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Perlen vor die Säue

Farbklecks auf weißem Grund
Foto © traffic_analyzer/istock

Nun sollen Unternehmen von Künstlern lernen, wie das geht mit der Kreativität, der Authentizität und dem disruptiven Denken. Leider spricht Vieles dagegen, dass das fruchtet.

Zahlreiche Wissenschaftler, Berater und ehemalige Spitzensportler versuchen sich daran, Metaphern und Erkenntnisse aus dem Sport auf Führung, Teamarbeit und Organisation zu übertragen. Das mag für den Augenblick inspirierende Wirkung haben, hält aber leider dem Abgleich mit der Realität oft nicht stand: Kommt man aufgepeitscht aus dem Motivationstraining zurück auf den Büroflur, arbeiten dort in aller Regel immer noch keine austrainierten Vollprofis, die sich seit dem sechsten Lebensjahr entbehrungsreich auf eine optimale Performance im Beruf ausrichten. Nein, es sind Kollegen wie du und ich. Und die am Morgen auf den Arbeitstag einzuschwören wie einen Boxprofi auf den Kampf, wirkt eher deplatziert.

Der neueste Trend auf den Konferenzpodien ist nun, die Muster, Motive und Methoden der künstlerischen Arbeit auf die Business-Welt zu übertragen: Was können Unternehmen, so die immer öfter gestellte Frage, im Rahmen ihrer verzweifelten Suche nach möglichst disruptiver Innovation vom Denken und Arbeiten in Kunst und Kultur lernen? Die Frage ist verständlich; doch auch hier ist der Kontext nicht vergleichbar: Künstler sind ihrem Wesen nach Freigeister, die sich der Enge und Zahlengetriebenheit der Wirtschaft bewusst entzogen haben und in einem eigenen Wertekorsett wirken. Künstlerische Kreativität in einem unternehmerischen Rahmen mit vertraglich fixierter Arbeitszeit, jährlichem Umsatz-Forecast und strengem Controlling? Schwer vorstellbar. Denn Künstler arbeiten nicht zweckgebunden. Ihr Werk ist nicht an Markt, Umsatz oder Zielgruppe orientiert.

Kunst und Wirtschaft sind Welten, die sich zueinander verhalten wie zwei Pluspole: Führt man sie aufeinander zu, wirken sie durchaus einträchtig, gefügig. Sie scheinen sich willkommen zu heißen. Doch wenn es ernst wird – wenn sie sich treffen sollen –, streben sie mit Macht auseinander. Ein Beispiel hierfür bot das Recruiting-„Festival“ RC19 im Mai, das sich mit Jan Delay als programmatischen „Headliner“ einen Musiker eingekauft hatte – jedoch nicht zum Singen, sondern zum Reden.

Farbklecks auf weißem Grund
Foto © traffic_analyzer/istock

Da fragte ihn also Gero Hesse, immerhin einer der Grandseigneurs des deutschen Employer Brandings, wie man das hinbekomme, authentisch zu sein, als Mensch und Arbeitgeber, und überhaupt. Darauf Jan Delay einigermaßen verdutzt: Am authentischsten sei es doch wohl, sich über so etwas wie Authentizität keinen Kopf zu machen. „Authentizität bedeutet, einfach aus dem Bauch heraus zu machen, was von innen kommt. Darüber zu reflektieren, ist schon der Anfang vom Ende von Authentizität.“ Keine Scheiße bauen, keinen Quatsch machen, sich selbst gegenüber ehrlich sein – so einfach sei das.

Ein kurzer Blick in die Wirtschaftspresse genügt, um festzustellen, dass viele Unternehmen aber mit diesen einfachen Tugenden Probleme haben. Wenn der CEO wegen Betrugs hinter Gitter muss, die Steuerfahndung medienwirksam zur Durchsuchung anrückt oder bei Kununu ständig schlechte Bewertungen wegen miserabler Führung eingehen, muss man sich etwas überlegen. Das dann oft schnell zusammengeschusterte Ergebnis hat logischerweise mehr mit einer schönen Fassade zu tun als mit einem authentischen Kern.

Kunst ist unmittelbar und roh, Kunst ist angstfrei und ehrlich, Kunst ist verletzlich und zart. Kunst hat keinen doppelten Boden.

Auf einen Jan Delay kommen Tausende und Abertausende Künstler und Kreative am Rande der Mittellosigkeit. Arm, aber authentisch: Diesen Preis würde – und dürfte – ein Unternehmen niemals zahlen. Das ist der Kern des Widerspruchs. Während sich die Wirtschaft am Außen orientiert, wirkt die Kunst am stärksten, je weniger sie optimiert, auf Spur gebracht und kontrolliert wird. Sie lebt vom Genialischen, Individuellen und Einzigartigen.

Natürlich kann diese Haltung auch inspirierende Wirkung für die Wirtschaft haben, sie kann belebend wirken und Augen öffnen. Doch sie dringt nicht ein. Wie bei den Sport-Analogien bleibt es beim gefälligen Impuls; der Transfer in den Alltag bleibt aus. Viel interessanter ist also die Frage, wie es gelingt, den Mut zur Individualität, zur Kreativität, zur Unmittelbarkeit in unseren Kindern zu wecken, unseren Lehrern zu vermitteln, in unseren Institutionen und in der Gesellschaft zu verankern. Wie können wir Menschen Vertrauen geben, „ihr Ding zu machen“ – jenseits ökonomischer Anforderungen und allgegenwärtiger Zweckmäßigkeitserwägungen?

Was wir, gerade in einer von Umbruch und Unsicherheit geprägten Zeit, viel mehr brauchen als weitere vermeintlich „authentische“ Unternehmen, Marken und Kampagnen, sind wahrhaft authentische Menschen. Denn wenn in einer digitalisierten Welt zwei Kompetenzen immer wichtiger werden, dann sind es persönliche Kreativität und individuelle Zuwendung. Je mehr um uns herum digitalisiert wird, desto wichtiger wird das Wirken des Einzelnen im Moment. Und das genau ist, was wir von der Kunst lernen können – als Individuen und als Gesellschaft.

Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.