Keine Branche ist so stark reguliert wie das Gesundheitswesen. Nirgends sonst gibt es mehr Dokumentierungs- und Bürokratiezwang. Das ist einerseits einleuchtend, da die Finanzierung der Behandlungs- und laufenden Betriebskosten durch die Versicherten der Krankenkassen erfolgt; die Investitionskosten der Einrichtungen tragen die Bundesländer mit Geldern des Steuerzahlers. Besser gesagt: Sie sollten sie tragen. In den letzten zehn Jahren hat sich an dieser Stelle ein Investitionsstau von mindestens 30 Milliarden Euro aufgetürmt. Andererseits artet die Steuerung in einen Exzess aus, wie Klinikträger betonen: von planerischen Anforderungen über Prozess-, Struktur- und Personalvorgaben bis zu einer detailversessenen Abrechnungstiefe. Dieses Vorgehen führe zum “Drangsalieren und Strangulieren” der einzelnen Gesundheitseinrichtung, kritisierte jüngst die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und beklagte eine “Politik der Bundesregierung gegen die Krankenhäuser”. Besonders zielt die Lobby auf den “Aktionismus in der Amtszeit von Gesundheitsminister Jens Spahn”. Ohne Frage, Änderungen in unserem Gesundheitssystem seien notwendig, heißt es von Sozialpartnern und Kliniken, doch ein wesentlicher Teil der politischen Vorgaben sei “konfus, widersprüchlich und praxisfremd”.
Mehr Wunsch als Wirklichkeit
Das Hauptproblem, der extreme Pflegekräftemangel, lastet auf den Kliniken und bedroht viele in ihrer Existenz (siehe Abbildung 1). Denn fehlendes Personal führt zur Bettenreduzierung und kann die Schließung ganzer Abteilungen nach sich ziehen, was wiederum ein erfolgreiches Wirtschaften unmöglich macht. Wie viele Fachkräfte benötigt werden? Wirtschaftsinstitute und Verbände überbieten einander in ihren Prognosen. Einschließlich des Bedarfs der Altenheime sieht Gesundheitsminister Spahn “50 000 bis 80 000 offene Stellen schon jetzt”. Und dieses “jetzt”, das Spahn meint, lag vor dem Ausbruch der Krise.
Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) |
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Vor diesem Hintergrund wollte Spahn mit dem sogenannten Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) im Sommer letzten Jahres einen Befreiungsschlag starten. Er versprach ein Sofortprogramm: Jede zusätzliche Pflegestelle im Krankenhaus und 13 000 in der Altenpflege würden vollständig von den Krankenkassen refinanziert. Dieses Vorhaben hat sich aber bislang als Bruchlandung erwiesen. Zum einen ist der inländische Markt leergefegt; zum anderen scheinen die Behörden deutlich überlastet zu sein. Zwar haben bundesweit Pflegeheime und Kliniken etwa 2800 Anträge auf Förderung von zusätzlichem Pflegepersonal gestellt. Davon sind jedoch bisher lediglich rund 300 bewilligt worden, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet. Das Ganze scheitert (schon vor der Corona-Krise) vor allem an der Bürokratie.
Untergrenzen für Pflegepersonaleinsatz
Das Gesetz legt ebenso fest, die Krankenhausvergütung ab dem Jahr 2020 auf eine Kombination von Fallpauschalen und Pflegepersonalkostenvergütung umzustellen ist. Damit setzt Jens Spahn den ein halbes Jahr zuvor eingeschlagenen Weg fort: Denn um die Pflegepersonalkosten bestimmen zu können, musste eine neue Systematik her. Bislang wurden diese über Diagnosis Related Groups (DRG) berechnet: “Diagnosebezogene Fallgruppen”, die eine leistungsbezogene Pauschalierung der Krankenhausvergütung möglich machen. Seit 2003 wird in Deutschland nach dem G-DRG-System abgerechnet.
Die neue Systematik kam in Form der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV), laut der seit 2020 ein eigenes Pflegebudget zur Finanzierung der Pflegepersonalkosten auf den unmittelbar bettenführenden Stationen dienen soll. Die PpUGV trat als sogenannte Ersatzvornahme in Kraft – also nicht als Gesetz. Der Grund: Zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen kam es zu keiner Einigung. In der Folge erließ das Ministerium die Pflegepersonaluntergrenzen als Verordnung. Die Häuser müssen die nun vorgegebenen Zahlen erfüllen (siehe Info-Kasten). Können sie dies nicht, müssen sie Betten sperren, Leiharbeitskräfte einsetzen oder Patienten an andere Kliniken verweisen. Während das Ministerium in den Untergrenzen “einen Beitrag für mehr Patientensicherheit” sieht, bezeichnen sie Klinikträger, Berufsverbände und Sozialpartner als Bürokratiemonster, das “planlos, konfus und unrealistisch” (siehe Abbildungen 2 und 3) daherkomme, unter anderem auch, weil ausschließlich die schlechtesten Personalausstattungen in den Blick genommen wurden.
Rechenkünste und Bürokratismus
Ein zentrales Problem der PpUGV: Auf die Untergrenzen dürfen medizinische Fachangestellte, Pflegehilfspersonal mit weniger als einjähriger Ausbildung und Service-und Administrationspersonal nicht angerechnet werden. Das stellt, laut DKI, drei Viertel der Häuser vor neue Probleme.
“Wir arbeiten seit Jahren mit einem Personalmix, weil Servicemitarbeiter, medizinische Fachangestellte oder der Transportdienst Tätigkeiten übernehmen und damit die qualifizierten Pflegekräfte entlasten können”, erklärt Professor Dr. Mark Dominik Alscher, medizinischer Geschäftsführer des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses mit 2700 Beschäftigten. Doch da nur dreijährig examinierte Schwestern und Pfleger in der Verordnung angerechnet werden und der Verteilungsschlüssel für einjährige Helferausbildungen winzig ist, “funktioniert plötzlich das Prinzip ‚Qualifikationsmix‘ – das über Jahre entwickelte Zusammenspiel von Examinierten und Hilfskräften – nicht mehr, was den Personalmangel noch mal verschärft”. Selbst Häuser, die vorher gut ausgestattet waren, bekommen aktuell ein Problem: Durch die Verordnung benötigen sie auf einmal sehr viel mehr examiniertes Personal – das aber auf dem Markt gar nicht vorhanden ist.
Krankenhaus Barometer 2019 |
Das “Krankenhaus Barometer” basiert auf jährlich durchgeführten Repräsentativbefragungen deutscher Krankenhäuser zu aktuellen gesundheits-und krankenhauspolitischen Themen. Es wird im Auftrag der Träger des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) erstellt. Zu ihnen gehören die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), der Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) und der Verband der leitenden Krankenhausärzte Deutschlands (VLK). Die Ergebnisse des Krankenhaus Barometers 2019 beruhen auf der schriftlichen Befragung einer repräsentativen Stichprobe von zugelassenen Allgemeinkrankenhäusern ab 100 Betten in Deutschland im Zeitraum von Mitte April bis Mitte Juli 2019. |
Eigentlich habe das Robert-Bosch-Krankenhaus auch geplant, die Zahl der Leasingkräfte zu reduzieren. Aber “stattdessen müssen wir jetzt noch mehr Leasingkräfte einsetzen, um Strafzahlungen zu vermeiden, wenn wir die Untergrenzen nicht einhalten können”, sagt Mark Dominik Alscher. “Das ist ausgesprochen paradox”, ärgert er sich. Statt die Bereiche mit den notwendigen wirtschaftlichen Mitteln auszustatten, würden sie verknappt. “Erst erhöht sich der Bedarf an examinierten Kräften und dann werden wir bestraft, weil wir Leasingkräfte einsetzen.” Denn seit Einführung des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes von 2019 wird das Leasing für die Kliniken teurer, weil Mehrkosten für die Zeitarbeit nicht mehr von den Kassen refinanziert werden. Für Spahn ist Leiharbeit in der Pflege “eine Fehlentwicklung, die korrigiert werden muss”. Aber wie sollen die Kliniken die Untergrenzen erreichen?
Das Fazit des medizinischen Geschäftsführers im Robert-Bosch-Krankenhaus: “Diese Eingriffe ins Leistungsgeschehen verschärfen die Engpässe, und der ökonomische Druck wird massiv erhöht” (siehe Abbildungen 4 und 5).
Die Quintessenz der neuen Verordnung: Pflegekräfte müssen Überstunden machen, damit die Vorgaben eingehalten werden können, Mitarbeiter werden zwischen Stationen mit und ohne Untergrenze hin- und hergeschoben, und es entsteht ein extrem hoher bürokratischer Aufwand. Wirtschaftsprüfer, die künftig die Einhaltung der Untergrenzen testieren sollen, dürfen sich auf jeden Fall auf ein zusätzliches Geschäftsfeld freuen – eines allerdings, das mit Sicherheit konfliktbeladen sein wird.
Alternative: Pflegepersonalmessung
Diejenigen Verbände, die im letzten Jahr das Pflegepersonaluntergrenzen-Gesetz verhindert haben, hatten gute Gründe: “Wir haben überdeutlich gesehen, dass es keine Lösung ist. Im Gegenteil muss mit hoher Dringlichkeit ein echtes Pflegepersonalbemessungssystem entwickelt und verpflichtend eingeführt werden”, so Professor Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK). Und die Verbände blieben nicht untätig. Im Februar haben DKG, Verdi und der Deutsche Pflegerat (DPR) dem Gesundheitsminister ihr gemeinsam erarbeitetes Instrument zur Bemessung des notwendigen Pflegepersonalbedarfs und der -ausstattung vorgestellt. Es orientiert sich an der in den 1990er-Jahren gültigen Pflegepersonalregelung (PPR). Die Methode von damals, die notwendige Anzahl von Pflegekräften über die tägliche Bestimmung des Pflegeaufwandes stationärer Patienten zu ermitteln, wird jetzt modernisiert als “PPR 2.0” wieder aufgenommen. Der Pflegebedarf soll auf der Basis von Minutenwerten gemessen werden. Das Instrument wurde Ende 2019 an 44 Krankenhäusern erprobt und habe gut funktioniert, sagt Christel Bienstein.
Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass der Pflegepersonalschlüssel in deutschen Krankenhäusern auf kleiner Flamme kocht. In den USA, Kanada, den Niederlanden und auch in den westlichen und südlichen Nachbarländern zeigt er ein deutlich besseres Verhältnis. Während im OECD-Durchschnitt auf 1000 Patientenfälle 31,9 Pflegekräfte kommen, liegt die Zahl in Deutschland bei 19.
Wann aber die Politik wieder Zeit hat, sich den Struktur- und Personalproblemen des Gesundheitssystems zuzuwenden, bleibt offen. Dass der Pflegepersonalmangel in den nächsten Wochen noch deutlicher zutage treten wird, ist hingegen leider traurige Gewissheit.
Dieser Artikel erscheint auch in Ausgabe 05/2020 der Personalwirtschaft, abrufbar im › Online-Archiv.
Christiane Siemann ist freie Journalistin und Moderatorin aus Bad Tölz, spezialisiert auf die HR- und Arbeitsmarkt-Themen, die einige Round Table-Gespräche der Personalwirtschaft begleitet.