Wettbewerbsdruck, Digitalisierung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf bringen manchen zu dem Schluss, wir müssten die Arbeitszeiten flexibilisieren. Klüger wäre es aber, sie zu reduzieren.
Seit einigen Jahren werden Forderungen lauter, das Arbeitszeitgesetz zu reformieren – mal, weil „flexiblere Arbeitszeiten wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen sind“ (Christoph Schmidt, Vorsitzender der Wirtschaftsweisen, November 2017); dann, „um die Chancen der Digitalisierung in der Arbeitswelt zu nutzen“ (Bundesratsinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen, Januar 2019); oder schließlich, weil „die aktuellen Beschränkungen nicht mehr in die heutige Zeit passen, in der Arbeitnehmer etwa nach dem Elternabend noch E-Mails von zu Hause beantworten wollen“ (Josef Sanktjohanser, Präsident des Handelsverbands Deutschland HDE e.V., Februar 2019).
Politiker und Arbeitgebervertreter fordern eine Abkehr vom starren Achtstundentag, damit Beschäftigte auch einmal ohne große Umstände länger arbeiten können. Oder sie plädieren dafür, die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden zu verkürzen, da man, wie oben beschrieben, schon mal spät abends und früh morgens die Mails checken will. Aber geht das in die richtige Richtung, bringt uns das weiter?
Beispiel „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“: Just hat die Hans-Böckler-Stiftung eine Studie veröffentlicht, nach der Eltern, die im Homeoffice arbeiten, mehr Überstunden machen als solche ohne Homeoffice-Regelung. Noch größer ist die Zahl der Überstunden, wenn sie ihre Arbeitszeit selbst bestimmen können. Gleichzeitig steigt vor allem bei den Müttern die Zeit für die Kinderbetreuung. Im Klartext: Je größer die Spielräume, desto mehr arbeiten die Menschen. Freiheit frisst Freizeit.
Der Achtstundentag in Deutschland ist genauso alt wie das Frauenwahlrecht, das im vergangenen Jahr 100- jähriges Jubiläum feierte. 1918 wurde er beschlossen und im Jahr darauf eingeführt, bei vollem Lohnausgleich, freilich bei einer Sechstagewoche und damit einer Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Die Idee an sich ist noch viel älter, nämlich fast 200 Jahre. Zum ersten Mal hat den Achtstundentag der britische Sozialreformer Robert Owen gefordert, das war 1830. Seine Parole: „Acht Stunden arbeiten, acht Stunden Freizeit, acht Stunden schlafen.“ Diese fast 200 Jahre alte Idee dient uns immer noch als Orientierungsmarke.
Da kann man den Flexibilisierungsfürsprechern also nur zustimmen: Der Achtstundentag ist nicht mehr zeitgemäß. Allerdings anders als in ihrem Sinne. Wo sie flexibleres Arbeiten fordern, sollten wir angesichts der immensen Arbeitsverdichtung eher darüber nachdenken, weniger zu arbeiten. Etliche Betriebe tun das bereits. Sie experimentieren mit der Viertagewoche oder dem Sechsstundentag. So berichtet zum Beispiel die Digitalagentur Youngand- Hyperactive aus Köln im Magazin „Page“ über ihre Erfahrungen mit der Viertagewoche: „Alle sind wesentlich entspannter, bilden sich weiter, haben mehr Zeit für die Familie oder die eigenen Projekte. Und auch fürs Recruiting ist der freie Freitag natürlich ein super Argument.“
Nun, das klingt sehr gebügelt, eben von einer Agentur kommend. Was aber auffällt: Während Politik und Arbeitgeberverbände sich für eine Flexibilisierung aussprechen, wagen sich Startups und Kreative an eine Reduzierung von Arbeitszeit. Teils mit vielversprechenden Ergebnissen. Könnte das nicht auch eine Überlegung in Konzernen wert sein? Warum nicht im Zuge der viel beschworenen „New Work“ einmal mit „Less Work“ experimentieren? Sechs statt acht Stunden und damit Beschäftigte, die Privatleben und Beruf besser unter einen Hut bekommen, erholter und leistungsfähiger sind.
Würden wir die Arbeitszeit reduzieren, kämen wir wieder dahin, wo wir vor langer Zeit mal gestartet sind: in mittelalterliche Muße. Wie die US-amerikanische Sozialökonomin Juliet B. Schor zusammengetragen hat, arbeiteten die Menschen vor sieben-, achthundert Jahren – gemessen an der Summe der Arbeitsstunden – weniger als ein heutiger Vollzeitangestellter (siehe rechts). Wir erliegen bloß oft dem Trugschluss, die Arbeitszeiten seien im Laufe der Geschichte kontinuierlich gefallen, da wir von den unmenschlich langen Schichten der Industrialisierung ausgehen. Doch im historischen Langzeitkontext sind wir modernen Menschen schrecklich arbeitswütig.
Diese Stilkritik ist in Ausgabe 04/2019 der Personalwirtschaft erschienen. Das gesamte Heft finden Sie in unserem › Shop
› Lesen Sie in unserer Stilkritik aus der Ausgabe 03/19, warum sich Personalmeldungen und Arbeitszeugnisse eigentlich wie Märchen lesen.