
Wer die begehrtesten Talente gewinnen und binden will, kommt mit den üblichen Recruiting-Methoden nicht mehr weit. Langfristige Strategien sind gefragt. Wie man diese entwickelt, haben wir mit Annina Hering (Indeed) und Sibylle Stippler (IW) besprochen.
Personalwirtschaft: Ein Jahr Studienkonzeption, -umsetzung und -auswertung liegen hinter uns. Frau Hering, welchen zentralen Schluss ziehen Sie aus den Befragungsergebnissen?
Annina Hering: Der Bewerbungsprozess ist heute keine Einbahnstraße mehr. Nicht nur der Jobsuchende bewirbt sich – auch die Unternehmen sollten sich stärker bei ihren Wunschkandidaten bewerben. Die Untersuchung zeigt aber deutlich, dass sie an vielen Stellen des Recruiting-Prozesses mutiger und flexibler an ihre Ideen gehen könnten. Trotz aller Debatten um den Fachkräftemangel fehlt es hier teilweise an den Grundlagen.
Welche meinen Sie hier zum Beispiel?
Hering: Benefits, die das Unternehmen zu bieten hat, werden in den Stellenanzeigen oft zu wenig oder gar nicht kommuniziert. Und es wurde deutlich, dass die meisten Unternehmen ihre Zielgruppe kaum kennen und die Jobbeschreibung selten auf deren spezifische Bedürfnisse ausrichten.
Haben Sie einen ähnlichen Eindruck, Frau Stippler?
Sibylle Stippler: Positiv ist, dass viele Unternehmen – bedingt durch Fachkräfteengpässe in zahlreichen Branchen und Regionen – inzwischen anders auf das Thema Personal schauen. Dass gute Personalarbeit zum strategischen Erfolgsfaktor wird, erkennen aber vor allem diejenigen Unternehmen, die bereits deutlich von Engpässen betroffen sind. Gerade kleine Betriebe, die als Arbeitgeber oft nicht bekannt sind, halten mit ihren Stärken und Angeboten noch zu sehr hinter dem Berg. Ihr Ziel sollte es sein, sich sowohl in ihrer Region als auch online als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren. Der Auf- und Ausbau einer Arbeitgebermarke wird immer wichtiger.
Die Studienergebnisse belegen das: Drei Viertel der befragten Unternehmen, die zielgruppenorientiertes Employer Branding betreiben, bewerten es als „gut“ oder „sehr gut“ geeignet für die Gewinnung von Engpasstalenten.
Stippler: Ja, es lohnt sich in der Rekrutierung, und es hat einen weiteren Vorteil: Employer Branding wirkt zugleich positiv auf die Mitarbeiterbindung. Und die ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sehr wichtig. Unternehmen können punkten, wenn sie schon in der Stellenausschreibung vermitteln, warum sich potenzielle Bewerber gerade bei ihnen bewerben sollten – und vor allem, wenn sie ihre Versprechungen dann im Arbeitsalltag auch einlösen.
Ein guter Arbeitgeber zu sein und dies auch nach außen zu kommunizieren, geht Hand in Hand.
Hering: Kommunikation ist ein entscheidender Punkt. Unternehmen müssen dringend stärker kommunizieren, was ihre Benefits sind. Zwar bietet über die Hälfte stark gesuchten Fachkräften zum Beispiel flexible Arbeitszeiten oder monetäre Anreize. Das ist super. Sie erwähnen es aber leider nicht in ihren Stellenanzeigen. Wie sollen die Kandidaten also wissen, dass ein Unternehmen diese Vorzüge bietet?
Hering: Ja, die gibt es. Dass aber 13 Prozent der befragten Unternehmen diese Anreize nur auf Anfrage kommunizieren, ist bei der starken Nachfrage nach Fachkräften überraschend. Immerhin reden wir ja über Engpasstalente, die man kaum noch am Markt bekommt.
Ist radikale Zielgruppenorientierung der einzig passende Schlüssel?
Hering: Unternehmen müssen ihre Wunschkandidaten genau kennenlernen, herausfinden, welche Arbeitsbedingungen und Unternehmenskultur sie schätzen – und dann auch selbstbewusst zeigen, was man zu bieten hat. Sprechen Sie offen über Ihre Benefits als Arbeitgeber? Sind Sie flexibel, wenn es um den Arbeitsort geht? Und wissen Sie eigentlich, wann und wie Ihre Kandidaten nach Jobs suchen? Falls nein: Finden Sie es heraus, und stellen Sie sich darauf ein.
Inwieweit sollten KMU im Recruiting von Engpasstalenten anders vorgehen als Großunternehmen?
Stippler: KMU sollten sich ihre Stärken bewusst machen und sie offensiv in Szene setzen. Eine kollegiale Arbeitsatmosphäre, die Nähe zum Wohnort, große Gestaltungsspielräume im Job oder das Erleben des eigenen Beitrags zum Erfolg des Betriebs: Damit können vor allem kleine Unternehmen punkten. Zwei Wege sind erfahrungsgemäß Erfolg versprechend: einerseits eine starke Arbeitgebermarke in der Region aufzubauen, zum Beispiel durch Sponsoring, Tage der offenen Tür und vor allem durch positive Erfahrungen und Berichte der eigenen Mitarbeiter. Andererseits ist es wichtig, überregional durch Online-Stellenanzeigen präsent zu sein, da es in vielen Berufen regionale Fachkräfteengpässe gibt, die mit entsprechend qualifiziertem Personal aus anderen Regionen Deutschlands gedeckt werden könnten.
Hering: Insgesamt haben KMU Nachholbedarf gegenüber Großunternehmen und müssen vor allem online aufholen. 29 Prozent der KMU nutzen keine kostenpflichtigen Stellenanzeigen oder haben keine eigene Karriereseite. Die Jobsuche findet heute allerdings digital statt – sogar zu über 60 Prozent mobil.
Wer hier nicht aktiv ist, verschenkt Bewerberpotenzial:
Wenn Kandidaten ihren Job im Internet nicht finden, dann gibt es ihn für sie nicht.
Stippler: Im Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) setzen wir auf einen Employer-Branding-Prozess, der auch für Betriebe mit zehn oder zwanzig Mitarbeitern umsetzbar ist. Drei wichtige Punkte daraus: Fragen Sie Ihre Mitarbeiter, warum sie gerne bei Ihnen arbeiten. Definieren Sie Schlüsselpositionen, die schwer zu besetzen sind, und finden Sie heraus, mit welchen Argumenten und über welche Kanäle Sie Menschen mit der gesuchten Qualifikation erreichen können. Und, ganz wichtig: Überarbeiten Sie Ihre Stellenanzeigen und den Karrierebereich Ihrer Webseite.
Welches Ergebnis der Befragung hat Sie besonders überrascht?
Stippler: Da wir vom KOFA jährlich mit rund 5500 Unternehmen und Multiplikatoren aus ganz Deutschland in Kontakt kommen, haben wir vieles schon einmal gesehen und gehört. Trotzdem überrascht mich immer wieder, wie vergleichsweise wenige Unternehmen ihren Personalbedarf strategisch planen. Wer heute schon weiß, wie viele Beschäftigte mit welcher Qualifikation er in einem Jahr – oder gar in drei oder fünf Jahren – braucht, ist klar im Vorteil. Kurzfristige Personalsuchen führen gerade bei den gefragten Engpasstalenten immer weniger zum Erfolg.
Hering: Mich hat positiv überrascht, dass bereits 23 Prozent der befragten Unternehmen Geflüchtete integrieren und qualifizieren und weitere 27 Prozent planen, dies zu tun. Die Beschäftigungsquote in der Gruppe der Geflüchteten wächst, aber hier liegt weiterhin ein sehr großes ungenutztes Potenzial.
Welche Recruiting-Strategie oder -Methode halten Sie für besonders zukunftsweisend?
Hering: Wir beobachten gerade eine spannende gesellschaftliche Entwicklung: Arbeitnehmer räumen den Aspekten „Freizeit“ und „Flexibilität“ immer mehr Priorität ein. Deshalb sind flexible Arbeitszeiten, attraktive Freizeitregelungen und gute zeitliche Planbarkeit im Schichtbetrieb Punkte, die in Stellenausschreibungen genannt werden sollten.
Stippler: Sich für Engpasstalente zu öffnen, die nicht dem Stereotyp der Branche entsprechen, ist auch ein guter Weg: In vielen Branchen könnte allein die vermehrte Beschäftigung von Frauen Fachkräfteengpässen entgegenwirken. Dafür muss allerdings noch mehr getan werden, als nur Rekrutierungsstrategien zu überdenken. Es geht vielmehr um die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigung sowie um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, also um Brot-und-Butter-Personalthemen.
Hering: Es wird für Unternehmen immer wichtiger, neue Arbeitskräftepotenziale zu erschließen. Beim Einsatz von internationalen Fachkräften ist aber noch Luft nach oben. Aktuell werben 26 Prozent der befragten Unternehmen qualifizierte Fachkräfte aus der EU oder Drittstaaten an – mehr als jedes zweite darunter mit Erfolg. Dafür müssen Unternehmen ihre Kommunikation nicht komplett auf Englisch umstellen. Allerdings sollte es die Bereitschaft geben, den Fachkräften einen Sprachkurs zu ermöglichen und ihnen mit Offenheit entgegenzutreten. Schließlich ist deren Investment, das eigene Land zu verlassen, ebenfalls sehr groß.
Apropos Investment: 16 Prozent der befragten Unternehmen haben Standorte oder Niederlassungen an Orte verlegt, wo es gesuchte Engpasszielgruppen gibt – durchaus erfolgreich. Aber nicht jedes Provinzunternehmen kann mal eben in die Großstadt ziehen.
Hering: Das muss es auch nicht. Statt gleich die Umzugskisten zu packen, können Unternehmen Remote-Arbeitsplätze und Homeoffice-Tage einführen oder Plätze in Coworking Spaces buchen. So schafft man erste Abhilfe und testet neue Wege.
An welchen Stellen vermissen Sie bei den befragten Unternehmen Kreativität oder Mut?
Stippler: Es gibt offenbar ein großes Verharrungsvermögen. Was in der Vergangenheit gut geklappt hat, soll auch in Zukunft funktionieren. Und: Man darf nicht vergessen, dass neue Wege der Rekrutierung teils ganz andere Kompetenzen bei Recruitern voraussetzen. Wer bisher hauptsächlich aus einem Stapel Bewerbungen die besten selektiert hat, dem wird es vermutlich nicht leichtfallen, vom einen Tag auf den anderen etwa im Rahmen einer neuen Active-Sourcing-Strategie direkt auf interessante Kandidaten zuzugehen. Hier ist entsprechende Schulung vonnöten.