Raus aufs Land

Die meisten Talente wollen nach Berlin, München, Hamburg oder Köln – zum Leidwesen vieler Mittelständler auf dem Land. Doch kein Grund zur Verzweiflung: Unternehmen aus der Provinz können ihre Berliner Konkurrenten durchaus ausstechen – wenn sie es geschickt angehen.
Deutsche Provinz: Das klingt – je nach Perspektive – nach Idylle oder Einöde. Verklinkerte Einfamilienhäuser reihen ihre Spitzdächer aneinander, Geschäfte gibt es nur auf der Hauptstraße, und keine U-Bahn stört die Ruhe. Die großen Supermärkte liegen, wenn überhaupt, außerhalb, und wer in die nächste Metropole will, muss auch mal eine Stunde im Auto in Kauf nehmen. Hier, weit weg von Großstadtatmosphäre und Start-up-Kultur, hat es sich der deutsche Mittelstand gemütlich gemacht. Landstriche und Gemeinden, die im Rest der Republik kaum jemand kennt, stellen seit Jahrzehnten hunderte, wenn nicht sogar tausende Weltmarktführer. „Hidden Champions“ hat Hermann Simon, Gründer der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners diese meist inhabergeführten, nicht börsennotierten Firmen vor gut 25 Jahren genannt – weil sie international herausragende Marktstellungen einnehmen, in der Öffentlichkeit jedoch weitgehend unbekannt sind.
Party, Aufregung, Craft Beer
Ihre Lage abseits der deutschen Metropolen macht den Unternehmen nun zusehends zu schaffen. Das Statistische Bundesamt erwartet, dass in Deutschland 2050 mindestens zwölf Millionen Menschen weniger leben als heute und die Verbleibenden sich eher in den großen Städten ansiedeln.
Die deutsche Jugend wolle nicht in die Provinz, wolle keine Idylle, konstatiert Hermann Simon heute. Stattdessen wolle sie Party, Aufregung, Craft Beer, ratternde U-Bahnen im Minutentakt, Bars, Shoppingmalls, Restaurants. Großstadtatmosphäre eben. Eine Entwicklung, die Simon schon länger mit Sorge verfolgt. Der Experte für den deutschen Mittelstand sieht den Run auf die Städte als große Gefahr: „Wandern die Talente in die Stadt, fehlen den deutschen Weltmarktführern schon bald wichtige Fach- und Führungskräfte.“
Wie können Unternehmen die abgewanderten Neu-Großstädter dann noch zurück in die deutsche Provinz locken? Eine komplexe Frage, auf die Simon eine fatalistische Antwort hat: „Gar nicht.“ Wer einmal längere Zeit in Berlin oder München gelebt habe, womöglich dort studiert habe und an ein Leben in der Stadt gewöhnt sei, den bekomme man kaum noch dazu, aufs Land zu ziehen: „Das ist vergebene Liebesmüh.“
Erste Unternehmen haben deshalb bereits die Reißleine gezogen und der Provinz Adieu gesagt. So etwa die Berner SE: 9000 Mitarbeiter, 1,6 Milliarden Euro Jahresumsatz und eigentlich in Künzelsau beheimatet, einer Kleinstadt mit 14 000 Einwohnern. Doch dort gab es nicht ausreichend Fachkräfte, weshalb der Vorstand im Mai 2015 entschied: Wir ziehen nach Köln. Zwar blieb der Hauptsitz der alte, doch der Großteil der Verwaltung ist inzwischen umgezogen. In Köln hofft das Unternehmen, bessere Karten bei IT- und Marketingexperten zu haben.
Für viele mittelständische Industrieunternehmen kommt diese Flucht nach vorn nicht infrage. Sie sind an ihre Hauptsitze in ländlicher Umgebung gebunden: Dort haben sie große, teils hochmoderne Anlagen für viel Geld aufgebaut, ein Zulieferernetzwerk etabliert. Und etlichen würde schlicht das Geld für einen großangelegten Umzug fehlen.
Umso entscheidender ist es für solche Unternehmen, ihre Personalpolitik heute aktiv zu gestalten und Fachkräfte beizeiten aufs Land zu holen. Doch wie gelingt das? Wir haben uns drei unterschiedlich große Unternehmen aus drei Regionen angesehen, die nur eine Gemeinsamkeit haben: Sie rekrutieren äußerst erfolgreich in die Provinz.
WIKA: Aus der Provinz für die Provinz
Die WIKA Alexander Wiegand SE & Co. KG ist Weltmarktführer in der Druck- und Temperaturmesstechnik: 8000 Mitarbeiter weltweit, 876 Millionen Euro Jahresumsatz. Bekannt ist das Familienunternehmen aber kaum, die Produkte sind nicht öffentlichkeitswirksam. Der Hauptsitz des Unternehmens liegt in Klingenberg am Main, einer kleinen Gemeinde mit 6000 Einwohnern. 2000 davon beschäftigt WIKA an seinem Stammsitz, viele kommen aus dem direkten Umkreis.
Das ist kein Zufall. Seit einigen Jahren setzt WIKA auf ein verstärktes Recruiting in der Umgebung. „Wir sind bislang bundesweit nicht ausreichend bekannt“, sagt HR-Managerin Veronika Repp. „Aus der lokalen Historie heraus haben wir besonders die Beziehungen zu den Gemeinden rund um den Hauptstandort gepflegt.“ Das Kalkül: Wer sowieso aus der Umgebung kommt, dem muss man das Leben dort nicht mehr schmackhaft machen.
Eine gute Taktik, findet Unternehmensberater Hermann Simon. Denn Talent sei ein gleichmäßig über die Republik verteiltes Gut: „Jedes Gebiet, jeder Landkreis und jeder Umkreis hat die gleichen Potenziale.“ Man müsse sie nur zu nutzen wissen.
Genau darauf konzentriert sich WIKA. HR-Managerin Repp sagt: „Wir investieren und sponsern viel rund um Sport, Kinder und Gesundheit in der Region.“ Das sei sehr effektiv, weil es eine Bindung zwischen Unternehmen und Umgebung herstelle. Auch Mitarbeiter werden bei ihrer sportlichen Aktivität unterstützt, beispielsweise mit Ausrüstung oder Trikots.
Um von der Präsenz in der Region zu profitieren, spricht WIKA viele seiner potenziellen Mitarbeiter direkt an. So etwa auf Hochschul- oder Karrieremessen. Das Familienunternehmen bietet zudem Praktika für Schüler und Studenten an und ermöglicht Nachwuchskräften die Gelegenheit zum dualen Studium in Zusammenarbeit mit den Hochschulen der Region.
Sind die potenziellen Interessenten einmal neugierig geworden, geht es in die Überzeugungsarbeit. Dabei werden ganz bewusst die Vorteile der Provinz und die eines Familienunternehmens in den Vordergrund gerückt: Günstige Immobilienpreise, flexible Arbeitszeiten, ein Betriebskindergarten und ein Fitnessgelände hätten laut Repp schon viele Skeptiker überzeugen können. Eine Beobachtung, die auch Unternehmensberater Hermann Simon gemacht hat: „Große internationale Konzerne sind gerade bei flexiblen Arbeitsmöglichkeiten oft nicht so gut aufgestellt wie Mittelständler oder Familienunternehmen.“ Diese Vorteile hervorzuheben, sei deshalb eine wichtige Strategie im Kampf um die raren Fachkräfte im Land.
Claas: Digital junge Bewerber rekrutieren
Knapp 360 Kilometer nördlich von Klingenberg, im beschaulichen Harsewinkel, setzt die Claas KGaA mbH einen anderen Fokus. Der Landmaschinenkonzern, der im vergangenen Jahr fast 3,6 Milliarden Euro umgesetzt hat, sitzt schon über 100 Jahre in dem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. Schaut man aus der Vogelperspektive auf die Stadt, kann man die Bedeutung des Unternehmens erahnen: Allein dessen Betriebsgelände macht etwa ein Fünftel der gesamten Stadt aus.
Über 11000 Mitarbeiter beschäftigt die Firma weltweit, ihr Logo prangt auf vielen Mähdreschern und Traktoren. Bei Landwirten und dreijährigen Jungs ist das Unternehmen entsprechend bekannt. In der breiten Öffentlichkeit hingegen eher nicht.
Vor wenigen Jahren hat Personalleiter Michael Hyllan deshalb den Recruiting-Prozess umgekrempelt. Statt die breite Masse durch Werbung oder auf großen Karrieremessen anzusprechen, geht man seitdem lieber auf einzelne Zielgruppen sehr spezifisch zu: „Jeder Kanal, den wir aktiv bespielen, kostet Aufwand und Geld. Deshalb konzentrieren wir uns lieber auf wenige für uns relevante Aspekte.“
Einen Fokus legt Claas auf die Zusammenarbeit mit Hochschulen. Im eigens eingerichteten „Hochschulmanagement“ wird unter anderem ausgetüftelt, wie man Studenten vom Unternehmen überzeugen kann. Zum Beispiel, indem man sie ernst nimmt und fordert: Besuchen Hochschüler das Unternehmen, lösen sie Fallbeispiele und entwickeln Geschäftsstrategien. „Die Studenten kommen nicht hierhin und machen einen Schönwetterausflug mit einer Führung und einer langweiligen Power-Point-Präsentation“, sagt Michael Hyllan. „Dafür bekommen wir viel Zuspruch.“ Der zweite Fokus, und darauf ist der HR-Chef merklich stolz, ist eine ausgefeilte Digitalstrategie. Statt eines schnöden Reiters „Karriere“, unter dem aktuelle Jobangebote gelistet sind, ist die Karriereseite modern mit großformatigen Fotos aufgemacht. In einzelnen Kategorien können Berufseinsteiger, Erfahrene oder Interessierte Videos schauen, die die Arbeit im Unternehmen vermitteln sollen. „Die Videos sind genau auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten“, so Hyllan.
Der Lohn: immenser Zuspruch auf Social Media. Auf Instagram folgen mehr als 4000 Menschen den Fotos und kurzen Videos des Landmaschinenkonzerns. Zum Vergleich: Der Chemiekonzern BASF, der letztes Jahr 70 Milliarden Euro umgesetzt hat, kann gerade einmal auf 2000 Follower verweisen, ThyssenKrupp hat sogar nur etwas mehr als 1000. Das Unternehmen Claas auf gefällt auf Facebook 270 000 Menschen, zwischen 6000 und 70 000 User schauen die Videos von Claas auf Youtube an. Darunter werden ohne Frage auch Treckernarren und Landmaschinenliebhaber ohne direktes Jobinteresse sein. Doch beeindruckend sind die Zahlen trotzdem. Für Michael Hyllan sind sie Beweis für den Erfolg seiner Strategie. Denn über die Social-Media-Kanäle kommen junge Interessierte auf die Homepage der Firma, wo sie sich direkt online bewerben können. „Dadurch gewinnen wir viele neue Bewerber“, sagt der Personalleiter. „Jeder Post muss absolut authentisch sein. Wer sich wegen unseres Online-Auftritts bei uns meldet, bei dem müssen wir oft nur noch wenig Überzeugungsarbeit leisten. Das erleichtert es beiden Seiten.“
Für Klaus Becker, Gründer und Inhaber der Personal- und Managementberatung Becker + Partner mit Sitz im hessischen Zwingenberg, ist das der richtige Weg. Becker berät deutsche Mittelständler bei wichtigen Personalfragen und sieht digitales Marketing als wichtigste Entwicklung der letzten Jahre. Kaum jemand schaue heute noch in eine Tageszeitung, wenn er auf Arbeitsplatzsuche sei: „Fast jede zukünftige Fachkraft sucht entweder über ihr Smartphone oder über den Laptop nach Praktika, Stellen oder Ausbildungsplätzen.“
Der erste Schritt sei dementsprechend eine ansprechende Homepage, die responsiv sein müsse, also auf den Mobilgeräten der Jugendlichen funktioniere. „Die Homepage muss sexy sein, ansprechend sein – modern eben“, sagt Becker.
B. Braun: Azubis ins Ausland
Dass sich junge Bewerber von sich aus melden, ist man in Melsungen gewöhnt. Die hessische Kleinstadt mit etwas mehr als 13 000 Einwohnern ist bis heute Stammsitz der B. Braun Melsungen AG. Bekannt ist die Firma insbesondere im Medizin- und Pharmabereich. Dort ist sie unter anderem führend bei der klinischen Versorgung von stationären Patienten.
Mehr als sechs Milliarden Euro hat B. Braun im vergangenen Geschäftsjahr umgesetzt, knapp 55 000 Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen in 64 Ländern. Jährlich gehen 15 000 Bewerbungen ein. „Wir sind ein globales, international bekanntes Unternehmen und nutzen das“, sagt Personalleiter Jürgen Sauerwald. Für ihn geht es deshalb eher um die nächsten Schritte: Wie überzeugt man einen potenziellen Mitarbeiter, die angebotene Stelle anzunehmen? Und wie hält man ihn auch?
Unternehmensberater Klaus Becker weiß um die Bedeutung dieses Prozesses. „Es kommt oft vor, dass Talente wirklich interessiert sind, eine Bewerbung abschicken und dann tagelang nichts hören“, sagt der Unternehmensberater. „Das schreckt Bewerber ab und ist nicht mehr zeitgemäß.“ Junge Nachwuchskräfte seien heute schnelle Antworten über Messengerdienste aus dem privaten Umfeld gewohnt und erwarteten ein ähnlich hohes Tempo von der Personalabteilung in Unternehmen. Auf eine Antwort sollten Jobsuchende nie länger als 48 Stunden warten, so Becker.
Sitzt der Bewerber einmal beim Bewerbungsgespräch, geht es bei B. Braun oft um ein Thema: Auslandseinsätze. Der globale Konzern setzt weniger auf die Reize der Provinz als vielmehr auf seine internationale Vernetzung. „Junge Menschen wollen aktiv Sprach- und Kulturerfahrung sammeln“, weiß HR-Chef Jürgen Sauerwald. Deshalb biete man Auszubildenden bereits zu Beginn die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit ins Ausland zu gehen. Auch das kann eine Strategie sein, um fähige Fachkräfte zu rekrutieren und langfristig zu begeistern.
Autor
Nils Wischmeyer, freier Journalist, Köln
Checkliste: So gelingt das Provinz-Recruiting
Auch in der vermeintlichen Provinz haben Mittelständler in Deutschland Trümpfe in der Hand – und sind gut beraten, sie auch zu spielen.
- 1.
Stellen Sie die Vorteile der Provinz heraus!
So wird aus der Not eine Tugend. Schöne Landschaften, jede Menge Kita-Plätze, Flexibilität im Unternehmen und schnellere Aufstiegschancen sind wichtige Argumente. Vielen jungen Fachkräften und gerade auch älteren Bewerbern geht es um mehr als nur Karriere.
- 2.
Werben Sie zielgruppenspezifisch! Einsteiger wollen anders angesprochen werden als erfahrene Mitarbeiter.
- a)
Für Studenten oder Schulabgänger: Talente bereits im Studium zu gewinnen und interne Weiterbildungs- und Karrierechancen zu bieten, ist oft günstiger als hoch qualifizierte Kräfte von außen einzukaufen.
- b)
Für Erfahrene: Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und unterschiedlichen Lebensphasen (etwa Auszeiten oder Sabbaticals) sind für viele Fachkräfte attraktiv. Auch (Alters-)Teilzeitmodelle gewinnen an Bedeutung.
- 3.
Setzen Sie auf Online-Kanäle! Anzeigen in Zeitungen? Eine kleine Rubrik auf der Firmen-Homepage? Längst nicht mehr zeitgemäß.
Die eigene Karriere-Website ist der Anker der Kommunikation mit dem Kandidaten. Facebook, Instagram, Youtube, Xing oder Linkedin sind die Kommunikationswege der Gegenwart. Vernetzung ist Trumpf.
- 4.
Rekrutieren Sie lokal! So bekannt zu sein wie Apple, Microsoft oder Adidas ist für viele Unternehmen illusorisch. Erfolgversprechend ist deshalb, in der Umgebung auf Talentsuche zu gehen. Denn Potenzial gibt es in jeder Region, nicht nur in den Großstädten. Man muss fähige Interessenten nur früh genug ansprechen.
- 5.
Machen Sie es Ihren Bewerbern leicht!
Gestalten Sie Ihre Bewerbungsverfahren möglichst einfach, um vielversprechende Interessenten nicht zu vergraulen: Schlanke Online-Bewerbungen, zuverlässig funktionierende digitale Kontaktwege und zügige Reaktionen auf Bewerbungen sind die Mittel der Wahl.