Ausgabe 9, Special Betriebliches Gesundheitsmanagement - 2015
Zielgruppen aktivieren

Viele Unternehmen, die ein Betriebliches Gesundheitsmanagement installiert haben, fragen sich, ob sie eigentlich diejenigen erreichen, die erreicht werden sollen. Und falls nicht, wie sie problematische Zielgruppen motivieren. Der Technologiekonzern Dräger macht gute Erfahrungen mit speziell zugeschnittenen Programmen.
Was passiert, wenn Unternehmen Gesundheitstage durchführen und am Werkstor Äpfel verteilen? Es kommen vor allem diejenigen, die ohnehin schon aktiv auf ihre Gesundheit achten und ein Grundinteresse mitbringen. Viele von ihnen lassen sich hier gern einmal bestätigen, dass ihr Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung gering ist. Damit sollen Gesundheitstage nicht verteufelt werden, im Gegenteil – sie können Aufmerksamkeit für das Thema schaffen und einen ersten Anstoß geben, das eigene Gesundheitsverhalten zu überdenken.
Doch wie motiviert man dauerhaft und erreicht zudem jene, die sich mit dem Thema wenig beschäftigen, die möglicherweise gesundheitlich schon eingeschränkt sind oder für die persönliche Gesundheit ein selbstverständliches Anliegen ist? Dräger, ein international führendes Unternehmen in der Medizin- und Sicherheitstechnikbranche, wählt den Weg der zielgruppenspezifischen Gesundheitsförderung. Der Grundsatz lautet, sich trauen, den allgemeinen Blumenstrauß an Maßnahmen auch mal zu verkleinern und dafür Platz für Interventionen zu schaffen, die dort ankommen, wo der Bedarf tatsächlich groß ist. Einige Beispiele zeigen, wie es gelingen kann, schwer zu erreichende Mitarbeiter anzusprechen.
Azubis erreichen
Das Gesundheitsförderungsprogramm „Fit for future“ richtet sich ausschließlich an den Nachwuchs. Warum stehen gerade Auszubildende im Fokus? Nach der Schulzeit nimmt das Bewegungsverhalten Jugendlicher nachweislich ab. Gestern gab es noch dreimal die Woche Schulsport und zusätzlich in der Freizeit Fußball, Handball oder Volleyball. Mit dem Beginn der Ausbildung findet oft ein Bruch statt: raus aus der Schule, Umzug in eine neue Stadt und rein ins Berufsleben. Da steht die Suche nach einem geeigneten Sportverein selten oben auf der Prioritätenliste. Plötzlich sitzen Azubis täglich mehrere Stunden am Computer. Nicht selten wird die Ausbildung schon mit gesundheitlichen Einschränkungen begonnen, Rückenleiden sind dabei besonders häufig. Grund genug für den Lübecker Technologiekonzern diejenigen zu unterstützen, die noch das ganze Berufsleben vor sich haben.
Das Programm selbst besteht aus vier Bausteinen, die fester Bestandteil der je nach Berufsbild zwei- bis dreijährigen Ausbildung sind. Inhalte sind rückengerechtes Arbeiten, Bewegungsmuster und Sport, Ernährung sowie Stressbewältigung und Entspannung. Dabei wird auch das bestehende Angebot wie Betriebssport, Dräger Fitnessclub und das Kursangebot vorgestellt, um an dieser Stelle den Einstieg zu erleichtern, wieder aktiv zu werden. Wichtig ist dabei, die Zielgruppe einzubeziehen – auch deshalb wird das Programm kontinuierlich angepasst und weiterentwickelt. Heute passen die Maßnahmen noch besser als vor vier Jahren zu dem Bedarf und den Bedürfnissen der Azubis. Der Baustein Ernährung umfasst beispielsweise die kritische Kantinenbegehung und ein Einkaufscoaching. Auch das Aufzeigen von Verbraucherfallen, die Fragen nach günstiger und trotzdem guter Ernährun sowie die Unterstützung des Einkaufs durch Apps kommen bei der Zielgruppe gut an. Das Feedback zeigt uns, dass es sich lohnt, schon während der Ausbildung Zeit in Gesundheitsfragen zu investieren, die „Überführung“ in das bestehende Angebot ist dadurch ein Erfolg.
Mitarbeiter mit Risikofaktoren
Einen anderen Zugang wählt das Herz-Kreislauf-Training. Hier werden Beschäftigte angesprochen, bei denen sich Risikofaktoren zeigen, die eine Krankheitsentstehung begünstigen. Wie werden die Kollegen ausfindig gemacht und motiviert? Meist findet die Ansprache individuell durch den Betriebsarzt statt. Bei einer Untersuchung zeigen sich beispielsweise ein erhöhter Blutdruck, erhöhte Blutfett- und Cholesterinwerte, zudem bestehen Übergewicht und/oder Stresssymptome. Sensibilisiert durch den Befund, ist der Moment meist günstig, das Gesundheitsverhalten anzusprechen, für das viele Betroffene an der Stelle große Offenheit zeigen. Haben sich genügend Teilnehmer gefunden, steht zu Beginn des Herz-Kreislauf-Trainings ein Gruppentermin an – gefolgt von einem ausführlichen Gesundheitscheck, bei dem verschiedene Parameter wie Blutdruck, Kraft, Körperumfang und andere aufgenommen werden. Mit dem Trainer werden in einem Einzeltermin ein Trainingsplan festgelegt und individuelle Ziele vereinbart.
Zwölf Wochen lang durchläuft der Teilnehmer das Programm, wird bei Bedarf auch währenddessen unterstützt. Am Ende gibt es einen erneuten Check, um Veränderungen messbar zu machen. Dies motiviert enorm weiterzumachen, denn in fast allen Fällen sind Erfolge sichtbar. Das Training endet mit einem Gruppentermin. Auch hier wird die Zielgruppe bei der Gestaltung miteinbezogen. Da sich die Teilnehmer oft eine Fortsetzung samt Betreuung wünschten, findet seit diesem Jahr erstmals ein Folgeangebot statt, das auch ein Ernährungs- und psychologisches Coaching beinhaltet.
Unsere Erfahrung zeigt: Die Zielgruppe fühlt sich abgeholt. Das Programm ist auch für Nicht-Sportbegeisterte zu bewältigen. Weil man sich mit Gleichgesinnten trifft, ist die Hemmschwelle sehr niedrig. Bestätigt wird der Erfolg auch dadurch, dass einige Teilnehmer schon nach einem Jahr nicht mehr zur Risikogruppe zählen und die Teilnahme an einem erneuten Kurs stolz ablehnen: „Danke für die Einladung, aber ich habe inzwischen 25 kg abgenommen und konnte auch meine Familie begeistern, nun regelmäßig schwimmen zu gehen – meine Werte habe ich im Griff, Sie können mich von der Liste streichen.“
Mitarbeiter in der Produktion
Auch Mitarbeiter der Produktion können eine schwer zu erreichende Zielgruppe sein. Doch auch hier bieten sich geeignete Zugänge und Maßnahmen der Gesundheitsförderung an. Längst ist bekannt, dass einseitige und häufig wiederkehrende Arbeiten zu physischen Beanspruchungen führen können. Der Gesundheitsbericht der kooperierenden Krankenkasse hat den Bedarf bestätigt. Ein Großteil der Ausfallzeit entsteht in Folge von Muskel-Skelett-Erkrankungen. Mit einem Physiotherapeuten hat Dräger 2007 eine arbeitsplatzbezogene Rückenschule eingeführt, die direkt im Arbeitsbereich stattfindet. Zusammen mit den jeweiligen Mitarbeitern wurden die Arbeitsplätze analysiert, die richtige Körperhaltung erlernt und auch theoretisches Wissen um den Bewegungsapparat vermittelt. Seitdem führen Mitarbeiter täglich zehn Minuten lang die erlernten präventiven Rückenübungen durch.
Nach acht Jahren hat sich das Konzept in vielen Produktionsbereichen durchgesetzt, in manchen ist es dagegen eingeschlafen. Beim näheren Hinsehen wurde deutlich, dass es vor allem dort gut läuft, wo sich einzelne Mitarbeiter besonders für das Thema engagieren, die Kollegen motivieren und diese auch täglich anleiten.
Der Gesundheitslotse
So wurde die Idee des Gesundheitslotsen geboren: Multiplikatoren aus den eigenen Reihen werden heute ausgebildet, um unter anderem die täglichen Übungen anzuleiten. In einer Zweitagesschulung wird Wissen aufgebaut; der Schwerpunkt liegt dabei auf der korrekten Durchführung der Übungen und auf der Fragestellung, wie korrigiere ich Kollegen? Wie motiviere ich sie? Was darf ein Teilnehmer mit beispielsweise einer Rückenerkrankung oder Schulterleiden nicht machen? Was gibt es für Alternativen? Darüber hinaus weiß der Gesundheitslotse gut Bescheid, welche Angebote es bei Dräger gibt, und kann hier aktiv die Werbetrommel rühren. Das Konzept ging auf. Seit geraumer Zeit finden sich immer mehr Kollegen, die großes Interesse an diesem Amt haben und die Ausbildung mit Freude absolvieren. Dadurch ist die Erreichbarkeit von Kollegen in der Produktion erheblich gestiegen, die Beteiligung an Angeboten ist messbar größer geworden. Das wäre mit herkömmlicher Kommunikation wie Intranet, E-Mail und Plakataushängen nicht möglich gewesen. Unsere Erfahrung zeigt, dass die direkte Ansprache von Zielgruppen und der Kommunikationsweg erheblichen Einfluss auf die Motivation von Beschäftigten haben, für die eigene Gesundheit aktiv zu werden und BGM-Angebote in Anspruch zu nehmen. Konzeptionell empfiehlt es sich, bei der Entwicklung von Maßnahmen die Zielgruppe unbedingt einbinden, da es die Akzeptanz erheblich steigert.
Autorin
Mascha Maurer, Gesundheitsmanagerin, Drägerwerk AG & Co. KGaA, Lübeck,
mascha.maurer@draeger.com
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