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Das Recht auf Meinungslosigkeit

Ingo Rademacher
Ingo Rademacher ist selbstständiger IT-Unternehmensberater, Vortragsredner
und Autor. Sein aktuelles Buch „Denk klar. Klug entscheiden in digitalen Zeiten“ ist
bei Businessvillage erschienen. (Foto: Businessvillage)

Keine Meinung zu haben, gilt als Manko. Doch keine Meinung zu haben – gerade nach reiflicher Überlegung – ist eine Führungsqualität. Leider verwechseln wir oft Meinungsstärke mit Führungsstärke und Zurückhaltung mit Schwäche. Wer als Vorgesetzter nicht gleich eine Einschätzung zu einem Thema parat hat, leistet einen Offenbarungseid der Ahnungslosigkeit – und legt gleichsam ein Eingeständnis der Führungsschwäche ab. So die landläufige Vorstellung. 

Gerade in unsicheren Zeiten setzen wir uns dementsprechend unter Druck. Unter Meinungszwang. Egal, worum es sich handelt, umgehend verlangen wir uns (und anderen) eine Meinung, eine Einordnung, einen Kommentar, eine Direktive ab. Wir gieren nach sofortiger Orientierung, nach Sicherheit. Dabei laufen wir Gefahr, die eigentliche Frage zu übersehen: Worum geht es wirklich? 

Das Problem: Jedes Mal, wenn wir reflexartig „eine Meinung haben“, schmälern wir unsere Möglichkeiten. Wir verringern unser Freiheitsgrad, was das eigene Nachdenken, die eigenen Optionen der Problemlösung und Entscheidungsfindung betrifft. Denn die Wirklichkeit ist nicht einmal annähernd so schlicht und überschaubar, dass man ihr mit dem Reflex zur Meinung auch nur ansatzweise gerecht wird.

Faktisch liegt hier eine Quelle gravierender Managementirrtümer und Führungsfehler – in der Annahme, mit ostentativer Meinungsstärke würde eine Leitungsposition Sicherheit gewinnen.

Vergleichbares gilt für eine andere Falle: den blinden Aktionismus. Auch er scheint in unruhigen Zeiten Sicherheit zu verheißen. „Ärmel hochkrempeln und loslegen“ ist ein ähnlich archaisches Gesetz im Management wie „Meinungsstärke gleich Führungsstärke“. Doch tatsächlich bietet auch der Aktionismus ledigliche eine trügerische Form von Sicherheit. 

Wie lautet die Alternative? Vorübergehende und aktive Meinungslosigkeit! Sich die Freiheit nehmen zu entscheiden: Dazu werde ich mir meine Meinung bilden. Diese Entscheidung eröffnet einen Freiraum zum Innehalten, Abwägen, Überlegen. Genau den Freiraum, den eine fundierte, eigene Meinungsbildung braucht. Führungskraft zu sein, heißt, sich für diesen Freiraum zu entscheiden. Für das Recht auf – vorübergehende – Meinungslosigkeit. Und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Nun leben wir in Zeiten der Veränderung, die mit erheblichen Unsicherheiten und Ängsten einhergehen. In Organisationen zählt dann vor allem eines: die (Wunsch-) Vorstellung, auf der sicheren Seite zu sein. Scham, Scheu vor Konflikten, Angst um die eigene Position oder gar den Arbeitsplatz, die Sorge, sich angreifbar zu machen – all das verführt zu Opportunismus und Kuschelkurs. Dann spielen Führungskräfte bedingungslos mit, beten beispielsweise die Meinung des Meinungsführers, des Alphatiers in der Organisation nach. Meinungsopportunismus scheint nicht selten einen sicheren Aufstiegsweg zu versprechen. Vielfach kommt noch etwas ganz Pragmatisches hinzu: Es mangelt, nach eigener Aussage, oftmals an der notwendigen Zeit, um sich eine umfängliche, ausgewogene, auch jenseits von Machtrhetoriken begründbare Meinung zu bilden. 

Der Wunsch, auf der sicheren Seite zu sein, ist menschlich nur allzu verständlich. Sich klar zu positionieren kann bedeuten, sich zu exponieren. Bloß: Es gibt keine sichere Seite. Man mag die Klaviatur der Anpassung, des Opportunismus oder der Defensivität noch so gut spielen, eine Versicherungspolice gegen Misshelligkeiten, Fehlentscheidungen, Niederlagen und Kritik erhält man damit nicht. 

Im Gegenteil: Es ist auch in dieser Hinsicht sicherer, wenn man sich den Freiraum nimmt, sich zu fragen, worum es wirklich geht. Und wenn man bei der eigenen Analyse der Sachlage auch übergreifende Faktoren wie unternehmensinterne Machtstrukturen, Hierarchien, eigene Ängste, Unsicherheiten und Karrieredynamiken betrachtet. Je klarer wir diese Faktoren mit in den Blick nehmen, desto qualifizierter führen wir – und schaffen damit eine genuine Form, uns sicher zu sein: das eigene Denken.


Dieser Beitrag ist in Ausgabe 03/19 erschienen. Sie können das gesamte Heft › hier bestellen