Ausgabe 9, Special Betriebliches Gesundheitsmanagement - 2015
„Suchtprävention ist ein Gemeinschaftswerk“

Beim Düsseldorfer Rheinmetall-Konzern wird das Thema Sucht nicht unter den Tisch gekehrt. Die Sucht- und Sozialberatung ist Teil des ganzheitlichen Gesundheitsmanagements, mit der betroffenen Mitarbeitern vorbeugend und begleitend geholfen wird.
Der Konsum von Suchtmitteln am Arbeitsplatz hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen – mit teils großen Auswirkungen für die Betroffenen und das Unternehmen: Suchtabhängige Menschen sind häufig krank, leiden unter ihrer Suchtabhängigkeit und erbringen nur 75 Prozent ihrer durchschnittlichen Arbeitsleistung. Zu diesem Ergebnis kommt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, die jüngst eine Expertenbefragung durchgeführt hat. Unternehmen tun sich häufig schwer im Umgang mit suchtmittelgefährdeten Mitarbeitern. Vorgesetzte, Personaler und Betriebsräte reagieren mitunter unsicher auf Mitarbeiter, die sich am Arbeitsplatz auffällig im Zusammenhang mit Alkohol oder Tabletten verhalten, krankheitsbedingt ausfallen und verminderte Arbeitsleistungen zeigen. Die natürliche Reaktion der Betroffenen ist, dass sie ihre Probleme verleugnen und alles dafür tun, ihren Suchtmittelmissbrauch zu verheimlichen. Dadurch wird das Problem verschleppt, der Betroffene bekommt die dringend benötigte Hilfe nicht oder zu spät und dem Unternehmen entstehen mitunter hohe betriebswirtschaftliche Kosten.
Im Jahr 2000 setzte die zu Rheinmetall gehörende KSPG-Firmengruppe die Betriebsvereinbarung „Sucht“ auf, die unter anderem das Vorgehen mit Suchterkrankungsfällen bestimmt. „Hilfe anzubieten unter absoluter Schweigepflicht und mit der Sicherheit des Arbeitsplatzes ist unsere Kernbotschaft an die betroffenen Mitarbeiter“, skizziert Wolfgang Tretbar, Vorsitzender des Konzernbetriebsrates der Rheinmetall AG. Mittelfristig soll eine entsprechende Betriebsvereinbarung für die jeweiligen Gesellschaften des Unternehmensbereichs Defence und der Konzern-Holding eingeführt werden. „Eine ‚Aufklärungsinitiative‘ ist sicherlich erforderlich, um auch die Vorgesetzten ‚mitzunehmen‘. Denn die Umsetzung einer solchen Vereinbarung steht und fällt mit den handelnden Personen.“
BGM für 21 000 Mitarbeiter
Die Suchtprävention ist eine der vier tragenden Säulen vom sogenannten „Haus der Gesundheit“. Arbeits- und Gesundheitsschutz, Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und Gesundheitsförderung sind die drei anderen Säulen, von denen das System getragen wird. Die vier Säulen sind miteinander vernetzt. So könne einerseits über Gesundheitsmaßnahmen Stress reduziert und einer Sucht vorgebeugt werden; andererseits wendet sich das Betriebliche Eingliederungsmanagement Suchtkranken zu, um sie bei ihrer Wiedereingliederung zu unterstützen. „Wir nehmen unsere Fürsorgepflicht als Arbeitgeber von weltweit rund 21 000 Mitarbeitern sehr ernst“, bekräftigt Peter-Sebastian Krause, der seit Jahresbeginn 2014 Generalbevollmächtigter der Rheinmetall AG sowie Mitglied des Bereichsvorstands Defence mit der Zuständigkeit für Human Resources ist; seit Juli 2007 ist er zudem als Personalvorstand der in Neckarsulm ansässigen KSPG AG tätig.
Das Suchtpräventionsprogramm beinhaltet auch eine vierwöchige berufsbegleitende Ausbildung der internen Sucht- und Sozialberater, die seit dem Jahr 2000 nach und nach konzernweit eingesetzt wurden. Die Berater, die diese Funktion als Nebentätigkeit ausüben, sind das Bindeglied zwischen den Betroffenen, den Vorgesetzten, der Personalabteilung, sozialen Einrichtungen und Kliniken. Zurzeit sind acht Sucht- und Sozialberater bei der KSPG-Firmengruppe aktiv; 15 befinden sich in der Ausbildung, sodass in jedem Betrieb mindestens ein Sucht- und Sozialberater arbeitet. Das Konzept, Betroffenen als Ratgeber in allen Suchtfragen zur Seite zu stehen, soll in Kürze auch auf die Defence-Sparte übertragen werden.
Suchtberater sind erste Anlaufstelle
Das interne Beratungsangebot soll helfen, der Suchterkrankung vorzubeugen beziehungsweise diese zu bewältigen: Wenn ein direkt Betroffener einen der Suchtberater aufsucht, nutzt er die Chance, den Ausstieg aus einer als ausweglos empfundenen Situation zu finden, anstatt in der Suchterkrankung eine vermeintliche Lösung zu suchen. Da die Suchtberater auch im Betrieb arbeiten, kennen sich beide Seiten und haben bereits Vertrauen gefasst. Bei Bedarf können sich die Betroffenen schnelle Hilfe holen. Personalvorstand Peter-Sebastian Krause: „Die internen Berater sind nicht nur für den Suchtkranken oder -gefährdeten oftmals erste und einzige Anlaufstelle, sondern stehen auch allen Mitarbeitern zur Verfügung, die Sucht – ob Alkoholabhängigkeit, Drogen- oder Spielsucht – in ihrem persönlichen Umfeld, beispielsweise bei Angehörigen, erleben müssen.“ Für die Betroffenen sind die empathischen Berater eine wichtige Vertrauensperson: Sie begleiten die Mitarbeiter zu verschiedenen Anlaufstellen wie Suchtkliniken und Diakonien, bieten moralische Unterstützung und betreuen Betroffene bei der Wiedereingliederung: „Hat der Betroffene nach einer Therapie Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, versuchen wir ihn hier zu unterstützen und nach Lösungen zu suchen“, sagt Sabine Ziegler, die seit 2000 als Sucht- und Sozialberaterin bei der KSPG AG in Neckarsulm arbeitet. Ihr Beratungskollege Josef Trierweiler von der Pierburg GmbH in Neuss, der seit rund 14 Jahren eine Vielzahl suchtabhängiger Mitarbeiter betreut und auf dem Weg zur Entwöhnung begleitet hat, gibt den Betroffenen von Anfang an das Signal, dass die Angelegenheit absolut vertraulich behandelt wird.
Guter Draht zu Suchtkliniken
Auch für den langjährigen Mitarbeiter Hannes Frieddel (Name von der Redaktion geändert) legte das Vertrauensverhältnis die Basis, sich helfen zu lassen. Im Frühjahr 2013 wandte er sich an Josef Trierweiler, als er aus der Suchtspirale selbst nicht mehr herauskam. Bei dem Endfünfziger kam die Alkoholsucht nicht von einem Tag auf den anderen, sondern entwickelte sich schleichend über einen längeren Zeitraum hinweg. Auslöser war der plötzliche Tod seiner Lebensgefährtin nach einem Verkehrsunfall vor vielen Jahren, den er als Beifahrer überlebte. Hinzu kam, dass sich der leitende Angestellte beruflich über viele Jahre stark unter Druck setzte. Trotz des regelmäßigen Alkoholkonsums verharmloste er das Problem vor sich und anderen. Schließlich „funktionierte“ er nach außen hin, und die Droge half ihm, negative Gefühle „herunterzuspülen“. Doch der Konsum zeigte gesundheitliche und psychosoziale Folgen.
Motivierende Gespräche mit Josef Trierweiler brachten ihn dazu, sich dem Suchtproblem zu stellen. „Die Einsicht, wirklich aufzuhören und eine Therapie zu machen, muss von den Betroffenen selbst kommen, denn die Entwöhnungstherapie ist ein langer, dafür aber sehr wirksamer Prozess“, weiß der Sucht- und Sozialberater aus Erfahrung. Nach erfolgter Entgiftung konnte er dem Betroffenen kurzfristig einen Platz für eine Langzeittherapie vermitteln.
„Falsch verstandene Rücksichtnahme“
Wichtig ist, dass Kollegen oder Vorgesetzte in einem möglichst frühen Stadium den Verdacht auf eine Suchterkrankung ansprechen. In vielen Fällen könnte sich eine mehrmonatige Langzeittherapie vermeiden lassen. Wer wissentlich den Alkoholkonsum eines Mitarbeiters toleriert, vernachlässigt bewusst oder unbewusst seine Fürsorgepflicht. Personalvorstand Krause: „Falsch verstandene Rücksichtnahme ist an dieser Stelle fatal, weil sie dem Betroffenen erlaubt, dem Problem auszuweichen.“ Deshalb sei es von entscheidender Bedeutung, dass vor allem die Führungskräfte, die typischerweise zuerst Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit Sucht wahrnehmen, wissen, wie man darauf richtig reagiert.
Zum Thema Co-Abhängigkeit und Prävention wurden an allen KSPG-Standorten bisher rund 300 Mitarbeiter und rund 170 Vorgesetzte in sogenannten Lernstätten geschult. „Wir wollen insbesondere die Führungskräfte in die Lage versetzen, offen mit dem Thema umzugehen und es nicht zu tabuisieren“, so Sonja Gronauer, Personalleiterin der zur KSPG-Gruppe gehörende Pierburg GmbH im Neusser Werk Niederrhein. Wie Vorgesetzte und Mitarbeiter im Falle eines Verdachts auf Abhängigkeit mit dem Betroffenen umgehen sollen, welche Schritte eingeleitet werden müssen, um ihm aus seiner abhängigen Situation herauszuhelfen, sind wichtige Schulungsthemen. Die Schulungen hätten verdeutlicht, wie wichtig die Sensibilisierung der Führungskräfte für die Suchtproblematik ist. Auf gute Resonanz stieß, dass die Schulungen nicht auf Suchterkrankung beschränkt wurden, sondern auch die Felder „Umgang mit Konflikten“, „Work-Life-Balance“ und „Burn-out“ umfassten. „Darüber hinaus hat die Schulung unseren Führungskräften auch erlaubt, eine Einschätzung der sie selbst treffenden Gesundheitsrisiken vorzunehmen“, betont KSPG-Personalvorstand Krause. Viele schwierige Lebenssituationen entstünden außerhalb der Firma und des Arbeitsplatzes im privaten Umfeld, würden aber mit zur Arbeit gebracht. Wenn dann das Arbeitsumfeld zusätzlich als belastend empfunden werde, könne dies eine an sich schon schwierige Situation weiter verschärfen. Die Gestaltung eines positiven und gesundheitsgerechten Arbeitsumfeldes, gepaart mit den Hilfsangeboten für suchtkranke und -gefährdete Mitarbeiter könne dazu beitragen, der Suchterkrankung vorzubeugen beziehungsweise ihr entgegenzuwirken.
Suchtabhängigkeiten, neben der Alkohol- und Medikamentensucht zum Beispiel auch die Spiel- und Internetsucht, treten in allen sozialen Schichten und Berufsgruppen auf – vom Büroangestellten über den Schichtarbeiter und die Führungskraft bis hin zu jungen Menschen in der Ausbildung. So wird beim Düsseldorfer Konzern auch darauf Wert gelegt, die Auszubildenden über das Thema Sucht aufzuklären. Sabine Ziegler, KSPG AG in Neckarsulm, organisiert mit ihrem fünfköpfigen Projektteam für die Auszubildenden an den KSPG-Standorten zweitägige Präventionsschulungen mit dem Besuch einer Suchtklinik. Zur Weiterentwicklung des Suchtpräventionskonzeptes treffen sich die Sucht- und Sozialberater aller KSPG-Gesellschaften einmal im Jahr. Im Fokus stehen insbesondere werksübergreifende Probleme, für die gemeinsame Lösungsstrategien erarbeitet werden. Hannes Frieddel, der nach erfolgreicher Langzeittherapie nun bereits seit fast zwei Jahren „trocken“ ist, freut sich über jeden Tag, an dem er ohne Alkohol auskommt. Er ist achtsamer geworden und schaut auch sehr genau darauf, dass er sich beruflich und privat nicht zu viel zumutet: „Ich habe noch viel vor in meinem Leben und freue mich darauf, Neues anzupacken.“
Autorin
Annette Neumann, freie Journalistin, Berlin
- Prävention geht alle an
- Die Zeit läuft
- Katastrophen vermeiden
- Zielgruppen aktivieren
- Wenn Führungskräfte abwehren
- Gesundungsprozess aktiv fördern
- „Suchtprävention ist ein Gemeinschaftswerk“
- Akzeptanz und Wirkung
- Stressoren und Ressourcen erfassen
- Schritt für Schritt
- Mitarbeiter stärken ihre Resilienz
- Gesundheit messen und optimieren
- Unterforderung am Arbeitsplatz