Eine japanische Reporterin stirbt nach 159 Überstunden. Wir erfahren erst vier Jahre säter davon. Und alle Erklärungsversuche schlagen fehl, kritisiert Cliff Lehnen.
Papst Johannes Paul II. mahnte einmal, die Arbeit sei für die Menschen da, nicht die Menschen für die Arbeit. Im Falle Miwa Sados muss das Gegenteil gegolten haben. Die japanische Politikreporterin war im Juli 2013 mit 31 Jahren tot in ihrem Bett gefunden worden. Was bereits ein Jahr später erwiesen war, legte ihr Arbeitgeber, der öffentlich-rechtliche TV-Sender NHK, erst im Herbst 2017 offen: Miwa Sado hatte in dem Monat vor ihrem Tod 159 Überstunden gemacht und nur zwei Tage frei gehabt. Diese immense Belastung war der Grund für ihren Herzstillstand gewesen.
In der Folge dieser tragischen Meldung machte ein japanisches Wörtchen Weltkarriere: „karoshi“. Es bezeichnet den „Tod durch Überarbeitung“. Keine Frage: Ein Arbeitgeber, der es so weit kommen lässt wie bei Miwa Sado, lädt immer Schuld auf sich – es muss einen krankhaften Leistungsbegriff und sträflich fahrlässige Vorgesetzte gegeben haben. Doch nach allem, was man weiß, war Miwa Sado kein Opfer eines einzelnen tyrannischen Chefs oder grundsätzlich katastrophaler Arbeitsbedingungen. Vielmehr war sie Reporterin aus Leidenschaft, sie gab alles für eine gute Geschichte. Sie war besonders talentiert, besonders fleißig und schien unermüdlich.
Manchmal braucht es die Fiktion, um die Realität besser zu verstehen. In ihrem grandiosen Gesellschaftspanorama „Unterleuten“ lässt Juli Zeh einen Charakter über den Arbeitsethos der jüngeren Generation sinnieren: „Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Lauf ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten.“ Heraus kämen „Arbeitszombies“, getrieben vom „Wunsch, alles richtig zu machen“ und vom „Horror, die Erwartungen der Firma nicht zu erfüllen“.
Das ist toll skizziert, doch ist es wirklich neu? Ist es tatsächlich eine Generationsfrage? Und ist nicht gerade das Aufbegehren gegen die vermeintlich vorgeschriebenen Erwartungen ein Zeichen unserer Zeit? Für Jakob Ziegler, den Protagonisten in Nikita Afanasjews bemerkenswertem Romandebüt „Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt“, ist die Sache klar: Dem allgemein als unausweichlich akzeptierten Gebot, einer lebenslangen Lohnarbeit nachzugehen, unterwirft er sich nicht. Jakob ist Künstler in Berlin, gerade dreißig geworden und ziemlich erfolglos. Sein Vater, „die letzte Staublunge des Ruhrgebiets“, war „an der Luft unter Tage und an seiner Arbeitsethik gestorben“. Für Jakob ist seitdem Freiheit das höchste Gut. Nie einem System, einem Arbeitgeber, einem sinnentleerten Job unterordnen! Trotzdem kämpft er mit den Erwartungen, die sein Umfeld an ihn richtet. Er taumelt zwischen Freiheit und Verantwortung, Abhängigkeit und Sinnsuche.
Miwa Sado, so scheint es, taumelte nicht. Sie war ganz bestimmt in ihren Zielen. Sie war nicht von den Ansprüchen der anderen zermürbt, bei ihr scheinen es die eigenen Erwartungen gewesen zu sein, die sie trieben. Miwa Sado lebte für ihren Job. Und er kostete sie das Leben.
Es gibt im Japanischen zwei weitere Wörter aus dem Spannungsfeld Leben und Arbeit, für die es im Deutschen keine direkte Entsprechung gibt: „hatarakigai“ und „ikigai“. Der erste Begriff, „hatarakigai“, beschreibt das Gefühl, dass die eigene Arbeit es wert ist, getan zu werden. Wir würden vielleicht von Jobzufriedenheit oder Arbeitsmotivation sprechen, neudeutsch womöglich von „Engagement“. Davon hatte Miwa Sado eine Menge. „Ikigai“ aber ist mehr. Am ehesten bezeichnet es das, was wir „Lebenssinn“ nennen, die Franzosen haben dafür die sprechende Bezeichnung „raison d’être“. Es ist das Gefühl, unser Leben als lebenswert zu begreifen, darin aufzugehen und uns – explizit getrennt von der Arbeit gedacht – im besten Sinne als lebendig zu empfinden.
Das ist kein Generationen-, sondern ein Gesellschaftsthema. In Japan versuchen Miwa Sados Eltern gerade, jungen Menschen am dramatischen Beispiel der eigenen Tochter zu bedeuten, dass es mehr im Leben gibt als nur die Arbeit. Der junge Künstler Jakob Ziegler im Roman hatte dasselbe jahrelang bei seinen Eltern versucht – ohne Erfolg. Sie „kamen ihm wie Gefangene vor, die den Schlüssel zu ihrer Zelle selbst weggeworfen hatten“. Als der Vater röchelnd zugrunde ging, war Jakob machtlos. „Nur das unbestimmte Gefühl, nicht genug für seinen Vater getan zu haben, das blieb.“
Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.