Lenin soll mal gesagt haben, dass eine Revolution in Deutschland nie erfolgreich sein würde. Denn wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollten, so würden sie sich erst mal eine Bahnsteigkarte kaufen. Lenin ist knapp hundert Jahre tot. Seitdem hat sich in Deutschland einiges getan. Die Bahnsteigkarte beispielsweise ist fast überall verschwunden. Doch die von Lenin unterstellte kollektive Einstellung Revolutionen gegenüber scheint tief in unserem sozialen Gewebe verflochten zu sein. Und so möchten wir die schon eine Weile ausstehende digitale Revolution zumindest so lange aufschieben, bis alle formalen Rahmenbedingungen durchdrungen, abgewogen und final geklärt sind.
Zwei Beispiele: Ich war auf einer Führungskräftetagung eingeladen, um einen Vortrag zu halten. Eine große deutsche Organisation wollte den Startpunkt für ihren digitalen Wandel setzen. Ein Vorstand nutzte die ersten fünfzehn Minuten Redezeit, um die anwesenden Manager auf das neue Corporate Design einzuschwören. Besonders wichtig sei, dass alle Mitarbeitenden den „Footer“ in ihren E-Mails anpassten. Das müsse wirklich jeder Führungskraft ein Anliegen sein. Der Footer als vermeintlicher Kulturwandel-Katalysator? Die Absurdität der Situation macht sie keineswegs einzigartig. Beim Digitalisierungstag einer anderen Organisation gab das Management als große Neuerung bekannt, für Urlaubsanträge müsse man fortan keine Zettel mehr ausfüllen. Stattdessen stehe nun ein Formular im Intranet zur Verfügung. Das Formular aber sah aus, als habe man es in den 1990er Jahren entworfen und dann 25 Jahre lang vergessen.
Das Corona-Jahr 2020 wurde uns immer wieder als großer Digitalisierungsbeschleuniger verkauft. Gerne mit dem unsinnigen Zusatz „unter dem Corona-Brennglas“. Ein knappes Jahr ist unter diesem vermeintlichen Brennglas nun vergangen, aber eine Beschleunigung sehen wir nicht. Stattdessen diskutieren wir, ob man Schulen nicht im Lockdown wieder aufmachen könnte, weil es nach wie vor an echten digitalen Alternativen mangelt.
Statt an konkreten Lösungen zu arbeiten, haben wir ein Jahr damit vertändelt, Bedenken zu äußern und in unseren E-Mail-Footern zu ergänzen, dass wir uns im Homeoffice befinden.
Die Bahnsteigkarte des 21. Jahrhunderts ist dabei der Datenschutz, der als Argument eigentlich jede sinnvolle Lösung, die in unseren Nachbarländern nachweislich funktioniert, aushebeln kann. Was auch deswegen absurd ist, weil dort vergleichbare Auflagen gelten. Aber auch hier geht es oft nicht um die Sache an sich, sondern um die Formalität. Ein Kollege von mir bekam Ärger, nachdem er seine eigene Vorlesung in mehrere Räume streamte, damit seine Studierenden mit Sicherheitsabstand sitzen konnten. Das dafür genutzte Tool war laut IT-Abteilung aber nicht datenschutzkonform. Dass er sowohl für die Aufnahme als auch für die Übertragung seinen privaten Rechner verwendet hatte und überhaupt keine Daten von Studierenden angefallen waren, spielte keine Rolle. Ein Abweichen vom bürokratisch Festgelegten ist nicht gewünscht.
Der Befund ist ernüchternd: Unsere Organisationen sind gefangen in Regelwerken und Prozessen, die sie nicht ans Hier und Jetzt angepasst bekommen. Statische Regeln und Vorschriften prägen hier die Kultur und verhindern vielerorts so die Digitalisierung. Wir beschäftigen uns lieber mit Formalitäten. Mit denen kann man sich lange beschäftigen, mit denen ist man nie wirklich fertig. Gepaart wird dies oft mit der Entwicklung von großen, komplexen Visionen, die für 2035 eine vollkommen neue Organisation erdenken. Was fehlt, ist alles dazwischen, die konkrete Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen, die kontinuierliche Verbesserung der Substanz. Leidtragend ist die kommende Generation, die man jetzt nicht vernünftig bildet, weil die Konzepte und vor allem Lösungen fehlen. Das heute Versäumte muss sie in Zukunft wieder geraderücken.