Ausgabe 9, Special Betriebliches Gesundheitsmanagement - 2015
Die Zeit läuft

Das riesige Interesse an Betrieblichem Gesundheitsmanagement bei Fachmessen verleitet zur Annahme, Unternehmen entwickelten sich allmählich zu einer Art Fitness-Arena oder einer Gesundheitsquelle. Wie es tatsächlich um das Thema bestellt ist, diskutierten renommierte Gesundheitsexperten beim Round Table der Personalwirtschaft.
Arbeitnehmer werden kränker, Fehltage steigen an, Diagnosen wie Muskel-Skelett- und psychische Erkrankungen nehmen rasant zu. Von Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF), so der aktuelle Präventionsbericht des Spitzenverbands der Krankenkassen, profitieren nur 1,1 Millionen Arbeitnehmer – von 42,7 Millionen Erwerbstätigen. Zwar umfasst der Präventionsbericht ausschließlich die Betrieblichen Aktivitäten der Krankenkassen, doch es entsteht der Eindruck, „dass die Quantität und Güte dessen, was im BGM umgesetzt wird, im umgekehrten Verhältnis zur medialen Aufmerksamkeit steht“. So formuliert Professor Stephan Burger, leitender Direktor der Medical Contact AG, seine Einschätzung, die von den Diskussionsteilnehmern geteilt wird.
Insgesamt 25 Prozent der Unternehmen sollen ein Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) aufgesetzt haben, laut Unternehmensberatung Roland Berger. Dabei sind es eher die Großunternehmen, die ein umfassendes BGM implementiert haben. Legt man diese Zahl als repräsentativ zugrunde, so müssen unter qualitativen Aspekten immer noch diejenigen abgezogen werden, die „Betriebliche Gesundheitsförderung im Gießkannenprinzip“ betreiben, also Einzelmaßnahmen ohne Gesamtstrategie, „die keinesfalls gleichbedeutend mit BGM sind“, wendet der Geschäftsführer des Motio-Verbunds Kai Rappenecker ein. Damit spricht er das alte Leiden der BGM-Spezialisten an, die seit Jahren dagegen ankämpfen, dass Maßnahmen wie „ein Apfel pro Tag oder ein wöchentlicher Yoga-Kurs“ noch lange kein Betriebliches Gesundheitsmanagement darstellen. Tatsache ist, dass sich diese Erkenntnis nur langsam durchsetzt, wie eine aktuelle DIHK-Studie mit dem klangvollen Namen „An Apple a Day“ beweist. Sie untersuchte im Jahr 2014 den Stand der Gesundheitsmaßnahmen in Unternehmen. Ergebnis: 90 Prozent der deutschen Unternehmen „unterstützen die Gesundheitsvorsorge der Mitarbeiter oder planen dies konkret“. Diese Aussage kommt in ihrer Unbestimmtheit der Realität in den Betrieben wohl am nächsten.
Betriebe holen auf
Grund zum Schwarzmalen gibt es trotzdem nicht, denn etliche Unternehmen drücken aufs Tempo, wie die lebhafte Nachfrage bei den Dienstleistern zeigt. Die Motive der Arbeitgeber sind unterschiedlich. So müssen Betriebe den gesetzlichen Anforderungen der psychischen Gefährdungsbeurteilung nachkommen. Dies führe oftmals dazu, dass sie eine Initiative für Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) oder ein systematisches BGM einführen, berichtet Harald Holzer, Geschäftsführer von vitaliberty. Andere Unternehmen stellten derzeit ihr BGF um, führten Managementprozesse ein und modernisierten ihre Maßnahmen, um sie „in den dynamischen Arbeitsalltag zu integrieren und so gestalten, dass sie ihren Mitarbeitern auch Spaß machen“.

Die Diskussionsrunde moderierte Christiane Siemann, die als freie HR-Journalistin arbeitet.
Zweifelsohne liegt das wichtigste Motiv der Arbeitgeber derzeit in der gesetzlich vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Von einer flächendeckenden Umsetzung ist die Wirtschaft noch weit entfernt, stellt Martin Schirrmacher fest, der als Referent für BGM beim Gesundheitsdienstleiter B.A.D. tätig ist. Fünf bis maximal 20 Prozent von Unternehmen, so erste Erhebungen, kämen dieser Pflicht nach. Ein Grund dafür: Die Toolbox der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) mit rund 90 Verfahren ist für Erstanwender wenig durchschaubar bis verwirrend. B.A.D. hat deshalb eine Auswahl an Expertenverfahren getroffen, die sie Unternehmen empfiehlt und auch umsetzt. Den alleinigen Fokus auf die Verfahren zu richten, reiche aber nicht. Schirrmacher: „Der weitere Prozess muss gut geplant sein und eine pragmatische Vorgehensweise ermöglichen.“
Die Kritik an der Vielzahl der Verfahren teilt auch Burkhard Knoch, Geschäftsführer von Ge.on, einer Tochter der ias-Gruppe. Es erfordere „viel methodische Versiertheit, um das Thema anzugehen“, denn je nach Unternehmen eigneten sich unterschiedliche Erhebungsmethoden oder es könnten bestehende Instrumente aus dem Bereich des Arbeitsschutzes genutzt werden. Ein weiterer wichtiger Impuls für Betriebe liegt auch im Employer Branding. Immer mehr initiierten ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement unter dem Aspekt der Arbeitgeberattraktivität, lautet die Erfahrung von Dr. Utz Niklas Walter, Geschäftsführer des Instituts für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG). Nicht mehr allein Kostengründe spielten für die Implementierung von BGM die Hauptrolle, sondern ebenso Aspekte wie die Zunahme der Arbeitgeberattraktivität, die sich häufig auch valide messen ließen.
Andere Erfahrungen macht Tom Conrads: Eine systematische Herangehensweise an die betriebliche Gesundheit gewinne deshalb an Bedeutung, so der Geschäftsführer von insa Gesundheitsmanagement, weil Unternehmen mit aussagekräftigen Zahlen arbeiten wollen. Dazu zählten Fehlzeiten, Fluktuations- und BEM-Quoten wie auch ausgewählte weiche Faktoren wie Motivation und Identifikation, die den BGM-Index abrunden.
Zu beobachten ist ebenso, dass Unternehmen mit langjähriger Erfahrung in Fragen der Arbeitsmedizin eine deutliche Reduzierung der Fehlzeiten erleben. Deshalb erkennen sie „die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit von Betrieblichem Gesundheitsmanagement“ und verstärken ihre Maßnahmen, weiß Gerd Scheuplein von der Barmer GEK zu berichten, der als BGM-Berater für Baden-Württemberg und Hessen zuständig ist.
![]() | Das Setting Betrieb sollte stärker für Sekundärprävention wie Vorsorgeuntersuchungen genutzt werden, weil hier Menschen erreicht werden, die üblicherweise nicht zum Arzt gehen. |
![]() | Führungskräfte brauchen Sicherheit in ihrer Handlungskompetenz, sie möchten mehr über ihren Spielraum in Gesundheitsgesprächen wissen und und die gesetzlichen Schranken kennen. |
Psychische Erkrankungen und suizidale Krisen
Auch wenn die Erhebung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz nicht zwangsläufig zur Thematik der „psychisch Erkrankten am Arbeitsplatz“ führt, so drängt sie sich doch nach dem Absturz des Germanwings-Flugzeugs in Selbsttötungsabsicht massiv auf. „Wie stark kümmert sich ein Betrieb um psychische Gesundheit und was versteht man darunter?“ Mit dieser Frage bringt Thomas Holm auf den Punkt, was viele Unternehmen beschäftigen sollte. Der Leiter Gesundheitsmanagement bei der Techniker Krankenkasse hofft, dass Ereignisse wie der Germanwings-Absturz zusätzlich für die Tragweite dieses Themenfeldes sensibilisieren. „Psychische Gesundheit ist oft ein ungeliebtes Thema in Unternehmen und umso dramatischer, wenn psychisch kranke Mitarbeiter nicht nur sich, sondern auch andere Menschen gefährden.“ Als kritisch stuft Holm das betriebliche Umgehen mit psychischen Erkrankungen ein. „Wenn Fehlzeiten in Unternehmen steigen, auch aufgrund dieser Erkrankungsarten, wollen Betriebe oft eine schnelle Lösung oder sind mit der Thematik schlichtweg überfordert.“ Es brauche aber einen kontinuierlichen innerbetrieblichen Prozess mit den Kernfragen: Wie reagieren wir und kümmern uns, wenn Kollegen ausfallen? Sprechen wir Mitarbeiter gezielt an, wenn sie sich anders verhalten als gewohnt? Gibt es strukturierte Hilfsangebote? Thomas Holm: „Statt Kennzahlen müssen vertrauensvolle Kommunikation und sensibles Bewusstsein füreinander in den Vordergrund treten.“ Insgesamt ist der Umgang mit dem Thema „psychische Gesundheit“ in Unternehmen noch recht unbeholfen. Gleichwohl gibt es schon Unternehmen – wenn auch wenige –, deren Umgang mit psychischen Belastungen im Betrieb und mit Krisen von Mitarbeitern Vorbildcharakter hat. Sie möchten von ihren Mitarbeitern erfahren, „wann Druck zur übermäßigen Belastung führt und wo sie ihren Leistungsanspruch zurückschrauben müssen“, berichtet insa-Geschäftsführer Tom Conrads. Die Entscheider verbinden diese Beurteilung durchaus bewusst mit wirtschaftlichen Faktoren und „nehmen kurzfristig eine Leistungsreduktion in Kauf, um Führungskräfte und Mitarbeiter langfristig gesund zu erhalten und ihre Belastbarkeit zu stärken“. Unternehmen, die diesen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Leistung noch nicht wirklich verstanden hätten, scheuten vor einer solchen Haltung oft noch zurück.
Vorsicht vor Verletzung der Fürsorgepflicht
„Psychische Erkrankungen von Mitarbeitern werden oft bewusst übersehen, meistens aus Hilflosigkeit.“ Mit dieser Beschreibung trifft Stephan Burger den Kern des Problems. Denn das Wegschauen bedeutet nicht nur eine Verletzung der Fürsorgepflicht, sondern nimmt auch lange Ausfallzeiten in Kauf. Der Direktor von Medical Contact, die seit vielen Jahren chronisch Kranke betreut, kritisiert „die Verengung von psychischen Belastungen auf die Arbeitsbedingungen“. In einer alternden Gesellschaft seien Mitarbeiter aus unterschiedlichen Gründen psychischen Belastungen ausgesetzt, beispielsweise durch pflegebedürftige Angehörige. Es sei auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll, dass Arbeitgeber entlastende Angebote schaffen, ob eine Plattform, über die Mitarbeiter praktische Hilfe organisieren können, oder ein Gesundheitstelefon, das anonym in Anspruch genommen werde. Denn die Aufgabe, den Schweregrad der Belastung oder Krankheit zu ermitteln, „ist nicht Sache der Führungskräfte, sondern der Fachleute.“
![]() | Es gibt keine standardisierten Lösungen, um psychische Krisen zu erkennen. Wie der Betrieb unterstützen kann, können wir nur im gemeinsamen Gespräch erfahren. |
![]() | Der Mitarbeiter darf mit seinen selbst gemessenen Daten nicht alleingelassen werden; ein digitaler oder persönlicher Coach muss Feedback geben und sinnvolle Maßnahmen vorschlagen. |
Externe „Seelsorger“ und Früherkennung
Externe Unterstützung gewinnt immer dann an Gewicht, wenn Mitarbeiter ihre Probleme auf keinen Fall intern kommunizieren wollen. Bei Ge.on registriert man über alle Kunden hinweg ein bis zwei suizidale Krisen pro Woche, bei denen Berater von außen tätig werden. Burkhard Knoch: „Mitarbeiter nehmen externe Dienstleister als neutrale Fachleute wahr, die ihnen weiterhelfen können.“ Natürlich könne ein psychosoziales Beratungsangebot extreme Einzelfälle, wie beispielsweise einen Amoklauf, nicht verhindern. Doch durch die niedrigschwelligen Angebote in Unternehmen oder EAP-Modelle im Rahmen einer telefonischen Beratung erlebten Mitarbeiter eine Entlastung. „Geschulte Berater erkennen auch Frühindikatoren für psychische Erkrankungen. Für Arbeitgeber ist es von Vorteil, wenn die Mitarbeiter rechtzeitig von einem Coaching oder einer Behandlung überzeugt werden und weiter arbeitsfähig bleiben können“.
Führungskräfte stärken
Woran kann es liegen, dass auch Vorgesetzte mit einem gesundheitsaffinen und mitarbeiterorientierten Führungsverhalten aus allen Wolken fallen, weil sie plötzlich bemerken, dass in einem Mitarbeiter schon lange ein schweres psychisches Problem „schmort“? Eine Ursache liegt darin, dass Betroffene aus Angst vor beruflichen Folgen alle Kraft investieren, um ihre psychischen Probleme zu verheimlichen, stellt Thomas Holm von der TK fest. Andererseits seien die Antennen der Verantwortlichen noch nicht sensibel genug oder sie wissen ganz einfach nicht, wie sie den Kollegen ansprechen sollen. Holm: „Um rechtzeitig intervenieren zu können, müssen wir sehr viel genauer hinschauen und uns trauen, miteinander ins Gespräch zu gehen, denn es gibt keine standardisierten Lösungen, um psychische Krisen zu erkennen und mit ihnen als Führungskraft umzugehen.“
Führungskräfte sollten auf jeden Fall geschult und beratend unterstützt werden, damit sie psychische Krisen ihrer Mitarbeiter besser wahrnehmen und das Gespräch suchen, um Hilfestellungen anbieten zu können, wünscht sich Martin Schirrmacher, B.A.D.: „Jede Führungskraft findet sich gelegentlich in schwierigen Situationen wieder, in denen sie an die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrung stößt oder in Rollenkollisionen gerät.“ Dabei habe sich die individuelle Beratung für Führungskräfte als geeignete Methode bewährt.
Dass die Bereitschaft der Führungskräfte, sich in verpflichtenden Seminaren zu öffnen, sehr groß sei, ergänzt Tom Conrads von insa. Zweifel beschlichen sie eher, weil sie nicht wüssten, ob es „wirklich von der obersten Führungsebene gewollt ist“. Sie fragen sich, wie die informellen Leitplanken aussehen, wie groß ihr Spielraum in einem Gesundheitsgespräch ist, was sie dürfen und wo es gesetzliche Schranken gibt. „Führungskräfte brauchen Sicherheit in ihrer Handlungskompetenz. Sie wollen wissen, was sie wie ansprechen dürfen.“
![]() | Wenn sich Mitarbeiter vertraulich beraten lassen und rechtzeitig von einem Coaching oder einer Behandlung überzeugt werden, können sie weiter arbeitsfähig bleiben. |
![]() | Das Präventionsgesetz darf nicht dazu führen, dass Unternehmen nur mehr Einzelprojekte anbieten; es müssen qualitative und strategische BGM-Ansätze vermittelt werden. |
Was bringt das Präventionsgesetz?
Für eine stärkere Verankerung der Betrieblichen Gesundheitsförderung auch in kleinen und mittleren Betrieben will das Präventionsgesetz sorgen, das in weiten Teilen im Juli 2015 in Kraft getreten ist. Es sieht vor, dass die Krankenkassen die Beratung und Unterstützung von Unternehmen vor Ort sicherstellen – gemeinsam mit örtlichen Kooperationspartnern wie der IHK. Von 2016 an müssen die gesetzlichen Krankenkassen sieben Euro statt bislang 3,09 Euro pro Versichertem und Jahr für Gesundheitsförderung ausgeben. Doch stärkt das Gesetz wirklich die Gesundheitsförderung in Betrieben oder ist es mehr Symbolpolitik? Die Meinungen dazu gehen auseinander. Mit Blick auf die Betriebe „ergeben sich daraus verbesserte Chancen für BGM im Allgemeinen, auch für KMU, die oftmals noch nicht den Mut, die Erfahrungen oder die finanziellen Möglichkeiten haben, damit zu beginnen“, begrüßt Gerd Scheuplein, Barmer GEK, das Gesetz. Auch Utz Niklas Walter von IFBG sieht das Gesetz grundsätzlich positiv, da es dafür sorgen werde, dass Krankenkassen, BGF-Anbieter und die Wissenschaft enger zusammenarbeiten und so neue und innovative Projekte entstehen würden.
Doch damit das Gesetz seine volle Wirkung entfalten kann, müssen einige Bedingungen erfüllt sein. „Die Unternehmen müssen es auch wollen“, betont TK-Experte Thomas Holm. Denn die „Kompetenzzentren“ können nur dann unterstützen, wenn die Betriebe aktiv eine Gesundheitsberatung anfragen. Einen weiteren „Stolperstein“ des Präventionsgesetzes sieht Kai Rappenecker vom Motio-Verbund darin, dass „vermutlich Unternehmen nur mehr Geld für klassische BGF-Bausteine ausgeben, da sie stark von den Kassen finanziert würden“. Zwar sei es positiv zu bewerten, dass mit dem Gesetz der erste Stein ins Rollen komme und auch KMU der Zugang zum Thema betriebliche Gesundheit erleichtert werde, aber dadurch sei „per se kein strategischer BGM-Ansatz und keine inhaltliche Verbesserung in Sicht“. Sein Wunsch an die Krankenkassen lautet daher, auch qualitative und strategische Beratungs- und Interventionsansätze in die Unternehmen zu vermitteln. Also „nicht ein paar Kurse mehr, sondern einen strategischen BGM-Ansatz“, wie es wenige große Krankenkassen mit den etablierten BGM-Dienstleistern bereits umsetzten.
Einen anderen Aspekt berücksichtigt das Gesetz ebenso wenig: „Der Fokus liegt auf dem einzelnen Mitarbeiter, die Kompetenz der Organisationsentwicklung wird komplett ausgeklammert.“ Das merkt Ge.on-Geschäftsführer Burkhard Knoch an, der das Gesetz trotzdem positiv beurteilt. Ein interessanter Ansatz sei beispielsweise die Kombination von BGM und Arbeitsschutz. Schon jetzt kombiniere sein Unternehmen im Rahmen der interdisziplinären Betreuung die klassischen, arbeitsmedizinischen Angebote mit Methoden und Instrumenten des Betrieblichen Gesundheitsmanagements.
Wie kommt gesundes Arbeiten in KMU?
Ob das Präventionsgesetz in KMU also den großen Schub für betriebliche Gesundheit bringt, lässt sich noch nicht vorhersagen. Aber trotzdem können die Dienstleister selbst an einer Schraube drehen, wünscht sich Stephan Burger, Medical Contact: Natürlich sei es zunächst nicht befriedigend, wenn Arbeitgeber nur ins BGF einsteigen, sich auf gesunde Ernährung beschränken und „Äpfel für jeden“ aufstellen. Doch für KMU sei es sehr schwierig, einen Ansatzpunkt zu finden, auch „weil ihnen gleich ein Riesenprogramm präsentiert wird, das Entscheider abschreckt“. Es fehle an Ideen, wie ein leichter Einstieg in das Thema realisiert werden könne. Burger verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt: Was nütze das beste Präventionsgesetz, wenn Maßnahmen des BGM und der BGF weitgehend von den medizinischen Dienstleistungen abgeschnitten sind? „Wir haben zwar eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, jedoch leidet es unter bekannten Schnittstellenproblemen.“
Neben dem „Riesenaufwand“, den kleine Betriebe scheuen, müssen sie natürlich auch auf die Höhe der Investition schauen. Nach wie vor gehen viele KMU davon aus, dass Gesundheitsmanagement nur Geld kostet und wenig greifbaren Nutzen hat. „Das stimmt, allerdings nur dann, wenn es sich um Einzelaktionen handelt.“ Gerd Scheuplein, Barmer GEK, rät deshalb zu einem Konzept, „das alle miteinbezieht – vom Management über die Personalabteilung und falls vorhanden bis zur Kantine“. Hilfreich dabei seien passgenaue Modulsysteme, wie sie die Barmer GEK anbiete.
![]() | Das Präventionsgesetz bietet verbesserte Chancen für BGM allgemein, aber auch für kleine Unternehmen, die noch nicht den Mut, die Erfahrungen oder die finanziellen Möglichkeiten haben, damit zu beginnen. |
![]() | Jede Führungskraft findet sich gelegentlich in Situationen wieder, in denen sie an die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrung stößt oder in Rollenkollisionen gerät. Individualberatungen sind hier ein geeignetes Mittel. |
Kooperation als Königsweg
Ein anderer Weg zur betrieblichen Gesundheit in kleinen Unternehmen lässt sich mit dem Begriff „Kooperation“ beschreiben. Dies haben schon einige Landkreise verstanden und helfen nach, indem sie auf Vernetzung setzen. So gibt es in Garmisch-Partenkirchen eine Kreisentwicklungsgesellschaft, die kleine und mittelständische Unternehmen sowie öffentliche Einrichtungen für das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement sensibilisiert und ihnen eine gemeinsame digitale Gesundheitsplattform zur Verfügung stellt. Vitaliberty-Geschäftsführer Harald Holzer: „Die Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft und kommunaler Standortförderung haben verstanden, dass gesunde und leistungsfähige Mitarbeiter nicht nur ein Erfolgsfaktor für Unternehmen, sondern auch ein strategischer Standortvorteil für ganze Regionen sein können.“ Die digitale Plattform führe zu einer Win-win-Situation: Die Gesundheitsdienstleister der Region könnten ihre Angebote in einem Umfeld präsentieren, in dem BGM kein Fremdwort mehr ist; die Unternehmen selbst könnten ihren Mitarbeitern ein Gesundheitsangebot bieten, wie es sonst oft nur in großen Konzernen üblich ist.
Dass kleine Unternehmen für BGM zu begeistern sind, wenn auch externe betriebliche Partner wie zum Beispiel die IHK mit im Boot sitzen, erlebt auch das Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung. Der Zusammenschluss von Wissenschaftlern der Universitäten Konstanz und Karlsruhe (KIT), der auf Analysen und Evaluationen im BGM spezialisiert ist, plant derzeit eine Zusammenarbeit mit ausgewählten IHK und Landkreisen, um flächendeckend Gesundheitserhebungen in Betrieben zu ermöglichen. Dieses Vorhaben hat drei Ziele: Die teilnehmenden Unternehmen erhalten einen Ergebnisbericht über ihre gesundheitliche Situation, die Mitarbeiter einen persönlichen Health-Report und der Kammerbezirk oder Landkreis profitiert von einer Art „BGM-Landkarte“. Außerdem bekommen alle Beteiligten, so Utz Niklas Walter, konkrete Handlungsempfehlungen zu Themen wie der psychischen Gefährdungsbeurteilung oder betrieblichen Gesundheitskommunikation.
E-Health: Chancen und Grenzen
Die Digitalisierung hat das HR-Management schon lange erreicht, deswegen ist es keineswegs verwunderlich, wenn auch das BGM mit digitalen Tools arbeitet: Zum einen online mit Gesundheitsplattformen, zum anderen mit tragbaren Sensoren und Gesundheits-Apps. Utz Niklas Walter, Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung: „Wir sehen hier viele Chancen, aber auch Risiken für die Betriebliche Gesundheitsförderung.“ Leider stehe der wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweis der meisten Tools noch aus.
Ohne Zweifel springen Männer, Führungskräfte und junge Mitarbeiter, die gegenüber klassischen Methoden weniger aufgeschlossen sind, auf Selftracking-Instrumente an. Doch gilt das für alle Mitarbeitergruppen? Und wo liegt der Gewinn des Einsatzes? Zum einen sollte jeder Mitarbeiter selbst entscheiden, ob ihm die digitalen Helfer guttun, mit denen er seinen Blutdruck messen oder seine täglichen Schritte zählen kann. Diese Empfehlung spricht Harald Holzer, vitaliberty, aus. Im nächsten Schritt sei es jedoch wichtig, „den Nutzer mit seinen gemessenen Daten nicht alleinzulassen“. Denn das kann er auch bei Anbietern wie Apple haben. „Sinnvoll wird der Einsatz erst dann, wenn wir Mitarbeitern Maßnahmen vorschlagen, mit denen sie ihre Gesundheitswerte verbessern können.“ Idealerweise sollte die Nutzung des selbstmessenden Instruments mit einem digitalen oder persönlichen Coach verzahnt werden, der regelmäßig Feedback gibt oder konkrete Unterstützung anbietet. Dieser Haltung schließt sich Kai Rappenecker von Motio an. Ideal wäre es aus seiner Sicht, wenn die Daten auch von Ärzten genutzt werden könnten, doch hier fehle es noch an rechtlichen Voraussetzungen. Letztlich seien die Selftracking-Instrumente „nur ein weiterer sinnvoller Baustein von vielen, der hilft, Zielgruppen zu erschließen, und motivierend oder leistungsfördernd wirken kann“.
![]() | Nicht mehr allein Kostengründe spielen für die Implementierung von BGM eine Rolle, sondern auch Aspekte wie die Zunahme der Arbeitgeberattraktivität, die sich auch valide messen lässt. |
Persönliche Fitness versus strukturelle Fragen
Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber den digitalen Methoden vertritt keiner der Experten. Allerdings äußern einige ernstzunehmende Einschränkungen und dämpfen die Erwartungen an die digitalen Helfer. „Die Gesundheitswahrnehmung des Einzelnen kann damit sicherlich geschärft werden, jedoch sollten andere Faktoren in Unternehmen den Vorzug bekommen, wie ein gesundes Betriebsklima, eine gute Unternehmenskultur und andere weiche Faktoren“, argumentiert Gerd Scheuplein, Barmer GEK.
Als „didaktischen Trojaner“ bezeichnet Burkhard Knoch, ias-Gruppe/Ge.on, die digitalen Geräte, die Mitarbeitern erlauben, Gesundheitsdaten selbst zu erheben. Sie könnten für den Einzelnen sinnvoll sein, wenn sie seine Veränderungsbereitschaft stabilisierten. Doch es bestehe die Gefahr, dass „die individuelle Datenfokussierung die wesentlichen persönlichen und strukturellen Fragen, die nur über Kommunikation zu lösen sind, überdecken“. Für Knoch kündigt sich ein möglicher Paradigmenwechsel an: Dass „die Nachhaltigkeit einer Gesundheitsmaßnahme an die digitale Welt geknüpft wird und nicht mehr durch Kommunikation aufrechterhalten wird“, sei durchaus bedenklich. Weitere Einwände formuliert Martin Schirrmacher, B.A.D. Im betrieblichen Kontext sollte beachtet werden, dass derjenige, der nicht wie die Mehrheit der Kollegen Schritte zählt, egal aus welchen Gründen, nicht negativ bewertet werden dürfe. Auch fragt er sich, ob „die Motivationskurven der Teilnehmer langfristige Verhaltensänderungen zeigen“ oder ob nach anfänglicher Euphorie das Engagement wieder zurückgehe. Da der Einsatz der digitalen Gesundheitsinstrumente eine junge Entwicklung ist, fehlen auch hier empirische Beweise über die Nachhaltigkeit.
Der Anbietermarkt: bunt und unüberschaubar
Vom Physiotherapeuten bis zum Ernährungswissenschaftler bezeichnen sich Dienstleister gerne als BGM-Spezialisten. Das macht es Unternehmen nicht gerade leicht. „Auf Dauer wird es immer wichtiger, zwischen Betrieblicher Gesundheitsförderung und BGM zu differenzieren“, sagt Martin Schirrmacher, B.A.D., und fordert Anbieter auf, eindeutig klarzustellen, ob sie Einzelmaßnahmen anbieten oder Prozesse einführen. So richtig und verständlich die Forderung ist, gibt es aber auch noch eine andere Seite der Medaille. „Wir sollten aus Betrieblichem Gesundheitsmanagement keine Spezialwissenschaft machen“, wünscht sich Stephan Burger, Medical Contact. „Wir sprechen über die Gesundheit von Menschen im Kontext der Arbeit, dabei sollten wir auch das Setting Betrieb stärker nutzen, um Sekundärprävention wie Vorsorgeuntersuchungen zu betreiben.“ Denn am Arbeitsplatz erreichten insbesondere auch die Krankenkassen die Menschen, die üblicherweise nicht zum Arzt gehen. Dies erhöhe die Chance, Krankheiten zu verhindern. Vermeidbare Produktivitätsverluste durch hohe Fehlzeiten und eingeschränkte Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz könnten dadurch zum Nutzen aller deutlich vermindert werden.
Zwischen diesen beiden Polen – dem strukturierten BGM, das auch Organisationsentwicklung und Unternehmenskultur einschließt, und der weniger komplexen Gesundheitsförderung plus Prävention – bewegen sich Ansätze und Angebote. Auch wenn Arbeitgeber sich zunächst noch nicht entscheiden können, wie und ob sie Gesundheit fördern wollen, so ist ihnen doch zu empfehlen, die betriebliche Gesundheit auf ihre Agenda setzen. Es sei denn, sie wollen höhere Fehlzeiten und Arbeitskraftengpässe bewusst in Kauf nehmen.
Autorin
Christiane Siemann, freie Journalistin, Bad Tölz
- Prävention geht alle an
- Die Zeit läuft
- Katastrophen vermeiden
- Zielgruppen aktivieren
- Wenn Führungskräfte abwehren
- Gesundungsprozess aktiv fördern
- „Suchtprävention ist ein Gemeinschaftswerk“
- Akzeptanz und Wirkung
- Stressoren und Ressourcen erfassen
- Schritt für Schritt
- Mitarbeiter stärken ihre Resilienz
- Gesundheit messen und optimieren
- Unterforderung am Arbeitsplatz