das neue Trendwort VUCA fasst die Herausforderungen zusammen: Führungskräfte müssen ihr Unternehmen im Zeichen von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität steuern.
Unter besonderem Druck steht derzeit die Finanzbranche. Auf den Führungsetagen vieler traditioneller Banken schaut man mit Sorge auf Fintechs, die mit immer neuen Apps das Kerngeschäft bedrohen. Peer-to-Peer-Kreditvergabe und vollständig mobile Girokonten sind nur zwei Beispiele für innovative Entwicklungen. Vor allem die Geschwindigkeit der neuen Konkurrenz beeindruckt.
Einige Banken haben bereits Transformationsprogramme eingeleitet, um selbst schneller zu werden. Doch die Erfahrungzeigt: Beschleunigung allein reicht nicht aus. Unternehmen, die langfristig erfolgreich sein wollen, müssen nicht nur fähig sein, neue Chancen und Risiken rasch zu erkennen. Sie müssen auch in der Lage sein, auf dieser Basis effizient zu handeln. Erst unter beiden Voraussetzungen sind sie wirklich agil.
Agilität erfordert aus unserer Sicht das Zusammenspiel von dynamischen (schnellen und adaptiven) Fähigkeiten mit stabilen (verlässlichen und effizienten) Elementen. Ohne ausreichende Stabilität droht Chaos statt Agilität – was viele Start-ups nach einer ersten Phase rapiden Wachstums schmerzlich erfahren mussten. In einem agilen Unternehmen sorgt die Fähigkeit, zum Beispiel Ressourcen flexibel zu allokieren oder neue Ideen umgehend zu testen, zu skalieren und ggf. auch wieder zu verwerfen für erforderliche Dynamik. Den stabilen Rahmen, quasi das Rückgrat der Organisation, bilden Unternehmenswerte, Strukturen und Prozesse (siehe Abbildung). Eine gute Analogie ist das Smartphone: Während sich Apps jederzeit dynamisch aufspielen, aktualisieren oder löschen lassen, bieten Hardware und Betriebssystem eine über mehrere Jahre stabile Plattform. Sie erst macht die flexible Nutzung der Apps möglich.
Worauf kommt es bei der Transformation an?
Doch wie kann der Weg zu mehr Agilität gelingen? Das Beispiel einer führenden Bank veranschaulicht, worauf es bei der Transformation ankommt. Die Ausgangslage war wenig viel versprechend: Die Bank litt unter stagnierendem Wachstum, die Organisation war über die Jahre behäbig geworden und konnte neuen Konkurrenten nur wenig entgegensetzen. In einem Workshop ging der Vorstand zunächst auf Ursachenforschung und steckte ein umfassendes Veränderungsprogramm ab.
Einer der Kerngedanken war es, über die gesamte Organisation hinweg das Unternehmertum (wieder) zu stärken. Dazu wurden unter anderem die Geschäftsbereiche klarer aufgeteilt und mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Auch in den Geschäftsbereichen selbst wurden Entscheidungswege maßgeblich verändert. So erhielten beispielsweise Kundenbetreuer deutlich mehr Befugnisse, in eigener Verantwortung auf Beschwerden zu antworten. Ziel der Dezentralisierung war es, Entscheidungen näher an die Kunden heranzuführen und zu beschleunigen, um so die Reaktionsfähigkeit zu erhöhen.
Gleichzeitig gab der Vorstand klare Rahmenbedingungen als Orientierung vor. Er definierte seine eigene Führungsrolle neu und kommunizierte dies entsprechend im Unternehmen: Der Vorstand fungiert nicht mehr als Kontrolleur und oberster Entscheider, sondern ist Gestalter, der auf Dialog und konstruktives Hinterfragen setzt. Tatsächlich spielte der Vorstandsvorsitzende in der Folge mehrfach Entscheidungen, die in strittigen Punkten an ihn eskaliert worden waren, bewusst an die eigentlich zuständigen Stellen zurück. Parallel initiierte und moderierte er aber einen umfassenden Meinungsaustausch unter Einbeziehung aller Beteiligten.
Abbildung
Checkliste: Wie agil ist Ihre Organisation?

Führungsverständnis neu ausgelotet
Auch die zweite Managementebene der Bank lotete ihr Führungsverständnis in einem Workshop neu aus. Die Top-35 einigten sich auf Prinzipien der dienenden Führung. Sie zielt darauf, Transparenz und Vertrauen zu stärken und den Mitarbeitern mehr Kompetenz zur Mitgestaltung zu geben. Als Manager von agilen Teams konzentrieren sich die Führungskräfte jetzt stärker als bisher auf die eigene Wertschöpfung, indem sie zum Beispiel neue Aspirationen entwickeln und optimale Rahmenbedingungen für ihre Mitarbeiter schaffen. Gleichzeitig gab die Bank ein klares Signal: Führungskräfte, die sich besonders für den Kulturwandel engagierten, wurden in ihrer weiteren Karriereentwicklung gezielt gefördert.
Bei der begleitenden Anpassung weiterer Strukturen und Prozesse setzte die Bank insbesondere auf drei Leitgedanken:
• Kollaboration: Wie viele andere Organisationen war die Bank von klassischem Silodenken geprägt; funktionale Spezialisierung zählte mehr als gemeinschaftliche Verantwortung für ein Geschäftsfeld. Im Zuge der Transformation führte die Bank interdisziplinäre Teams ein, die jeweils für einen Prozess die End-to-End-Verantwortung tragen, etwa für die Online-Hypothekenvergabe. Für einzelne Mitarbeiter hat sich der Abstimmungsaufwand dadurch zwar möglicherweise erhöht. Die konzentrierte Arbeit an einem gemeinsamen Thema hat insgesamt aber Schlagkraft und Innovationsfähigkeit erhöht. Auch lassen sich heute Ressourcen eindeutiger zuordnen.
Um den Veränderungsprozess nicht zu überfrachten, wurden diese Teams zunächst in Bereichen aufgebaut, die schnell erste sichtbare Erfolge versprachen. Die Pionier-Teams erhielten zudem Freiraum bei der Definition ihrer Rollen; vorhandene Rollenbeschreibungen wurden konsequent entschlackt. Jedes Teammitglied legt gemeinsam mit Kollegen und Vorgesetzen fest, was es im folgenden Jahr zur Gesamtleistung beitragen will und kann. Die Pläne werden intern öffentlich gemacht. Der neue Ansatz zahlt sich für alle aus: Die Teams können auf eine größere Bandbreite an Fähigkeiten bauen, die Mitarbeiter breitere Entwicklungschancen nutzen.
Trotz Einsatz interdisziplinärer Teams verbleiben in einer Organisation immer auch Schnittstellen zwischen einzelnen Einheiten, an denen es auf effektive Zusammenarbeit ankommt. Treten heute in der Bank an solchen Schnittstellen Probleme auf, können Mitarbeiter auf die Unternehmenswerte verweisen und ein kollaboratives Verhalten einfordern. Die Bank hat zudem eine Art Net Promoter Score für interne Kundenzufriedenheit eingeführt: Mitarbeiter bewerten quartalsweise ihre Zufriedenheit mit relevanten internen Kooperationspartnern. Diese erreichen ihren vollen Bonus nur, wenn ihr Net Promoter Score jedes Quartal steigt.
• Eigeninitiative: Neue Geschäftsideen wurden in der Bank vor der Ressourcenfreigabe üblicherweise lang und ausführlich geprüft. Um den Prozess zu beschleunigen und die Entscheider vor Ort zu stärken, kann jetzt jedes Team einen vorgegebenen Maximalbetrag ohne Abstimmung in neue Ideen investieren. Wer weitere Ressourcen will, muss konkrete Markterfahrungen vorweisen; Analysen allein reichen nicht aus. Dieses Primat des Handelns gilt für auch jeden einzelnen Mitarbeiter. Ideen waren in der Unternehmenskultur zwar schon immer geschätzt, doch geht es nun darum, mehr Ideen zu generieren und sie schneller dezentral zu erproben. Zu diesem Zweck führt die Bank u.a. regelmäßig abteilungsübergreifende Hackathons durch. Bei diesen Events, die ursprünglich aus der IT-Szene stammen, setzen sich Mitarbeiter in einem Raum zusammen, um in zeitlich begrenzten Sessions neue Ideen voranzutreiben oder noch unklare Produktideen durch Prototypen zu verfeinern.
• Transparenz: Ein weiteres zentrales Anliegen des Transformationsprogramms war es, für mehr Offenheit zu sorgen. Aktivitätenpläne, Zielvereinbarungen und Zielerreichungsstand sind jetzt auf Abteilungs- und Teamebene transparent. Sämtliche Berichte sind frei verfügbar, mögliche Ausnahmen – etwa bei belegbaren rechtlichen Risiken – extra zu begründen. Damit die Informationen nicht nur theoretisch zugänglich, sondern auch praktisch nutzbar sind, wurden Berichte und Messgrößen standardisiert (zum Beispiel einheitliche Definition, was ein aktiver Kunde ist).
Mit dem Transformationsprogramm hat die Bank ihre Wettbewerbsposition erheblich verbessert. Sie gilt als innovationsstark und konnte zuletzt ihr Ergebnis jedes Jahr deutlich steigern – als einzige Bank unter den Top-20 in ihrem Markt. Ein weiterer Effekt: Auch als Arbeitgeber für talentierte Mitarbeiter ist die Bank attraktiver geworden. Gerade die Generation Y legt wenig Wert auf hierarchische Strukturen – ihr kommt es auf Selbstverwirklichung und eigenverantwortliches Arbeiten an. Das erfordert entsprechende Unterstützung durch die Führungskräfte und eine ausreichende Fehlertoleranz. Trotz der anfänglichen Unsicherheit, die jede Transformation begleitet, stieg der Gallup Engagement Score der Bank in wenigen Jahren von rund 60 auf 81. Damit schneidet die Bank bei der Mitarbeitermotivation deutlich besser ab als die Konkurrenz und liegt auch über dem branchenübergreifenden Durchschnitt erfolgreicher Unternehmen.
Verändertes Auswahlverfahren
Neben größerer interner Mobilität hat sich die Einstellung neuer Mitarbeiter als wichtiger Impulsgeber für die neue Unternehmenskultur erwiesen. Dazu hat die Bank unter anderem das Auswahlverfahren verändert: Bei der Bewertung der Kandidaten zählt neben der fachlichen Eignung die kulturelle Affinität als zweites gleichwertiges Kriterium. Anders als früher geht es dabei aber nicht um „Bauchgefühl“ – Bewerber müssen vielmehr klar belegen, dass sie bereits Eigeninitiative gezeigt haben sowie fähig und bereit sind, transparent und authentisch zu kommunizieren. Künftige Teamkollegen müssen einer Einstellung zustimmen. Die explizite Ablehnung von Kandidaten, die zwar fachlich exzellent waren, aber nicht zur neuen Kultur der Bank passten, wurde intern als weiteres Signal verstanden, dass es der Führung mit den Veränderungen ernst ist.
Die HR-Abteilung hat das gesamte Transformationsprogramm maßgeblich mitbegleitet. Sie hat die neue Kultur durch kreative Maßnahmen wie einem regelmäßigen „Tag der Unternehmenswerte“ verankert, Qualifizierungsprogramme entwickelt und Leistungsbewertungen angepasst. Eingeführt wurden beispielsweise Peer-Boni, die direkt und unbürokratisch für vorbildliches Verhalten im Einklang mit den Unternehmenswerten vergeben werden können – eine vielleicht kleine Maßnahme, die aber die gewonnene Agilität im Unternehmen symbolisiert.
Autoren
Dr. Miriam Heyn, Associate Principal, McKinsey & Company,
miriam_heyn@mckinsey.com
Lukas Wallrich, Berater, McKinsey & Company,
lukas_wallrich@mckinsey.com
Dr. Kirsten Weerda, Senior Expert in der Organization Practice, McKinsey & Company,
kirsten_weerda@mckinsey.com
Dr. Eckart Windhagen, Seniorpartner und Leiter der deutschen Organization Practice, McKinsey & Company,
eckart_windhagen@mckinsey.com
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