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Messen ist nicht verstehen

Ingo Hamm
Prof. Dr. Ingo Hamm ist Wirtschaftspsychologe und lehrt an der Hochschule Darmstadt. Das jüngste Buch des Autors und Beraters ist „Kauf-Instink“, das in diesem Jahr bei Schäffer-Poeschel erschienen ist. Foto: © privat

Mich verwundert schon seit einiger Zeit ein Widerspruch in vielen HR-Abteilungen: Auf der einen Seite intensiviert man die Vermessung der Mitarbeiterschaft mittels KPIs, durch technisch hochgerüstete Softwaresysteme, quasi in Echtzeit, in schaurig-schönen Dashboards. Die Mitarbeiter werden auf allen möglichen Ebenen als „Human-Ressourcen“ analysiert. Auf der anderen Seite weiß man wenig über Beweggründe, Motive, Werte und Lebenskontexte der Mitarbeiter als Menschen, als denkende und vor allem fühlende Individuen. Nicht wenige HR-Entscheider oder Top-Führungskräfte kennen Befindlichkeiten oder Stimmungen nur anekdotisch aus dem Kollegenkreis.

In der Marketing- und Kundenwelt hingegen wird schon seit jeher intensiv geforscht, und zwar nah am Verbraucher mit einer breiten Methodenpalette. Die sogenannten Customer Insights sind grundlegender Bestandteil von Marketingstrategien und Kommunikationskonzepten. Dabei geht es um ein tiefgreifendes Verständnis, warum Kunden etwas machen oder wollen – oder eben nicht.

In Personalabteilungen jedoch hört man den Ausdruck „Employee Insights“ relativ selten.

Selbst bei der Erstellung von modernen „People Strategies“ scheinen Motive, Lebenswelten und Wünsche von Mitarbeitern oft keine Rolle zu spielen.

„People Analytics Manager“ sind die Experten der Stunde, aber wo sind die „Employee Insights Manager“, so wie sie zum Standardrepertoire jeder Marketingorganisation gehören?

Für Markenstrategien nutzt man selbstverständlich und regelmäßig verschiedene qualitative und quantitative Methoden. In vielen Personalabteilungen hingegen scheint es Berührungsängste zu geben. So werden quantitative Erhebungen wie mit der Beißzange angefasst. Zwar gibt es „Zufriedenheitsbefragungen“, die wie Schlachtschiffe durch die Organisation dampfen: komplex, behäbig und alles erschlagend. Veränderungen an diesen Forschungsgewohnheiten sind allerdings wie Gift. Man hört oft Einwände wie „Wir haben ja schon einmal im Jahr die große X-Befragung“ oder „Wir dürfen nicht mehr als y Mitarbeiterbefragungen pro Jahr durchführen“. Im Marketing wäre das undenkbar, ja fast schon ein Kündigungsgrund. Aber auch wenn es nicht um Zahlen und Fakten geht, sondern um qualitative Methoden zur Generierung von Wissen, sucht man diese im Personalbereich meist vergebens. Im Marketing beweisen Verfahren wie Fokusgruppen, Tiefeninterviews, Tagebuchtechniken, teilnehmende Beobachtung oder projektive Verfahren seit Jahrzehnten ihren großen Nutzen, wenn es darum geht, Verbraucherverhalten und -wünsche besser zu verstehen.

Solche Methoden müssen nicht aufwendig sein, im Gegenteil: Design Thinking etwa führt rasch zu nutzerorientierten Lösungen. Im Gegensatz zur Kundenwelt, wo man Verbraucher rekrutieren und „incentivieren“ muss, sitzt im Unternehmen die Zielgruppe quasi direkt gegenüber, jederzeit verfügbar. Nun hört man oft den Einwand, die Mitarbeiter hätten zu viel zu tun, wollten nicht schon wieder befragt werden et cetera. Aber das ist eine Sache der Motivation und der Vermittlung der Hintergründe und Absichten.

Noch erstaunlicher sind die oft fehlenden Erkenntnisse zu Menschen, die noch nicht im Unternehmen sind, es aber sein könnten – oder zum Werdegang von Mitarbeitern, die das Unternehmen verlassen haben.

Der Trend zum Einsatz von künstlicher Intelligenz in People Analytics wird das alles nicht besser machen – im Gegenteil. Bei allen erstaunlichen Leistungen von KI-Systemen zur Mustererkennung und Vorhersage: Der grundlegende Haken bei „neuronalen Netzen & Co.“ ist, dass sie oft gut funktionieren, aber man keine Ahnung hat, warum. Sie klären viel, aber erklären nichts; echte Employee Insights liefern auch diese Verfahren nicht.

Es bleibt zu hoffen, dass man sich forscherisch gerade wegen der zunehmenden Technisierung in HR mehr dem Mitarbeiter als Menschen widmet und zu verstehen versucht, was diesen in herausfordernden Zeiten im Innersten wirklich bewegt.