Ausgabe 9, Special Betriebliches Gesundheitsmanagement - 2016
Noch viel Luft nach oben

Gesundheits- und Wellbeing-Programme bieten die meisten Unternehmen an – allerdings oft am Bedarf der Mitarbeiter vorbei und daher mit geringer Resonanz. Was Unternehmen nicht wissen und was auf dem Weg zu einer erfolgreichen BGM-Strategie noch zu tun ist, zeigt eine aktuelle Studie.
Vor allem im Kontext demografiebedingt längerer Lebensarbeitszeiten hat das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Neben der Bindung und Gewinnung von Mitarbeitern zielen Unternehmen durch den Auf- und Ausbau ihres Gesundheitsmanagements darauf ab, Fluktuations- und Krankheitsraten zu senken, das Umsatzpotenzial ihrer Mitarbeiter zu steigern und den Marktwert ihres Unternehmens zu erhöhen, wie die Studie „Staying@Work 2015“ von Willis Towers Watson zeigt. Demnach liegt das von Unternehmen erwartete Potenzial bei Umsatzsteigerungen pro Mitarbeiter bei bis zu 50 Prozent sowie bis zu drei Prozent niedrigeren Fluktuationsraten.
Erwartung: Umsatzsteigerung, Senkung der Fluktuationsraten
Obwohl eine solide staatliche Grundsicherung sowie das Fehlen attraktiver steuerlicher Rahmenbedingungen den Ausbau von BGM im Vergleich zu anderen Ländern bislang eher langsam voranschreiten ließen, verfügen viele Unternehmen mittlerweile über ein breites Spektrum an Maßnahmen zur Prävention und Früherkennung von Krankheiten sowie Gesundheitsförderung – Tendenz steigend. Aktuell bieten in Deutschland mehr als 62 Prozent ihren Mitarbeitern Gesundheits- und Wellbeing-Programme an, angefangen von Diätprogrammen und Sportaktivitäten (89 Prozent) über Gesundheitszentren (81 Prozent), Stressbewältigungsprogramme (76 Prozent) und vieles mehr.
Viel hilft nicht viel
Auch für 66 Prozent der Mitarbeiter hat das Thema Gesundheit eine hohe Priorität. Jeder zweite wünscht sich eine aktive Unterstützung seines Arbeitgebers für einen gesünderen Lebensstil. Die Relevanz des Themas scheint allen Beteiligten bewusst zu sein. Auch mangelt es nicht an betrieblichen Angeboten. Umso überraschender ist daher, dass die Teilnahmequoten an Wellbeing- und Gesundheitsprogrammen in Deutschland nur bei 30 Prozent liegen und lediglich 16 Prozent der Mitarbeiter zu einem gesünderen Lebensstil motiviert werden. Im internationalen Vergleich bleibt Deutschland damit deutlich hinter anderen Ländern zurück. Wie es scheint, reicht ein breites Angebot an Maßnahmen mit dem Stempel „Gesundheit“ nicht aus – es kommt auf den richtigen Inhalt an. Viele Unternehmen scheinen jedoch gar nicht so genau zu wissen, was ihre Mitarbeiter stresst und welche BGM-Maßnahmen Abhilfe schaffen können.
Während Arbeitgeber Stressfaktoren vor allem in einer schlechten Work-Life-Balance sehen, belegt dieses Thema bei der Befragung der Arbeitnehmer nur den sechsten Platz. Diese sehen hingegen primär eine unzureichende Personalausstattung als Stressquelle an. Entsprechend beurteilen rund 40 Prozent der Mitarbeiter (europaweit) die BGM-Angebote ihrer Unternehmen als nicht bedarfsgerecht.
Evaluierung? Fehlanzeige!
Dass auf der Basis solcher Fehleinschätzung kaum wirkungsvolle BGM-Programme konzipiert werden können, liegt auf der Hand. Verschärfend kommt hinzu, dass lediglich jedes fünfte Unternehmen über Ansätze einer Messstrategie verfügt oder die Wirkung von BGM-Maßnahmen auf die Produktivität der Mitarbeiter analysiert. Zum Vergleich: Europaweit tun dies 30 Prozent und weltweit rund 50 Prozent der Unternehmen. Kurz: Die meisten Unternehmen können bislang weder den Bedarf für BGM-Maßnahmen noch die Wirkung vorhandener Maßnahmen genau beschreiben.
Dies könnte darin liegen, dass BGM in Deutschland noch im Auf-/Ausbau befindlich ist. Rund zwei Drittel der Unternehmen haben aktuell noch gar keine Gesundheitsstrategie – als Basis für Maßnahmenangebote und jegliche Erfolgsmessung – entwickelt. Schließlich unterliegt die Erhebung und Auswertung personenbezogener (Gesundheits-)Daten engen datenschutz- sowie mitbestimmungsrechtlichen Rahmenbedingungen.
Neuausrichtung geplant
Ausgehend von den bisherigen Erkenntnissen zur Effektivität ihres BGM haben viele Unternehmen ihre Ansätze aktuell auf den Prüfstand gestellt und planen in den nächsten drei Jahren eine grundlegende Neuausrichtung. Als Basis hierfür wäre zunächst – entsprechend den Befragungsergebnissen – eine Überprüfung und Anpassung von Personalplanung, Stellenbeschreibungen, Vergütungsstrategie sowie Führungs- und Unternehmenskultur anzuraten. Damit ließen sich bereits die aus Mitarbeitersicht wichtigsten Stressquellen eingrenzen. Das Gesundheitsmanagement selbst bedarf nach Ansicht der Akteure zunächst der Einführung einer definierten Gesundheitsstrategie, die in die Unternehmensstrategie eingebettet ist, und einer Differenzierung für erfolgskritische Segmente als weitere wichtige Erfolgsfaktoren. Anstelle einer breiten Vielfalt wollen Unternehmen künftig stärker auf eine Bedarfsorientierung ihrer BGM-Programme setzen. Wichtige Informationen dazu können beispielsweise die physische und psychische Belastungsanalyse sowie Mitarbeiterbefragungen, aber auch externe Quellen zu Gesundheitsrisiken liefern.
Drei Viertel der Unternehmen erwarten ferner, dass die Förderung einer betrieblichen Gesundheitskultur künftig die primäre Strategie zur Unterstützung eines gesünderen Lebensstils sein wird. Die Etablierung einer Gesundheitskultur setzt dabei einerseits eine engere Verzahnung von Gesundheitsmanagement und Führung (Stichwort: gesunde Führung) sowie eine effektive Kommunikation voraus.
Im BGM gibt es noch viel zu tun, nämlich klare Ziele zu definieren, Gesundheitsmanagement in der Unternehmenskultur zu verankern, bedarfsorientierte Maßnahmen zu entwickeln, Führungskräfte stärker einzubinden und einen laufenden Dialog mit Mitarbeitern zu initiieren, um einen tragfähigen Rahmen für nachhaltiges Gesundheitsmanagement zu schaffen und die Ergebniswirksamkeit der Maßnahmen messbar zu machen.
Abbildung 1
Verstehen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber?

Ein BGM kann nur dann Wirkung zeigen, wenn es auf den Bedarf der Mitarbeiter abgestimmt ist.
Abbildung 2
Konkrete Ansatzpunkte zur Optimierung

In den nächsten drei Jahren will fast die Hälfte der Unternehmen in Deutschland eine differenzierte BGM-Strategie einführen.
Autorin
Dr. Stefanie Heindl, Senior Consultant Retirement Solutions, Willis Towers Watson, München,
stefanie.heindl@willistowerswatson.com
Die Studie
Die jährliche Studie „Staying@Work“ von Willis Towers Watson untersucht seit fast 20 Jahren die Gesundheits- und Produktivitätsstrategien von Unternehmen weltweit. An der Befragung 2015 nahmen erstmals auch 37 Unternehmen in Deutschland (mit insgesamt mehr als 120000 Mitarbeitern) sowie 2281 Arbeitnehmer teil. Der Studienreport kann online angefragt werden: https://www.willistowerswatson.com/de-DE/insights/2016/06/Staying-at-Work-2015-2016-Studienergebnisse-fur-Deutschland.
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