Ausgabe 9, Special Betriebliches Gesundheitsmanagement - 2016
Mythos oder Realität?

Die Achtsamkeitsbewegung ist ihren Wurzeln aus dem therapeutischen Kontext längst entwachsen und erobert die Unternehmenswelt bis in die obersten Führungsebenen. Eine Studie des Zentrums Fort- und Weiterbildung der Universität Witten/Herdecke beleuchtete, welche Konsequenzen sich für das Führungsverhalten ergeben.
Gesunde Führung soll Wohlbefinden und Widerstandskraft stärken oder zumindest nicht beeinträchtigen. Zudem verspricht gesunde Führung Hochleistungen in Unternehmen zu erzeugen. Gesunde Führung ist demnach in ihrer Wirkung gesund für Mensch und Unternehmen – ungeklärt ist jedoch, unter welchen Bedingungen gesunde Führung entsteht und inwiefern sie bereits jetzt einen festen Bestandteil des gelebten Führungsalltages bildet.
Der vorliegende Beitrag beleuchtet, was gesunde Führung auszeichnet und unter welchen Voraussetzungen sie entsteht. Hierbei stützen wir uns auf die Ergebnisse einer deutschlandweit durchgeführten Führungskräftebefragung des Zentrums Fort- und Weiterbildung der Universität Witten/Herdecke.
Was gesunde Führung auszeichnet
Gesunde Führung fokussiert auf das direkte, personale Führungsverhalten, das durch Führungskräfte praktiziert und gelebt wird – oder eben auch nicht. Dabei zielt gesunde Führung nicht allein auf Mitarbeiterführung ab: Gesunde Führung beginnt bei der eigenen Person in Form der Selbstführung. Die Organisationspsychologen Franziska Franke, Antje Ducki und Jörg Felfe identifizieren mehrere Facetten gesunder Selbst- und Mitarbeiterführung, die gemeinsam gesundheitsförderliche Führung beschreiben:
• Gesundheitsförderliches Führungsverhalten beinhaltet Verhaltensweisen, die darauf abzielen die Arbeitsbedingungen, -organisation und -zeiten für die Mitarbeiter und die eigene Person so zu gestalten, dass Überforderung und Dauerstress vermieden werden.
• Gesundheitsbezogene Achtsamkeit bezieht sich auf die Aufmerksamkeit gegenüber gesundheitsrelevanten Signalen und damit auf das Erkennen von zum Beispiel Stress und Überlastung.
• Der Stellenwert von Gesundheit beschreibt die Wichtigkeit, die Gesundheit im Arbeitsfeld gegenüber anderen Werten, wie zum Beispiel Leistung oder wirtschaftlicher Effizienz, einnimmt. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse der Führungskräftebefragung, dass die Teilnehmer gesunde Führung insbesondere mit Wertschätzung, Selbstführung, Kommunikation und Ganzheitlichkeit in Verbindung bringen (siehe Abbildung 1).
• Wertschätzung zeigt sich laut den Beschreibungen in einem respektvollen Umgang, Rücksichtnahme, Anerkennung und Interesse.
• Selbstführung wird mit Selbstfürsorge, Selbstmanagement, Selbstreflexion und Selbstverantwortung umschrieben und auch mit der eigenen Vorbildwirkung in Verbindung gesetzt.
• Kommunikation spiegelt sich darin, Rückmeldung zu geben und zu nehmen, kritikfähig und konstruktiv zu agieren sowie Transparenz herzustellen.
• Ganzheitlichkeit wird mit einer umfassenden Beachtung von Mitarbeiterinteressen und Unternehmenszielen sowie gesellschaftlichen Folgewirkungen charakterisiert.
• Achtsamkeit wird von den Befragten mit Aufmerksamkeit und Bewusstsein durch ein wachsames Beobachten und Wahrnehmen der eigenen Person sowie der Umgebung beschrieben. Die Beschreibungen gehen damit über Konzepte der gesundheitsförderlichen Führung hinaus und verbinden mitarbeiterorientierte Führung und Selbstführung mit der Gesamtperspektive des Unternehmens. Ein ganzheitliches Verständnis gesunder Führung bedarf somit einer Unternehmensperspektive, die Gesundheit als dynamischen Prozess und nicht als Zustand begreift.
Abbildung 1
Was ist gesunde Führung?

Gesunde Führung wird durch die Führungskräfte gelebt und praktiziert und somit auch durch diese definiert.
Gesunde Führung im aktuellen Führungsgeschehen
In der Studie zeigt sich, dass die befragten Führungskräfte gesundheitsförderliche Führung in der Tendenz bereits praktizieren. Bedeutsame Unterschiede werden jedoch in der Ausprägung der Mitarbeiterführung gegenüber der Selbstführung sichtbar: Die befragten Führungskräfte geben an, dass sie gesundheitsförderliche Führung deutlich stärker in Bezug auf die Mitarbeiterführung als in der Selbstführung zeigen (siehe Abbildung 2). Genauer betrachtet, begründet sich der Unterschied zwischen Mitarbeiter- und Selbstführung insbesondere im Stellenwert, der Gesundheit eingeräumt wird: Während die Führungskräfte der Gesundheit ihrer Mitarbeiter einen hohen Stellenwert zusprechen, liegt der Stellenwert ihrer eigenen Gesundheit allenfalls im Mittelfeld. Insofern gesunde Führung bei der eigenen Person beginnt, liegt hier also deutliches Verbesserungspotenzial vor.
Abbildung 2
Vergleich zwischen Selbst- und Mitarbeiterführung

Die befragten Führungskräfte zeigen gesundheitsförderliche Führung eher gegenüber ihren Mitarbeitern als gegenüber sich selbst.
Voraussetzungen gesunder Führung
Die Studie fragte außerdem nach den Bedingungen, unter denen gesunde Führung entstehen kann. Dabei finden sich zentrale Ansatzpunkte zum einen im Bereich der unternehmensbezogenen Bedingungen und zum anderen auf der Ebene der individuellen Charakteristika. Eine positive Gesundheitskultur erweist sich als besonders relevante unternehmensbezogene Vorbedingung gesunder Führung. Diese zu entwickeln ist allerdings ein längerfristiges Unterfangen, da Unternehmenskultur auf Werten, Überzeugungen und Annahmen basiert, die in einer Organisation geteilt werden. Sie entsteht als Ergebnis von Lernerfahrungen, die in einer Organisation im Laufe der Zeit gesammelt wurden. Neue Lernerfahrungen im Sinne einer Gesundheitskultur können dann entstehen, wenn die strategische Ausrichtung von Unternehmen und das operative Geschehen Gesundheitsförderlichkeit als relevanten Faktor integrieren.
Daneben scheint außerdem die organisationale Unterstützung eine wichtige Vorbedingung gesunder Führung zu sein. Inwiefern Führungskräfte organisationale Unterstützung erleben, hängt wesentlich davon ab, ob Unternehmenspraktiken unbürokratisch gestaltet sind und die Möglichkeit besteht, Prozesse und Praktiken mitzugestalten.
Führungskräfte, die gesunde Führung leben, sind auf der Ebene der individuellen Charakteristika durch Achtsamkeit gekennzeichnet, sie sind also in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken und eine nicht wertende Haltung einzunehmen. Zur Stärkung dieser spezifischen Form der Aufmerksamkeitslenkung haben sich Trainings als effektiv erwiesen und bieten Unternehmen und ihren Führungskräften einen gangbaren Weg zur eher kurzfristigen Umsetzung.
Zuletzt hängt gesunde Führung von der Art der Motivation ab: So zeigen sich positive Effekte intrinsischer Motivation und nachteilige Effekte extrinsischer Motivation. Ob eine Führungskraft intrinsisch oder extrinsisch motiviert ist, Führungsverantwortung zu übernehmen, kann durch geeignete Personalauswahl festgestellt werden. Zudem bietet auch hier die Gestaltung autonomieförderlicher und unterstützender Organisationspraktiken einen weiteren Ansatzpunkt.
Achtsamkeit hilft
Die Ergebnisse der Führungskräftebefragung wurden im März auf der Mindful-Leadership-Konferenz an der Universität Witten/Herdecke mit Vertretern aus der Unternehmenspraxis und Wissenschaftlern diskutiert. Die Teilnehmer konnten die Hauptergebnisse teilen, nämlich dass gesunde Führung eine Form der personalen, direkten Führung beinhaltet, bereits aktuell im Führungsalltag praktiziert wird, in der Selbstführung schwächer ausgeprägt ist als in der Mitarbeiterführung, einen ganzheitlichen Ansatz benötigt und durch Gesundheitskultur und organisationale Unterstützung sowie Achtsamkeit und intrinsische Motivation gefördert werden kann.
Autoren
Dr. Hannah Möltner,Beraterin, IOP Institut für innovative Organisations- & Personalentwicklung, Bochum,
hannah.moeltner@rub.de
Sebastian Benkhofer, Leiter Zentrum Fort- und Weiterbildung der Universität Witten/Herdecke,
sebastian.benkhofer@uni-wh.de
Prof. Dr. Marcel Hülsbeck, Lehrstuhl für Personal und Organisation insbesondere in Familienunternehmen am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke,
marcel.huelsbeck@uni-wh.de
Die Studie
An der Befragung im März 2016 nahmen 211 Führungskräfte teil. Der Anteil weiblicher Führungskräfte betrug 46 Prozent und der Anteil männlicher Führungskräfte 54 Prozent. Die Befragten sind durchschnittlich 44 Jahre alt. 16 Prozent sind Eigentümer, 33 Prozent sind auf der oberen Führungsebene, 31 Prozent auf der mittleren Führungsebene und 18 Prozent auf der unteren Führungsebene verortet. Die Gesamtstudie ist abrufbar unter: www.gesundefuehrung.com
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