Ausgabe 9, Special Betriebliches Gesundheitsmanagement - 2015
Gesundungsprozess aktiv fördern

Seit 2004 sind Arbeitgeber verpflichtet, länger erkrankten Beschäftigten ein Betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten, um deren Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Damit die Reintegrierung erfolgreich verläuft, sind insbesondere bei psychisch Erkrankten wichtige Aspekte zu beachten.
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) ist notwendig, um verbunden mit einer zukunftsorientierten Personalpolitik den aktuellen Herausforderungen durch demografischen Wandel, längere Lebensarbeitszeiten, alternde Belegschaften und nicht zuletzt der Zunahme psychischer Erkrankungen zu begegnen. Dabei geht es nicht nur um längeres, sondern auch um flexibleres und gesünderes Arbeiten. Gesetzlich festgelegt ist, dass ein Arbeitgeber allen Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, ein BEM anzubieten hat. Ergänzend zum Gesetzestext hat die Rechtsprechung die kündigungsschutzrechtliche Bedeutung des BEM herausgearbeitet. Demnach ist ihre Durchführung zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung. Doch die Verpflichtung des Arbeitgebers, ein BEM durchzuführen, stellt eine Konkretisierung des dem Kündigungsschutzes innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. BEM hat das Ziel, Maßnahmen zu identifizieren, die eine Kündigung verhindern. Dies kann etwa durch die technische oder organisatorische Umgestaltung des Arbeitsplatzes geschehen oder durch eine stufenweise Wiedereingliederung. Verzichtet ein Arbeitgeber hierauf, kommt es zur Beweislastumkehr, die ein Risiko für die Personalabteilungen darstellen kann.
Krankheitsverlauf
Wird ein Leistungsabfall oder eine soziale Selbstisolation eines Mitarbeiters beobachtet, die Vorboten einer psychischen Erkrankung sein können, sollte dieser zu einer Therapie ermutigt werden. Die Rolle der Personalabteilung und der Führungskraft ist hierbei, den Mitarbeiter bestmöglich zu unterstützen und ihm eine Rückkehr in den Betrieb jederzeit offenzuhalten. Je mehr Einfühlungsvermögen die Personalabteilung bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zeigt, desto größer ist die Vertrauensbasis seitens des Mitarbeiters und damit sind auch die Reintegrationschancen größer.
In der Regel kommt es nicht sofort nach dem Auftreten einer psychischen Krankheit zur heilenden Therapie. Ursache hierfür ist, dass den Betroffenen oft das Bewusstsein fehlt, psychisch krank zu sein und Hilfe zu brauchen. Sie versuchen oftmals, ihr gewohntes Leben weiterzuleben, meist unter sehr großen Anstrengungen. Erst wenn sich die Lage zugespitzt hat, kommt es zur Einsicht und die Betroffenen suchen nach Hilfe. Die psychische Erkrankung selbst befindet sich zum Zeitpunkt des Erstaufnahmegesprächs zwischen dem Therapeuten, in der Regel dem behandelnen Stationsarzt, und dem Betroffenen meist auf dem Höhepunkt, der Kranke fühlt sich auf dem Tiefpunkt und oftmals am Ende seiner Kräfte. In dieser Situation des psychisch erkrankten Mitarbeiters sollte die Personalabteilung nicht reflexartig mit einer personenbedingten beziehungsweise krankheitsbedingten Kündigung reagieren oder mit einer Trennung per Aufhebungsvertrag. Ein solches Phlegma wäre fatal. Die Personalabteilung muss sich als Förderer der betrieblichen Gesundheit im Unternehmen positionieren und dabei das Wohl der Mitarbeiter im Auge behalten. Hiervon sollte sie sich auch von Widerständen der Führungskräfte nicht abbringen lassen, da diese oftmals den einfachsten Weg wählen möchten und das „schwache Glied in der Kette“ geräuschlos aus dem Unternehmen entfernen möchten.
Therapie
Mit intensiver teil- oder vollstationärer Behandlung kommt es langsam aber stetig zur Remission der Symptome und der Erkrankung. Die Personalabteilung sollte sich in dieser Phase zurückhalten, denn hier ist in erster Linie das Behandler-Team gefragt. Je nach Schwere der Erkrankung remittiert diese in einem Zeitraum von circa drei bis sechs Monaten. Anschließend sollte die Therapie jedoch nicht abrupt enden, sondern ambulant weitergeführt werden. Im Idealfall hält der Patient hierbei weiterhin den Kontakt zum Behandler-Team und dem Bezugstherapeuten aufrecht, außerdem kann er an ausgewählten Angeboten der Ambulanz weiterhin teilnehmen. Erfolgte die Behandlung vollstationär, kann der Patient jetzt wieder in sein häusliches Umfeld zurückkehren; dies ist ein wichtiger Schritt für die Genesung und den Beginn eines geregelten Lebens nach der einschneidenden Erfahrung einer Therapie. Innerhalb dieser Phase, wenn nicht bereits vorher von Seiten des Unternehmens Kontakt gesucht wurde, sollte der Betroffene die Personalabteilung des bisherigen Arbeitgebers kontaktieren.
Vorgehen von HR
Im ersten Schritt ist von der Personalabteilung zu prüfen, ob der Mitarbeiter innerhalb der letzten zwölf Monate ununterbrochen oder wiederholt mehr als sechs Wochen krankheitsbedingt fehlte. Ist dies der Fall, liegt die Voraussetzung für die Einleitung eines BEM vor, das individuell auf die Bedürfnisse des Betroffenen angepasst, mit ihm besprochen, vereinbart und eingeleitet wird. Entscheidend hierbei ist, dass der Mitarbeiter bei jedem Verfahrensschritt beteiligt werden sollte. Er ist nicht nur regelmäßig über den aktuellen Stand zu informieren, sondern es dürfen auch ohne sein Wissen keine Maßnahmen eingeleitet werden. Auch die Einbeziehung weiterer Stellen und Personen bedarf seiner Zustimmung. Ziel ist der informierte und motivierte Rehabilitand, der eine eigene Entscheidungskompetenz und Selbstverantwortung entwickelt. Für ein erfolgreiches BEM lautet die Devise: „Alles mit, aber nichts ohne den Beschäftigten“, so die Definition der Deutschen Rentenversicherung. Das Einverständnis des Betroffenen zum BEM sollte schriftlich dokumentiert werden. Neben internen Parteien können auch externe Dritte wie die DRV, Krankenkassen oder die zuständige Agentur für Arbeit am BEM beteiligt werden. In der Praxis wird diese Option nur leider zu selten genutzt. Dabei kann die Zusammenarbeit zum Beispiel mit den Arbeitsagenturen aufgrund ihres Sachverstandes und dem Zugang zu zusätzlichen Instrumenten durchaus sinnvoll sein. Als geeignete Instrumente bieten sich eine Umschulung oder eine Maßnahme bei einem Träger.
Voraussetzung Rückkehrwille
Beim BEM ist von Anfang an von zentraler Bedeutung, dass der Betroffene von sich aus ins Berufsleben zurückkehren will. Möchte er aus unterschiedlichen Motiven wie Angst, Unlust, berufliche Orientierungslosigkeit oder Risikoaversion in der Opfer- und Krankenrolle verbleiben, wird die berufliche Rehabilitation scheitern. Führungskräfte und Personaler sollten bei der Rückkehr die anfängliche Verunsicherung des psychisch erkrankten Mitarbeiters und eine entsprechende Abwehrhaltung gegenüber zu großen Belastungen nicht mit einer grundsätzlichen fehlenden Bereitschaft zur beruflichen Reintegration verwechseln. Hierbei ist eine differenzierte Beurteilung des Einzelfalls gefragt. Kehrt der Mitarbeiter nach Genesung in das Unternehmen zurück, ist er in der Regel zunächst stark verunsichert. Commitment, Engagement und Motivation werden in der Folge deutlich steigen. Dies und der Kostenaspekt können große Pluspunkte für das Unternehmen werden.
Schlüsselrolle Führungskraft
Bei leichteren psychischen Erkrankungen kann der Betroffene meist direkt wieder ins reguläre Arbeitsleben einsteigen. Bei schwereren Erkrankungen muss dies schrittweise erfolgen und der Betroffene Stück für Stück ans Arbeitsleben herangeführt werden. Bei einer vorsichtigen Integrationsplanung kann der Betroffene mit dem sogenannten Hamburger Modell (stufenweise und schonend in Absprache mit dem behandelnden Arzt und dem Betriebsarzt) wieder in den Betrieb reintegriert werden. Beim Integrationsprozess sollte die Personalabteilung grundsätzlich darauf achten, umfangreich, nachvollziehbar und transparent zu kommunizieren. Übertriebene Vorsicht oder protektionierendes Verhalten sollten aber vermieden werden. Auch bei anfänglichen Problemen sollten Ruhe und Gelassenheit bewahrt werden, anstatt in Aktionismus (wie der Androhung einer Probezeitkündigung oder eine rasche Versetzung) zu verfallen. Der Mitarbeiter sollte eine faire Chance erhalten, sein Aufgabengebiet zu üblichen Bedingungen auszuüben, und sich dabei weder übernoch unterfordern. Schlüsselrollen kommen der Führungskraft und den Kollegen zu, denn sie müssen Fingerspitzengefühl zeigen, Leistungsspitzen und -tiefs von ihrem Kollegen abzufedern. Ferner sollte kein Neid entstehen, wenn der zu rehabilitierende Kollege eher Feierabend macht oder nur ein abgespecktes Aufgabenfeld bearbeitet. Der behandelnde Arzt kann bei Bedarf eine beratende Funktion übernehmen, um das Zusammenspiel weiter zu harmonisieren. In diesem Fall muss dieser allerdings von der Schweigepflicht entbunden werden.
Abbildung
Handlungsmöglichkeiten der unterforderten Beschäftigten

Die Dauer der betrieblichen Eingliederung unterscheidet sich je nach Schweregrad der psychischen Erkrankung.
Fallbeispiele
In einem konkreten Fall in der Luftfahrtindustrie wurde mit einem Flugzeuglackierer ein BEM durchgeführt. Statt der körperlich sehr schweren Arbeit in der Montagehalle, bei der er viel über Kopf an den Tragflächen und kniend im Innenraum arbeiten musste, wollte der Mitarbeiter gern in der Qualitätskontrolle eingesetzt werden. Dies wurde von HR abgelehnt und der Betroffene scheiterte. Bei einem anderen Praxisbeispiel klagte ein Vertriebsingenieur eines Automobilherstellers über zunehmende Arbeitsüberlastung. Er reagierte mit häufigen Zusammenbrüchen und isolierte sich zunehmend von seinem Umfeld. Nach langer Krankheit kehrte er in den Betrieb zurück. Die zuständige Führungskraft – gemeinsam mit Personalabteilung, Betriebsrat und Werksarzt – sorgten dafür, dass Teile des Aufgabengebietes des Mitarbeiters an externe Dienstleister outgesourct wurden. Die Personalabteilung hielt den BEM-Prozess konsequent nach, um das gewünschte Ergebnis sicherzustellen. Durch die spürbare Entlastung war der Mitarbeiter dem Arbeitspensum wieder gewachsen, er konnte vollständig und erfolgreich rehabilitiert werden.
In einem ähnlichen Fall im selben Unternehmen wurde vollkommen anders gehandelt. Aufgrund von Arbeitsüberlastung fiel eine Personalreferentin monatelang krank aus. Als sie in den Betrieb zurückkehrte, wurden zu ihrer Verwunderung keine Veränderungen am Arbeitsplatz oder am Arbeitsablauf vorgenommen. Zum Glück für beide Seiten schaffte sie es. Allerdings birgt diese Vorgehensweise viele Risiken. Zum einen kann eine derart unsensible Rehabilitation leicht ins Auge gehen. Zum anderen drohen wegen der Ungleichbehandlung der unterschiedlichen Abteilungen innerbetriebliche Konflikte und Motivationsdämpfer.
Von der Erprobung zur Integration
Verläuft die Erprobungsphase jedoch ohne nennenswerte Probleme und Einschränkungen des Betroffenen, kann in einem Review-Prozess in Zusammenarbeit mit der Führungskraft und der Personalabteilung die weitere Integrationsplanung begonnen werden. Wichtig hierbei ist, dass der Betroffene aus der geschützten Situation während der Erprobungsphase in den gewöhnlichen Arbeitsprozess integriert wird. Das BEM endet erst, wenn eine für den Betroffenen zufriedenstellende Lösung gefunden wurde, das heißt, wenn die Maßnahmen zu einer nachhaltigen Verbesserung des Gesundheitszustands und der Arbeitszufriedenheit geführt haben.
Autor
Bastian Jacobsen, Absolvent im Master Management & Human Resources, M.A., Leuphana Universität Lüneburg,
bastian.jacobsen@gmx.de
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