Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) hat eine erstaunliche Karriere hingelegt. Vor zehn Jahren wurde im Asta-Café oder in der WG-Küche darüber diskutiert, heute in Boardrooms und Fernsehstudios. War es seinerzeit eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Debatte („Wie würden Arbeit und Gesellschaft sich verändern, wenn jeder Mensch dasselbe, überschaubare Grundeinkommen bekäme?“), so hat sie heute stark arbeitsmarktpolitischen und ökonomischen Anstrich („Wie erhalten wir die Kaufkraft und schaffen gesellschaftliche Teilhabe, wenn die Digitalisierung massenhaft Jobs vernichtet?“).
Die Vision der Befürworter bleibt: Jeder Bürger – vom Baby bis zum Greis – erhielte einen monatlichen Fixbetrag (nehmen wir 1000 Euro als Richtschnur), der die nötigsten Bedürfnisse abdeckt und kulturelle sowie soziale Teilhabe ermöglicht. Alle weiteren staatlichen Sozialleistungen würden gestrichen, der Bürokratieapparat massiv verschlankt. Der freie Markt bliebe unberührt. Wer aber Schafe hüten, etwas Gemeinnütziges tun oder die kranke Mutter pflegen will, könnte das tun, ohne finanziell ins Bodenlose zu stürzen. Eine Konsumsteuer würde das komplizierte Einkommensteuersystem ersetzen: Wer mehr konsumiert, zahlt mehr Steuern. Zusätzlich könnten diejenigen Unternehmen mit einer Robotersteuer belastet werden, die besondere Skaleneffekte durch Automatisierung und KI erzielen.
Das Tollste am BGE ist, dass es keine Unterschiede macht. Dass es nicht wertet, nicht urteilt, sondern einfach nur da ist. Und zwar für jeden. Es geht nicht um Umverteilung, sondern um Gleichbehandlung. Keiner bekommt weniger, weil ein anderer mehr bekommt. Denn jeder bekommt ja das Gleiche – bedingungslos. Es genügt, Mensch zu sein. Bürger dieses Landes. Mit dem BGE gäbe es keine Armen, keine Bedürftigen, keinen Sozialtransferneid und auch keine Sozialschmarotzer. Ein Grundeinkommen kann man gar nicht ausnutzen – weil man niemandem etwas nimmt. Wenn es ein BGE gibt, hat es jeder Bürger verdient.
Mit dem BGE würden wir einen Arbeitsbegriff ablösen, in dem nur der bezahlte Job etwas wert ist. Eine Welt, in der die alleinerziehende Krankenschwester am Wochenende kellnern muss, um über die Runden zu kommen, und im Alter mit einer Minirente dasteht. Der personelle, zeitliche und verwaltungstechnische Aufwand, den wir heute treiben, um zu ermitteln, ob jemand es „verdient hat“, Sozialleistungen vom Staat zu beziehen, ist irrsinnig. Ein bürokratischer Wasserkopf, der nur damit befasst ist, zu taxieren, zu kontrollieren, zu bewilligen, zu verweigern. Es ist zwar ein System, das statistisch nachweislich mehr Menschen „in Arbeit bringt“. Nur ist diese Arbeit eben immer öfter so mies bezahlt, dass es nicht zum Leben reicht. Und immer mehr Menschen fordert sie körperlich oder seelisch über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus. Hinzu kommt: Diejenigen, die nicht arbeiten wollen – jene „Faultiere“, vor denen BGE-Gegner beharrlich warnen –, erreicht auch unser System des vermeintlichen „Förderns und Forderns“ nicht. Viel- mehr verfestigt sich die Sockelarbeitslosigkeit stetig.
Es ist eine Frage des Menschenbilds und der Haltung: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? In Deutschland gibt es 2018 mehr Milliardäre als je zuvor, wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Wir rühmen uns, die Sozialversicherung erfunden zu haben, aber leisten uns immer mehr Kinderarmut, Altersarmut und Obdachlosigkeit. Im Land der Dichter und Denker gammeln die Schulen, schließen die Theater, ganze Landstriche sind ohne Internet- oder Busverbindung. Die Abgehängten radikalisieren sich links und rechts der Mitte. Wollen wir uns noch weiter hinter unsere Handy-Bildschirme zurückziehen, in unsere Filterblasen, SUVs und Gated Communities? Die Folge ist ein Leben im Schützengraben: stets in Angst, immer auf der Hut, den Feind vor Augen, den Gegner im Nacken.
Die lange erfolgreiche Nachkriegsgeschichte vom „Höher, schneller, weiter“ ist auserzählt. Im Angesicht von Klimawandel, demografischer Veränderung, geopolitischen Verschiebungen, Migration und Digitalisierung steht unser Lebensstil massiv infrage. Was wir brauchen, ist eine neue Erzählung. Eine Gesellschaft, die sich für das BGE entscheidet, nimmt – so ist zu hoffen – ihre Bürger als Individuen ernst und traut ihnen etwas zu. Sie sieht ein menschenwürdiges Einkommen als Bürgerrecht. Sie glaubt an Eigeninitiative und daran, dass wir frei von Existenzangst kreative und soziale Impulse einbringen. Sie hält die Würde des Menschen tatsächlich für unantastbar. Das BGE könnte dieser neuen Erzählung einen Anfang und einen roten Faden geben.
Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.